L 1 R 188/06

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 39 RJ 567/04
Datum
-
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 R 188/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit ist die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Die 1959 geborene Klägerin (geb. P.) stammt aus der Türkei. Dort besuchte sie fünf Jahre die Schule. Eine Berufsausbildung ergriff sie nicht. Sie kam 1973 nach Deutschland, dessen Staatsangehörige sie seit 1995 ist. Die Klägerin ist verheiratet und hat zwei Kinder (1982, 1992). In Deutschland arbeitete sie seit Juli 1978 versicherungspflichtig als Arbeiterin in einer Garten- und Blumenfirma, einer Schokoladen- und Keksfabrik, einer Papiererzeugungsfirma, bei C. und seit 1990 - halbtags - im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses zur C1 GmbH (Landesbetrieb Krankenhäuser), das nicht mehr besteht, als Stationshilfe und Reinigungskraft im Allgemeinen Krankenhaus B ...

Vor dem 1. Januar 1984 entrichtete die Klägerin für 51 Monate Pflichtbeiträge. Ihr Versicherungsverlauf (vom 7. Juli 2006) ist von 1984 bis zur Rentenantragstellung, insbesondere auf Grund von Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung (vom 14. Juli 1982 bis 15. Juni 2002), durch welche Lücken im Oktober 1987 und von März bis Mai 1990 geschlossen werden, bis 31. Dezember 2004 vollständig, anschließend aber nicht mehr belegt.

Nach einer Hüftgelenksersatzimplantation rechts im Oktober 2001 (Parkklinik M., G.), an die sich eine Anschlussheilbehandlung in der Rheumaklinik Bad B. vom 20. Oktober bis 20. November 2001 anschloss (Entlassungsbericht vom 2. Dezember 2001: Dysplasiecoxarthrose; positives Leistungsbild im Hinblick auf eine leichte vollschichtige Tätigkeit), war die Klägerin als Reinigungskraft arbeitsunfähig, bezog bis 12. April 2003 von der BKK Mobil Oil Krankengeld, dann Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. Nach ihren Angaben vom 29. August 2007 bezieht sie nun von der Bundesagentur für Arbeit keine Leistungen mehr. Das Versorgungsamt stellte bei ihr mit Bescheid vom 26. August 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. November 2003 einen - seit 1997 bestehenden - Grad der Behinderung von 20 und als Behinderungen fest: 1. Hüftgelenksersatz rechts, 2. Psychische Minderbelastbarkeit, funktionelle Organbeschwerden, 3. Degenerative Wirbelsäulenveränderungen, ausstrahlende Beschwerden.

Nachdem die Beklagte ihren Rehabilitations-Antrag vom 5. November 2002 abgelehnt (Bescheid vom 6. Februar 2003, Widerspruchsrücknahme im Juli 2003) und der behandelnde Orthopäde Dr. L. unter dem 20. März 2003 die Verrichtung leichter körperlicher Arbeiten im Wechselrhythmus ohne schweres Tragen und Heben, ohne häufiges Bücken, ohne Körperzwangshaltung und ohne häufiges Treppensteigen für zumutbar erachtet hatte, beantragte die Klägerin am 28. März 2003 die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Sie begründete dies mit dem Zustand nach Hüftgelenksersatz rechts und bestehenden Depressionen.

Die Beklagte, welche die Klägerin im Rahmen des Rehabilitations-Verfahrens durch den Chirurgen Dr. F. am 27. Januar 2003 hatte untersuchen lassen - hierbei waren Kreuzschmerzen bei guter Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule bei röntgenologisch leichtgradigen degenerativen Veränderungen (ohne neurologische Ausfälle), rechtsseitige Hüfgelenksbeschwerden ohne Bewegungseinschränkung des operierten Hüftgelenkes, rechtsseitige Kniegelenksbeschwerden bei freier Beweglichkeit und röntgenologisch ersten Hinweisen auf retropatellaren Knorpelschaden sowie eine Neigung zu Kopfschmerzen diagnostiziert worden, was der täglichen sechsstündigen Verrichtung leichter Arbeiten (ohne häufiges Heben, häufiges oder regelmäßiges Bücken, ohne einseitige Körperhaltung, nicht im Knien, in der Hocke, an Arbeitsplätzen mit Absturzgefahr) im Gehen, Stehen und Sitzen (bei etwa zeitgleichen Anteilen ohne starres Schema) nicht entgegen stehe - , ließ die Klägerin am 21. August 2003 von dem Internisten und Arzt für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. V. untersuchen.

Dr. V. diagnostizierte im Gutachten vom 26. August 2003 Hüftgelenksbeschwerden rechts nach im Oktober 2001 implantiertem künstlichem Hüftgelenk bei allenfalls mäßiggradig eingeschränkter Beweglichkeit. Er fand das Gangbild unauffällig wirkend und zügig. Außerdem bestünden rezidivierende Lendenwirbelsäulenbeschwerden bei Hyperlordose und röntgenologisch geringgradige degenerative Veränderungen und Kniegelenksbeschwerden beidseits bei Meniskopathie (funktionell uneingeschränkt wirkend) sowie Halswirbelsäulenbeschwerden mit Schulter-Nackenmyalgien und Hinterhauptcephalgien bei röntgenologisch mäßiggradigen Veränderungen (funktionell unauffällig wirkend). Nach Dr. V.’s Beurteilung wirkte die Klägerin, die im Hinblick auf die von ihr angegebene Depression darauf hingewiesen hatte, dass bei ihr eine "Nervosität" symptomatisch sei, allenfalls subdepressiv. Dr. V. schloss sich der Leistungsbeurteilung von Dr. F. an. Ungewöhnlich stressbehaftete Tätigkeiten seien für die Klägerin ungeeignet. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag auf der Grundlage seiner Ausführungen durch Bescheid vom 1. September 2003 ab. Leichte Arbeiten im Stehen, Gehen und Sitzen vermöge die Klägerin täglich sechs Stunden und mehr zu verrichten. Häufiges Heben oder schweres Tragen, länger dauernde gebückte Körper- bzw. Zwangshaltungen der Lendenwirbelsäule, Arbeiten in kniender oder hockender Position oder an Plätzen mit Absturzgefährdung und ungewöhnlich stressbehaftete Arbeiten seien zu vermeiden.

Im anschließenden Vorverfahren fand der von der Beklagten herangezogene Psychiater W. im Gegensatz zum behandelnden Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. P1 (Behandlung seit 2000; Medikamente: Fluoxetin Beta, Amineurin, Promethazin Neurax, im Übrigen: Ibuhexal, Sirdalut, Ibuprofen 600, Diclo 75, Jodetten-Depot, Amitryptillin), der in seiner Bescheinigung vom 2. Dezember 2003 ohne Befundschilderung einen depressiven Erschöpfungs- und Überforderungszustand, Anpassungsstörungen und eine Somatisierungsstörung diagnostiziert hatte, bei seiner Untersuchung am 29. Januar 2004 (Gutachten vom 3. Februar 2004) die Klägerin in der Grundstimmung dysphorisch leicht reizbar. Eine relevante Antriebsstörung bestehe nicht, wohl aber eine Somatisierungstendenz im Sinne von Versagenstendenzen. Es liege ein Gemütsleiden (Dysthymia) mit Somatisierungstendenz im Rahmen einer familiären Konfliktsituation bei Neigung zu neurotischer Fehlverarbeitung vor. Eine psychische oder auch neurologische Erkrankung, die maßgeblich die Leistungsfähigkeit beeinträchtige, sei nicht gegeben. Die Klägerin sei in der Lage, Hemmungen gegenüber der Aufnahme einer zumutbaren Arbeit aus eigener Kraft und mit zumutbarer Willensanspannung zu überwinden. Bei einer Gesamtwürdigung des psychischen Querschnittsbildes in Verbindung mit den ihr verbliebenen Fähigkeiten im Alltagsleben sei sie in der Lage, mindestens 6 Stunden täglich regelmäßig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bis mittelschwere körperliche Arbeiten ohne besondere Stressbelastung (wie außergewöhnlicher Zeitdruck, Nachtschichtdienst, ständige Schichtwechsel) zu verrichten. Sie sei wegefähig, eine Besserung sei möglich.

Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 2. April 2004 zurück. Hiergegen richtet sich die am 28. April 2004 (Fax vom 29. April 2004, Eingangsstempel vom 28. April 2004) erhobene Klage, mit der die Klägerin auf einen depressiven Erschöpfungs- und Überforderungszustand, Anpassungsstörungen, Somatisierungsstörungen, eine Bewegungsbeeinträchtigung der rechten Hüfte und auf Lendenwirbelsäulen-, Halswirbelsäulen- und Kniegelenksbeschwerden hingewiesen hat. Sie könne weder längere Tätigkeiten im Sitzen, Stehen oder Gehen verrichten noch längere Wegstrecken zurücklegen.

Das Sozialgericht hat Befundberichte von Dr. L. (05.07.2004), Dr. P1 (07.07. 2004: seit Jahren mittelschweres depressives Syndrom mit Somatisierung bei chronischer Überforderung als berufstätige Mutter, verminderte Anpassungsfähigkeit an Veränderungen, keine ausreichende Besserung ( psychische Befundmitteilungen vom 15. April 2004 und 15. April 2003 )) und dem Internisten Dr. B1 (19.8.2004: massive reaktive Belastung) sowie das Gutachten des Orthopäden Dr. S. vom 10. Dezember 2004 eingeholt.

Bei der Untersuchung durch Dr. S. am 16. November 2004 hat die Klägerin ein Brennen in der Hüfte, beidseitige Schulterschmerzen, eine zeitweilige Taubheit der linken Hand, angeschwollene Hände, Leistenschmerzen beidseits, Schmerzen im rechten Kniegelenk, insbesondere beim Treppensteigen, in den Kopf ausstrahlende Schmerzen an der Halswirbelsäule und Schmerzen im Bereich der Brust- und Lendenwirbelsäule (mit Ausstrahlung in das rechte, dann taube Bein) angegeben. Dr. S. hat ein Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäulensyndrom mit geringgradiger Funktionseinschränkung der Halswirbelsäule und ohne Funktionseinschränkung der Lendenwirbelsäule sowie ohne neurologische Symptomatik, einen Zustand nach Implantat einer Hüftendoprothese mit geringer Funktionseinschränkung (Besserung) und stabilem Einbeistand sowie beginnende Kniescheibenknorpelveränderungen mit geringer Funktionseinschränkung diagnostiziert. Aus orthopädischer Sicht könne die Klägerin noch leichte körperliche Tätigkeiten einfacher geistiger Art mit geringer Verantwortung in wechselnder Körperhaltung zu ebener Erde, ohne Zwangshaltungen und Überkopfarbeiten (ohne zeitliche Einschränkung), verrichten. Überwiegende Geh-, Lauf- und Stehtätigkeiten und dauerhafte Arbeiten im Knien sowie überwiegendes Besteigen von Leitern und Gerüsten seien nicht möglich, auch kein überwiegendes oder ausschließliches Heben, Tragen, Bücken, ebenfalls nicht Arbeiten unter Zeitdruck oder im Akkord. Dr. S. hat die Wegefähigkeit der Klägerin bejaht, den Leistungsbeurteilungen der Ärzte Dr. V. und W. zugestimmt und ein weiteres Gutachten nicht für erforderlich gehalten.

Gegen dieses Gutachten hat die Klägerin vornehmlich vorgebracht, Dr. S. habe sich fachfremd geäußert, wenn er meine, dass ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten nicht notwendig sei. Dr. P1 halte in seiner Bescheinigung vom 20. Januar 2005 auf Grund der langjährigen psychischen Erkrankung eine solche Begutachtung (Diagnosen: depressiver Erschöpfungs- und Überforderungszustand, Anpassungsstörungen, Somatisierungsstörung, Tinnitus) nämlich für notwendig. Hierzu um Stellungnahme gebeten, hat Dr. S. unter dem 30. März 2005 ausgeführt, dass unter Berücksichtigung des Gutachtens des Psychiaters W. eine neurologisch-psychiatrische Untersuchung entbehrlich sei. Daraufhin hat das Sozialgericht der Klägerin unter dem 7. April 2005 mitgeteilt, die Ermittlungen seien abgeschlossen.

Im Termin am 9. August 2006 hat die Klägerin angeregt, ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Amts wegen einzuholen. Hierzu hat das Sozialgericht keine Veranlassung gesehen. Daraufhin hat die Klägerin geäußert, sie wolle einen Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) stellen. Hierfür hat das Sozialgericht ihr eine Frist von einer Woche (16.8.2006) mit dem Bemerken gesetzt, dass ein solcher Antrag voraussichtlich abgelehnt werde. Am 15. August 2006 hat die Klägerin beantragt, Dr. H. nach § 109 SGG zu hören. Dem ist das Sozialgericht nicht gefolgt. Es hat die Beteiligten angehört und die Klage durch Gerichtsbescheid vom 19. September 2006 abgewiesen.

Gegen den ihr am 26. September 2006 zugestellten Gerichtsbescheid, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird, richtet sich die am 25. Oktober 2006 eingelegte Berufung.

Zu deren Begründung führt die Klägerin aus, das Sozialgericht habe von Amts wegen ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten, jedenfalls ein Gutachten von Dr. H. nach § 109 SGG, einholen müssen. Es habe das Urteil nicht allein auf die Ausführungen von Dr. S. stützen dürfen. Ihre Erwerbsfähigkeit sei aufgehoben.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 19. September 2006 und den Bescheid der Beklagten vom 1. September 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. April 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. April 2003 Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Das Berufungsgericht hat den Befundbericht des Dr. P1 vom 8. Juni 2007 (Langzeit-diagnose: chronische Depression, Anpassungsstörungen, Somatisierungsstörung; Beurteilung: chronisches depressives Syndrom mit Somatisierung mit reaktiven Zuflüssen; keine Änderung der Beschwerden, Befunde und Einschätzung seit 2004, letzter psychischer Befund 25.01.07) und von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. L1 das Gutachten vom 31. August 2007 eingeholt.

Dr. L1 hat die Klägerin bei seiner Untersuchung am 29. August 2007 nicht vorgealtert wirkend und in befriedigendem Allgemein- und Kräftezustand - im Querschnitt zumindest nicht in tiefer greifender depressiver Verfassung - angetroffen. Als ihr hauptsächlichstes Problem habe sie Schmerzen an der Hüfte und an der Wirbelsäule bezeichnet. Auch leide sie unter Haarausfall und Kribbelbeschwerden, zudem an vorübergehenden Sehstörungen. Dr. L1 hat ausgeführt, dass nach Aktenlage und eigener Befunderhebung prinzipiell und hypothetisch noch ein Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten ohne Stressoren bestehe. Auf Grund ihres gesundheitlichen Handicaps auf orthopädischem Fachgebiet sei die Klägerin allerdings mit Sicherheit auf diesen für sie geeigneten Tätigkeiten nicht konkurrenzfähig am Arbeitsmarkt. Befunde, auf Grund derer sie leichte Pack-, Sortier-, Montier- und Etikettiertätigkeiten ohne Stressoren im Sitzen, mit der Möglichkeit, die Körperhaltung zu wechseln, nicht mehr vollschichtig leisten könnte, seien nicht auszumachen.

Zu dem Gutachten vom 31. August 2007 hat die Klägerin unter dem 29. November 2007 Stellung genommen. Entgegen der Auffassung von Dr. L1 lägen bei ihr eine Antriebsminderung und auch eine ganz erhebliche Einschränkung der emotionalen Schwingungsfähigkeit sowie eine erhebliche dauerhafte Depressivität vor. Dies folge aus ihrer seit Jahren anhaltenden und notwendigen psychischen Behandlungsbedürftigkeit. Im alltäglichen Leben sei sie entgegen den Ausführungen des Gutachters motivationslos, antriebs- und denkgehemmt und von innerer Unruhe befallen. Ohne Hilfe Dritter, insbesondere ihres Ehemannes, sei sie zu keiner eigenständig motivierten Vorgehensweise in der Lage. Sie vermöge allein nicht denkgesteuert zielgerichtet und vor allem nicht dauerhaft zu handeln. Soweit Dr. L1 auf Grund seiner Untersuchung eine mittelschwere Depression nicht habe diagnostizieren können, sei dies nicht nachzuvollziehen. Dr. L1 setze sich nicht mit der von Dr. P1 gestellten Diagnose auseinander. Sie, die Klägerin, sei auf Grund der dargelegten gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht mehr in der Lage, regelmäßige Arbeiten - schon gar nicht vollschichtig - auszuüben. Im Übrigen sei sie auch nicht wegefähig.

In der mündlichen Verhandlung vom 30. April 2008, zu der ein Dolmetscher für die türkische Sprache zugegen gewesen ist, hat die Klägerin angegeben, dass sie Knochenschmerzen, Schmerzen im rechten Bein und Knie, auch im linken Bein, in den Händen und Kopfschmerzen habe, ein Kribbeln im Arm und auch im Gehirn verspüre und unter "kommenden und gehenden" Sehstörungen sowie unter Schulter- und Brustschmerzen leide. Sie sei bei Dr. P1 am 9. oder 11. April 2008 und bei Dr. L. wohl in der letzten Woche zur Behandlung gewesen.

Wegen des weiteren Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der Akten des Versorgungsamtes Hamburg und der Renten- und Gutachtenakten (3 Bände) der Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft, form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 151 SGG).

Das Rechtsmittel ist aber unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 1. September 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. April 2004 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der ab 1. Januar 2001 geltenden Fassung. Denn sie ist nicht erwerbsgemindert.

Nach § 43 Abs. 1 Satz 1. Abs. 2 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie 1. voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahren Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Die Klägerin hat zwar vor dem 1. Januar 1984 die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt (vgl. Versicherungsverlauf vom 7. Juli 2006), so dass § 241 Abs. 2 SGB VI auf sie keine Anwendung findet. Sie hat aber die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren (§ 50 Abs 1 Nr. 2 SGB VI) erfüllt. Ob die Klägerin, die vor Rentenantragstellung genügend Pflichtbeiträge und solche anschließend noch bis 31. Dezember 2004 entrichtet hat, für einen Leistungsfall, der nach dem 31. Dezember 2006 liegt, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI) erfüllte, kann dahinstehen. Denn sie ist weder voll noch teilweise erwerbsgemindert.

Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht. Daraus folgt, dass sie erst recht nicht voll erwerbsgemindert ist. Denn dies sind nur Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). § 43 Abs. 3 SGB VI bestimmt klarstellend, wer nicht erwerbsgemindert ist. Das ist derjenige Versicherte, der unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. Die Klägerin kann in diesem Sinne mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein.

Nach den im Rehabilitations- und Rentenverwaltungsverfahren durch Dr. F. und den Psychiater W. auf chirurgischem und psychiatrischem, insbesondere aber vor dem Sozialgericht und dem Berufungsgericht auf orthopädischem und neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet durch Dr. S. und Dr. L1 erhobenen Befunden (Diagnosen) bestehen bei der Klägerin auf orthopädisch-chirurgischem Fachgebiet ein Zustand nach Hüftendoprothese 2001, veranlasst durch eine grobe Sekundärcoxarthrose bei Dysplasie und Luxation, mit geringer Funktionseinschränkung und stabilem Einbeinstand, beginnende Kniescheibenknorpelveränderungen (im Sinne einer Chondropathia patellae; vgl. Kernspintomographie des rechten Knies durch den Radiologen Dr. K. vom 20. September 2002) mehr rechts als links mit geringer Funktionseinschränkung (Beugeeinschränkung von 20 Grad) und ein Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäulensyndrom mit geringer Funktionseinschränkung der Halswirbelsäule, aber ohne neurologische Symptomatik (wie Reflexausfälle, Paresen, Sensibilitätsstörungen), motorische Störungen oder (abgesehen von einer noch leichten Muskelumfangsdifferenz am rechten Oberschenkel) relevante Muskelumfangsdifferenzen. Hinweise auf ein ernsthaftes Bandscheibengeschehen gibt es nicht. Das Ott- und das Trendelenburg-Zeichen fielen bei Dr. S. normal bzw. negativ aus. Das Schober-Zeichen war bei Dr. F. und Dr. S. normal (10/15), das Laségue-Zeichen bei Dr. F., dem Psychiater W. und bei Dr. S. (dort auch das gekreuzte Laségue-Zeichen) negativ. An der unteren Lendenwirbelsäule bestehen röntgenologische Veränderungen im Sinne einer Osteochondrose.

Auf neurologischem Fachgebiet hat Dr. L1 den bisher bereits erhobenen unauffälligen Befund gutachtlich bestätigt. Cerebrale Computer-Tomographien (CT) des Radiologen Dr. S1 vom 6. Februar und 21. Mai 2001 haben im Übrigen einen unauffälligen (cranialen) Befund ergeben. In psychopathologischer Hinsicht hat Dr. L1 keinen anderen Befund als der Psychiater W. erhoben. Demnach erlaubt der psychopathologische Querschnittsbefund nicht die Annahme einer mittelschweren Depression, sondern nur einer - allenfalls - mäßigen Depression. Die Klägerin ist im Antrieb nicht nennenswert gemindert, in der affektiven Resonanzfähigkeit kaum eingeschränkt. Der Senat gelangt deshalb auf Grund der übereinstimmenden und überzeugenden Ausführungen des Psychiaters W. und Dr. L1’s zur Feststellung, dass die Klägerin durch eine Dysthymie im Sinne einer zwar chronifizierten, aber lediglich leichtgradigen Depressivität mit Affektlabilität und vermehrter Reizbarkeit beeinträchtigt ist.

Auf anderen medizinischen Fachgebieten liegen keine relevanten - entscheidungserheblichen - Befunde vor. Die Doppler-/Duplexsonographie der extracraniellen hirnversorgenden Gefäße des Internisten (Angiologen) Dr. M1 vom 14. Mai 2001 hat relevante Stenosierungen ausgeschlossen. Unauffällig fiel auch das CT Dr. S1’s vom 17. Juli 2002 von Ösophagus, Magen und Zwölffingerdarm der Klägerin aus. Es ergab sich - bei möglichen gastritischen Erscheinungen – kein relevanter pathologischer Befund, insbesondere kein neoplastischer oder ulcerierender Prozess. Schließlich ist dem hals-nasen-ohren-ärztlichen Bericht des Dr. S2 vom 10. Juli 2002 zu entnehmen, dass eine fachspezifische Therapie, insbesondere auch wegen des geklagten Tinnitus, nicht erforderlich ist.

Unter Berücksichtigung vorstehend festgestellter Krankheiten und Behinderungen ist die Erwerbsfähigkeit der Klägerin weder aufgehoben noch ansonsten rentenrechtlich bedeutend gemindert. Die Klägerin ist nämlich noch in der Lage, leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung, vorzugsweise (überwiegend) im Sitzen, zu ebener Erde (ohne Zwangshaltungen, insbesondere längeres Bücken, Knien, Hocken, Überkopfarbeiten, nicht auf Leitern und Gerüsten) zu verrichten. Diese dürfen für sie nicht im Akkord oder unter erhöhtem Zeitdruck und nicht in Schicht oder während der Nacht zur Durchführung gelangen, sollen möglichst unter Ausschluss von Publikumsverkehr erfolgen und keine besonderen Anforderungen an die Konfliktfähigkeit stellen. Leidensgerechte Tätigkeiten kann die Klägerin noch vollschichtig, zumindest sechs Stunden täglich, verrichten.

Die Klägerin ist an der Realisierung des ihr verbliebenen Leistungsvermögens nicht durch das psychische Leiden, die Dysthymie, gehindert. Hierbei handelt es sich um eine Verstimmung, ein depressives Syndrom, verbunden zuweilen mit Angst und Hypochondrie, bzw. um ein depressives Bild, das infolge körperlicher Anstrengung oder Stress auftritt und mit subjektivem Krankheitsgefühl einhergeht (endoreaktive Dysthymie). Bei der Klägerin ist die Dysthymie nicht in besonderem Grade ausgeprägt. Sie kann Hemmungen gegenüber einer leidensgerechten Tätigkeit aus eigener Kraft und mit zumutbarer Willensanspannung überwinden. Zu dieser - den Senat überzeugenden - Beurteilung sind der Psychiater W. und Dr. L1 übereinstimmend gelangt. Die Klägerin ist in ihrem Antrieb nicht dermaßen gehemmt und in ihren Gestaltungsmöglichkeiten nicht derart begrenzt, dass sie nicht aus eigener Kraft, falls ihr eine leidensgerechte Arbeit angeboten würde, sich zu deren Aufnahme entschließen könnte. Ihr biographischer Hintergrund (keine Erinnerung an die in ihrem Kleinkindesalter bereits verstorbene Mutter; Erziehung durch die Großfamilie und zwei Stiefmütter, von denen die zweite sie ausgesprochen schlecht behandelt habe, durch die Verwandtschaft vermittelte/arrangierte Eheschließung mit ihrem bei der Firma P2 arbeitenden Mann, Trennung von Geschwistern in der Türkei und vom Vater, der mit der zweiten Stiefmutter und mit Halbgeschwistern in K1 lebt), zeitweilige Auseinandersetzungen mit der Tochter, weitere familiäre Konflikte, ihre "Nervosität" und Schlafstörungen sowie die dagegen verabreichte Medikation haben bisher jedenfalls nicht bewirkt, dass sie in der Bewältigung des Alltags über Gebühr beeinträchtigt ist. Ihre psychischen Grundfunktionen sind nicht in wesentlichem Umfang zum Erliegen gekommen. Dass die Klägerin jahrelang in einer beruflich-familiären Überforderung, zuweilen am Rande der Dekompensation, gearbeitet hat und sich weiterhin in einer psychisch belastenden Situation befindet, stellt der Senat nicht in Abrede. Wenn die Klägerin daher, wie Dr. L1 ausführt, ein mehr als nachvollziehbares Begehren nach Entlastung, Entpflichtung und Versorgung empfindet, so kann dies nachvollzogen werden. Trotz alledem ist sie aber noch in der Lage, Hemmungen gegenüber einer leidensgerechten Tätigkeit aus eigener Kraft mit zumutbarer Willensanspannung zu überwinden.

Die Klägerin, die einen Führerschein besitzt, ist auch wegefähig. Denn sie ist in der Lage, vier mal am Tag mehr als 500 Meter in einer Zeit von jeweils nicht mehr als 20 Minuten zurückzulegen. Daran besteht nach den Ausführungen von Dr. V., des Psychiaters W., Dr. S.’s und Dr. L1 kein Zweifel.

Soweit die Klägerin sich gegen die gutachtlichen Ausführungen von Dr. L1 wendet, erschöpft sich ihr Vorbringen in einem unsubstantiierten Bestreiten von deren Zutreffen und im Behaupten des Gegenteils. Einen ihren Vortrag stützenden medizinischen Beleg hat sie nicht beigebracht, für die Richtigkeit ihrer Behauptungen gibt es deshalb keinen Anhalt. Die Befundberichte bzw. Bescheinigungen Dr. P1’s, die sich zu ihrem Leistungsvermögen nicht äußern, stützen nicht die Behauptung ihrer vollen oder teilweisen Erwerbsminderung.

Ob das Sozialgericht den von der Klägerin gestellten Antrag nach § 109 SGG im angefochtenen Gerichtsbescheid zu Recht (wegen Verspätung aus grober Nachlässigkeit) abgelehnt hat, kann dahingestellt bleiben. Auch wenn das der Fall wäre, unterläge die angefochtene Entscheidung nicht der Aufhebung nach § 159 SGG. Der Sachverhalt ist im Berufungsverfahren durch die Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens nach § 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG ausermittelt worden. Einen Antrag nach § 109 SGG hat die Klägerin im Berufungsverfahren nicht gestellt.

Zutreffend hat das Sozialgericht ausgeführt, dass die Klägerin mit dem ihr verbliebenen vollschichtigen (sechsstündigen) Leistungsvermögen auf leichte Arbeiten mit den aufgezeigten Einschränkungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar ist. Eine Summierung vielfältiger Einschränkungen oder eine spezifische Leistungsbehinderung, die deren Verrichtung entgegen steht, liegt nicht vor. Einer konkreten Bezeichnung einer der Klägerin gesundheitlich noch möglichen Tätigkeit bedarf es deshalb nicht. Abgesehen davon besteht kein Anhalt dafür, dass sie die körperlichen und geistigen Voraussetzungen für leichte Pack-, Montier-, Sortier- oder Etikettierarbeiten, die dem Senat durch diverse berufskundige Sachverständigenaussagen bekannt sind, nicht erfüllt. Diese Arbeiten gelangen in wechselnder Körperhaltung - meistens überwiegend im Sitzen - in Tagesschicht, ohne besonderen Stress und ohne erhebliche Gewichtsbelastungen zur Durchführung.

Soweit Dr. L1 angemerkt hat, die Klägerin sei auf Grund des orthopädischen Befundes nicht "konkurrenzfähig", ist dies nicht gleichzusetzen mit aufgehobener Wettbewerbsfähigkeit bzw. einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes trotz an sich vollschichtiger bzw. sechsstündiger Leistungsfähigkeit. Sie kann, wie Dr. L1 selbst einräumt, vorstehend aufgeführte Arbeiten trotz des endoprothetischen Hüftersatzes leisten. Dr. F., Dr. L. und insbesondere Dr. S. haben daran von orthopädisch-chirurgischer Seite keinen Zweifel gelassen. Für die erfolgreiche Vermittlung in eine solche - leidensgerechte - Arbeit, trägt nicht der beklagte Rentenversicherungsträger, sondern allenfalls die Bundesagentur für Arbeit das Risiko.

Schließlich hat die Klägerin, auch wenn sie vor dem 2. Januar 1961 geboren ist, keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI. Sie ist nicht berufsunfähig im Sinne von Abs. 2 dieser Vorschrift. Berufsschutz kommt ihr nicht zu, weil sie keinen Beruf erlernt und bisher ungelernte Arbeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verrichtet hat. Sie kann im Hinblick auf ihr quantitativ unbegrenztes Leistungsvermögen auf leichte Arbeiten (mit den aufgezeigten Einschränkungen) des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden.

Nach alledem hat die Berufung keinen Erfolg und ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen hierfür fehlen.
Rechtskraft
Aus
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