L 3 R 163/05

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 42 RA 446/02
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 3 R 163/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 15. August 2005 wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. 4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung streitig.

Der am XX.XXXX 1967 in Deutschland geborene Kläger mit niederländischer Staatsangehörigkeit war von 1985 bis 1989 und ab 2000 in Deutschland tätig; zuletzt war er bis zu seiner Erkrankung am 25. Oktober 2000 als Warenhausdetektiv beschäftigt.

Seinen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung vom 17. Oktober 2001, den er auf mehrere Rippenfrakturen, eine Hirnverletzung im Jahre 1993 nach einem Schlag auf den Kopf, einen Kniebruch links, Hüft- und Rückenbeschwerden sowie Asthma stützte, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15. Februar 2002 ab. Zuvor war der Internist Dr. S. im Gutachten vom 20. Dezember 2001 zu dem Ergebnis gekommen, dass aus internistischer Sicht keine relevante Leistungseinschränkung vorliege, zumal das Asthma derzeit nicht auftrete. Außerdem lag der Beklagten u. a. das Gutachten des Arbeitsamtsarztes Dr. L. vom 23. August 2001 vor, in dem ein Knieverschleiß links nach Urlaubsunfall 1998 und operiertem Knochenbruch sowie Frühverschleiß des Gelenkknorpels, eine Wirbelsäulenfehlhaltung ohne gröbere Funktionsstörung, eine Fußfehlstatik, eine dezente Kurzsichtigkeit und eine Raucherbronchitis diagnostiziert wurden. Als Leistungsbild gab Dr. L. an, der Kläger könne im Freien, in Werkhallen, in geschlossenen und in temperierten Räumen vollschichtig auch im Schichtdienst überwiegend sitzend, zeitweise stehend oder gehend tätig sein. Häufiges Heben und Tragen ohne mechanische Hilfsmittel sei auszuschließen. Tätigkeiten mit gehäuftem Gehen und Stehen, Treppen und Leitern steigen seien nicht praktikabel. Zweckdienlich sei eine Tätigkeit in überwiegendem Sitzen mit der Möglichkeit zu einem Wechsel der Körperhaltung. Zumutbar seien leichte, eingestreut mittelschwere Tätigkeiten mit der Möglichkeit zu einem gelegentlichen Wechsel der Körperhaltung bei überwiegendem Sitzen ohne Fußhebelbedienung links. Tätigkeiten im Personenschutz könnten nicht mehr verrichtet werden.

Im Widerspruchsverfahren stellte der Orthopäde Dr. G. im Gutachten vom 6. April 2002 als Diagnosen Belastungsschmerzen im linken Kniegelenk bei Tibiakopffraktur mit operativer Versorgung und Refraktur nach Metallentfernung sowie eine depressive Verstimmung aufgrund der Erkrankung fest. Bis zur Implantation einer Totalendoprothese bestehe ein aufgehobenes Leistungsvermögen. Nachdem der beratende Arzt Dr. W. dieser Einschätzung unter dem 18. April 2002 widersprach, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 8. August 2002 zurück.

Der Kläger am 5. September 2002 Klage erhoben. Der im Auftrag der Beklagten tätig gewordene Orthopäde P. hat im Gutachten vom 2. Dezember 2002 ausgeführt, bei dem Kläger liege eine schmerzhafte Funktionsbeeinträchtigung des linken Kniegelenks bei Zustand nach lateraler Schienbeinkopfimpressionsfraktur, ein Lendenwirbelsäulensyndrom mit allenfalls mäßiger Bewegungseinschränkung bei Fehlhaltung, eine Osteoporose und eine Sinterungsfraktur des 3. Lendenwirbelkörpers sowie eine muskuläre Insuffizienz der Skelettmuskulatur vor. Der Kläger könne noch leichte körperliche Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung oder im Sitzen im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich verrichten. Die Wegefähigkeit sei ohne Frage erhalten, denn vor der Untersuchung auf der Straße habe sich ein Gangbild mit raumgreifenden Bewegungen und allenfalls geringer Minderung des Einsatzes des linken Beines gezeigt.

Der durch das Sozialgericht beauftragte Orthopäde Dr. L1 hat nach Untersuchung des zwischenzeitlich nach Gran Canaria verzogenen Klägers in seinem Gutachten vom 30. November 2004 das Vorliegen einer posttraumatischen Gonarthrose links nach operativ versorgter Tibiafraktur mit Bandinstabilität des Kniegelenks und einer Muskelverschmächtigung im linken Bein, sowie einer Keilwirbelbildung nach Kompressionsfraktur des 3. Lendenwirbelkörpers und einer Osteoporose diagnostiziert. Der Kläger könne mittelschwere Arbeiten vollschichtig verrichten. Allerdings könne er diese Arbeiten nicht überwiegend im Gehen oder Stehen, in Zwangshaltungen, unter Zeitdruck, Akkord oder Schichtbedingungen, unter Witterungseinfluss oder auf Leitern oder Gerüsten leisten. Er könne auch nicht viermal täglich Wegstrecken von mehr als 500 Meter zu Fuß zurücklegen.

Mit Urteil vom 15. August 2005 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Nach den überzeugenden Ausführungen sämtlicher Gutachter – mit Ausnahme von Dr. G., der nur ein vorübergehend aufgehobenes Leistungsvermögen annehme und dafür jedoch keine objektivierbaren Befunde anführe – und in Übereinstimmung mit den Befunden in allen medizinischen Unterlagen sei der Kläger zumindest noch zu leichten Arbeiten unter den üblichen Arbeitsbedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich in der Lage. Entgegen der – ohne einen Befund belegten – Annahme des Gutachters Dr. L1 sei die Wegefähigkeit gegeben. Insoweit überzeuge insbesondere die Einschätzung des Orthopäden P., der bei dem Kläger ein entsprechendes Gangbild beschreibe. Für einen nach dem April 2004 gelegenen Versicherungsfall fehlten im Übrigen die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, so dass nach diesem Zeitpunkt eingetretene Leistungseinschränkungen für das Begehren des Klägers ohne Bedeutung seien.

Gegen diese seinem Bevollmächtigten am 28. August 2005 zugestellte Entscheidung hat der Kläger am 23. September 2005 Berufung eingelegt und ausgeführt, dass das Sozialgericht den Sachverhalt nicht ordnungsgemäß aufgeklärt habe. Insbesondere habe die Frage der Wegefähigkeit einer weiteren Begutachtung oder zumindest einer Nachfrage bei dem letzten Gutachter bedurft. Seit der Lendenwirbelimpression im Juli 2002 sei eine überwiegend sitzende Tätigkeit schon deswegen ausgeschlossen, weil er ohne Abstützen mit den Händen fast nicht mehr sitzen könne. Er habe keinen eigenen Pkw, sondern lasse sich von seiner Lebensgefährtin bei Bedarf fahren. Die Schmerzmittel, die er seit 1998 kontinuierlich nehme, hätten Nebenwirkungen, die eine aktive Teilnahme am Straßenverkehr ausschlössen. Neben den Leiden auf orthopädischem Gebiet bestünden (bis heute) psychische Erkrankungen, wegen derer er auch zeitweise im Krankenhaus O. stationär behandelt worden sei.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 15. August 2005 und den Bescheid der Beklagten vom 15. Februar 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. August 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm eine Rente wegen Erwerbsminderung ab 1. Oktober 2001 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Zu Recht sei das Sozialgericht mit Hinweis auf das Gutachten des Orthopäden P. von Wegefähigkeit ausgegangen, denn dieser habe in seinem Befund ein entsprechendes Gangbild beschrieben.

Der Kläger hat ergänzend vorgetragen, er habe von Anfang Juni 2000 bis Ende September 2000 versucht, einer Tätigkeit als Betriebsleiter nachzugehen. Obwohl dies eine leichte Arbeit gewesen sei, sei der Arbeitversuch nach drei Monaten gescheitert. Er besitze zwar einen Führerschein, werde aber von seiner Bekannten gefahren oder nehme ein Taxi, weil er Schmerzmittel und ein Antidepressivum einnehme. In psychiatrischer Behandlung sei er seit der Umsiedlung nach Gran Canaria wegen Sprachschwierigkeiten nicht mehr gewesen. Er habe keine eigenen Einkünfte, sondern werde von seiner Bekannten unterhalten.

Ausweislich des im Berufungsverfahren eingeholten Befundberichts des Neurologen/Psychiaters Dr. R. vom 9. Dezember 2005 war der Kläger dort am 2. April 2001 in einmaliger und vom 29. Januar bis 19. März 2002 in laufender Behandlung. Ihm sei jeweils ein Antidepressivum verordnet worden. Über den weiteren Verlauf der Erkrankung sei nichts bekannt. Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist ein Gutachten des Orthopäden Dr. R1 eingeholt worden. In seinem Gutachten vom 9. Mai 2008 kommt Dr. R1 zu dem Ergebnis, dass dem Kläger noch vollschichtiges Arbeiten zumutbar sei. Lediglich schwere körperliche Arbeiten seien nicht zu empfehlen. Arbeiten, die wechselweise mit Heben, Tragen, Bücken sowie anderen Bewegungen verbunden seien, könne der Kläger verrichten. Wegefähigkeit sei gegeben. Ob die zeitweise Einnahme starker Schmerzmittel dem Führen eines Kfz entgegenstehe, sei neurologisch zu klären. Orthopädischerseits bestünden keine wesentlichen Einschränkungen. Insbesondere seien die früheren Frakturen ausgeheilt, alle Gelenke ausreichend beweglich und keine Auffälligkeit in der Bemuskelung feststellbar. Die Frage, ob der Kläger nur in geschlossenen Räumen bzw. auch unter Einfluss von Witterung, Staub, Dämpfen und Geräuschen arbeiten könne, sei ggf. internistisch zu klären. Es bestehe eine Diskrepanz zwischen den geklagten Beschwerden und den erhobenen Befunden. Die letzte Knochendichteuntersuchung liege lange zurück; eine erneute Messung sei sinnvoll.

Zu diesem Gutachten und zu der Frage des Gerichts, welche Leiden auf neurologisch-psychiatrischem oder internistischem Fachgebiet nach seiner Auffassung vorlägen und zu welchen Einschränkungen sie führten, hat der Kläger Stellung genommen. Das Gutachten von Dr. R1 sei nicht nachvollziehbar. Er (der Kläger) habe nicht einmal die Kraft gehabt, auch nur eine Minute während der Begutachtung allein zu stehen. Seine Beschwerden resultierten vermutlich aus einer seit mehreren Jahren bestehenden Parkinsonerkrankung, die bisher von den Ärzten nicht erkannt worden sei. Im Hinblick auf diese mögliche Erkrankung rege er die Einholung eines neurologischen Gutachtens an.

Wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird auf den Inhalt der Prozessakte, der Verwaltungsakte der Beklagten sowie der Schwerbehindertenakte verwiesen. Sie sind Gegenstand der Beratung und Entscheidung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten ihr Einverständnis hiermit erklärt haben (§ 124 SGG).

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers (vgl. §§ 143, 144, 151 SGG) ist nicht begründet. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht die auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente durch die Beklagte gerichtete Klage abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente, denn er kann noch zumindest leichte Arbeiten mit qualitativen Einschränkungen im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich ausüben sowie öffentliche Verkehrsmittel benutzen und die dazu erforderlichen Wege zu Fuß zurückzulegen (Wegefähigkeit). Den insoweit gegenteiligen Einschätzungen in den Gutachten von Dr. G. und Dr. L1 ist nicht zu folgen. Ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ist schon aufgrund des Geburtsjahrgangs des Klägers ausgeschlossen. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat Bezug auf die Begründung des sozialgerichtlichen Urteils (§ 153 Abs. 2 SGG).

Im Berufungsverfahren hat sich die vom Sozialgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegte Einschätzung eines noch vollschichtigen Restleistungsvermögens bei erhaltener Wegefähigkeit bestätigt. Nach den überzeugenden Darlegungen des Orthopäden Dr. R1 führen die Erkrankungen auf orthopädischem Fachgebiet nur zu einer geringen Einschränkung des Leistungsvermögens und erklären weder die geklagten Schmerzen noch die behaupteten Bewegungseinschränkungen bzw. eine aufgehobene Wegefähigkeit. Der Vortrag des Klägers stimmt nach den Feststellungen von Dr. R1 insbesondere nicht mit dem vorgefundenen Muskelstatus überein. Daher gibt es keinen Anlass für eine weitere Überprüfung der im Wesentlichen übereinstimmend von den Orthopäden Dr. R1 und P. beschriebenen Befunde. Wegen des Vorliegens von Wegefähigkeit im Sinne der Fähigkeit, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen und die erforderlichen Wege zu Fuß zurückzulegen, kommt es auf die Frage nicht an, ob der Kläger ein Kraftfahrzeug führen kann oder wegen der Nebenwirkungen der eingenommenen Schmerzmittel daran gehindert ist.

Der Senat sieht von der Einholung eines Gutachtens auf psychiatrischem Fachgebiet ab. Zwar kann nicht mit dem Sozialgericht davon ausgegangen werden, dass der Kläger nie in psychiatrischer Behandlung war. Die bei dem Neurologen/Psychiater Dr. R. stattgefundene Behandlung dauerte jedoch lediglich etwa anderthalb Monate und bestand in der Verordnung eines Medikaments gegen Depression, ohne dass im Befundbericht eine Diagnoseerhebung dargelegt wird. Darüber hinaus hat das Allgemeine Krankenhaus O., wo der Kläger nach seinem Vortrag in stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen war, keine Unterlagen über den Kläger vorlegen können. Bei dieser Sachlage sieht der Senat keine realistische Möglichkeit, etwaige in der Zeit bis zum April 2004 bestandene psychisch bedingte Leistungseinschränkungen mit Hilfe einer Begutachtung zu klären.

Es sind auch keine sonstigen Ermittlungen geboten. Zwar behandelt Dr. M. den Kläger seit Mitte 2003 mit Medikamenten, die bei einer Osteoporose eingesetzt werden. Diese Behandlung erfolgt jedoch offenbar auf Verdacht, denn es liegen keine Knochendichteuntersuchungen vor, die eine Osteoporose – und insbesondere nicht für den Zeitraum vor April 2004 – belegen. Die Vermutung des Klägers, eine von den Ärzten bisher nicht erkannte Parkinsonsche Erkrankung könne seine Beschwerden erklären, ist rein hypothetisch und gebietet keine neurologische Begutachtung. Ebenso gibt es keinen Grund für die Einholung eines internistischen Gutachtens, denn nicht einmal der Kläger selbst macht eine Leistungseinschränkung durch Leiden auf internistischem Fachgebiet geltend.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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