L 1 B 202/09 ER KR

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 2 KR 445/09 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 B 202/09 ER KR
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 12. Mai 2009 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das Beschwerdeverfahren. Im Übrigen haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten um Leistungen der häuslichen Krankenpflege.

Die 1952 geborene Antragstellerin leidet unter anderem an einer Persönlichkeitsstörung und einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus Typ II. Sie wohnt seit Oktober 2007 in einer stationären Wohneinrichtung der Behindertenhilfe der Stiftung "D.", welche von der Beigeladenen zu 2. als gemeinnützige Stiftung betrieben wird. Die Beigeladene zu 1. finanziert den Aufenthalt als Sozialhilfeträger im Rahmen der Eingliederungshilfe gemäß §§ 53 und 54 Sozialgesetzbuch – Zwölftes Buch (SGB XII). Die Unterbringung ist durch einen Wohn- und Rehabilitationsvertrag, der zwischen der Antragstellerin und dem Einrichtungsträger (Beigeladene zu 2.) am 15. Oktober 2007 vereinbart wurde, geregelt. Es gilt die Vereinbarung nach § 75 Abs. 3 SGB XII zwischen der Beigeladenen zu 1. und zu 2. vom 30. September 2003 in der Fassung vom 5. Juli 2006. Die Antragstellerin bewohnt in der Einrichtung ein teilmöbliertes Einzelzimmer mit Dusche und WC. Die Betreuungsleistungen betreffen verschiedene Leistungsbereiche und beinhalten Hilfen bei der Grundversorgung und Lebensgestaltung. Die Leistungserbringung kann in Form von Beratung, Motivierung, Begleitung, Unterstützung und Übernahmen erfolgen. Sie wird nur insoweit angeboten und durchgeführt, wie die Bewohner nicht zur selbständigen Übernahme in der Lage sind. Maßgebliches Ziel ist die Vermeidung bzw. Verkürzung von psychiatrischen Krankenhausbehandlungen und den seelisch behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Die Wohneinrichtung, in der die Antragstellerin lebt, hält kein Personal zur Durchführung der Behandlungspflege vor. Bezüglich medizinischer Behandlungen besteht lediglich ein Anspruch auf Hilfen bei der Inanspruchnahme (s. LB 2 Ziffer 2.10 der Anlage 1 zur Vereinbarung nach § 75 Abs. 3 SGB XII).

Die Antragsgegnerin lehnte mit Bescheiden vom 12. Juni 2008 und 23. Juni 2008 die Gewährung von Leistungen der häuslicher Krankenpflege ab, weil die Antragstellerin als Bewohnerin einer vollstationären Einrichtung Leistungen nur bei einem besonders hohen Bedarf, der vorliegend nicht gegeben sei, erhalten könne. Zugrunde lagen Verordnungen über zweimal täglich Blutzuckermessungen und Insulininjektionen. Der Widerspruch der Antragstellerin blieb erfolglos. Mit Widerspruchsbescheid vom 15. April 2009 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch als unbegründet zurück. Häusliche Krankenpflege könne in einer stationären Wohneinrichtung nicht gewährt werden.

Am 24. April 2009 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Hamburg erhoben und den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Nach Beiladung des Einrichtungsträgers und des Sozialhilfeträgers hat das Sozialgericht die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 12. Mai 2009 im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, vorläufig für die Zeit vom 24. April 2009 bis 31. Dezember 2009 Krankenbehandlung in Form von häuslicher Krankenpflege für zweimal tägliche Blutzuckermessungen und Insulininjektionen zu gewähren. Die Leistungsverpflichtung der Antragsgegnerin als zuerst angegangener Träger ergebe sich bereits aus § 14 Abs. 1 Satz 1 und 2 sowie Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch (SGB IX), denn es handele sich bei den im Streit stehenden Leistungen als Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft um Leistungen zur Teilhabe im Sinne der §§ 4 und 5 SGB IX. Im Übrigen sei die Antragsgegnerin gemäß § 37 Abs. 2 SGB V verpflichtet, der Antragstellerin die verordneten Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege zu gewähren. Die stationäre Wohneinrichtung sei ein geeigneter Ort im Sinne von § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V. Die Situation von Bewohnern stationärer Einrichtungen der Behindertenhilfe könne nicht mit Heimbewohnern einer Pflegeeinrichtung nach § 43 Sozialgesetzbuch – Elftes Buch (SGB XI) verglichen werden, sofern kein vertraglicher Anspruch auf Krankenpflege bestehe und auch kein hierfür qualifiziertes Pflegepersonal vorgehalten werde. Die Antragstellerin befinde sich in einer Situation, die derjenigen von Versicherten entspreche, die in betreuten Wohnformen untergebracht seien. Ein sachlicher Grund für eine unterschiedliche Behandlung sei nicht erkennbar. Auch dienten die Regelungen in § 37 SGB V neben der Kostensenkung im Gesundheitswesen der Abgrenzung von Zuständigkeiten zwischen der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Auch vor diesem Hintergrund erscheine es nicht angemessen, dem grundsätzlich nachrangig verpflichteten Sozialhilfeträger nur deshalb weitere Kosten aufzuerlegen, weil er aus anderem Grund Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen erbringe.

Die Antragsgegnerin hat am 8. Juni 2009 Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 12. Mai 2009 eingelegt. Sie bezieht sich auf mehrere Entscheidungen des Sozialgerichts Hamburg, wonach ein Anspruch auf häuslicher Krankenpflege in stationären Wohneinrichtungen, die unter das Heimgesetz fallen, ausgeschlossen sei (SG Hamburg, Beschluss vom 17. Dezember 2007 – S 56 SO 365/07 ER; Beschluss vom 3. Februar 2009 – S 48 KR 1330/08 ER). Stationäre Wohneinrichtungen seien kein geeigneter Ort nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V. Der Anspruch könne auch nicht auf § 14 SGB IX gestützt werden, weil es sich bei Leistungen der häuslichen Krankenpflege nicht um Leistungen der medizinischen Rehabilitation im Sinne von den §§ 5 und 6 SGB IX handele.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 12. Mai 2009 aufzuheben.

Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde der Antragsgegnerin zurückzuweisen.

Sie bezieht sich wie die Beigeladenen auf die Ausführungen des Sozialgerichts im Beschluss vom 12. Mai 2009.

II

Die am 8. Juni 2009 eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den am 15. Mai 2009 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 12. Mai 2009 ist statthaft und zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Sie ist jedoch nicht begründet.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und im vom Sozialgericht zugesprochenen Umfang begründet. Das Sozialgericht hat die Antragsgegnerin zu Recht und mit zutreffender Begründung zur vorläufigen Gewährung der verordneten Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege verpflichtet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zulässig zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Erforderlich ist danach zum einen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Notwendigkeit einer Eilentscheidung, und zum anderen ein Anordnungsanspruch. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung).

Die Antragstellerin hat im Wege des einstweiligen Rechtschutzes einen Anspruch auf die Gewährung von Blutzuckermessungen und Insulininjektionen im vom Sozialgericht angeordneten Umfang. Es besteht sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund.

Für die Zeit ab Antragstellung ergibt sich nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand ein Anspruch auf Gewährung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege. Die Voraussetzungen nach § 37 Abs. 2 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch (SGB V) liegen vor. Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V erhalten Versicherte als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn diese zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Nach der gesetzlichen Regelung werden die Leistungen in dem Haushalt der Versicherten, ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort, insbesondere in betreuten Wohnformen, Schulen und Kindergärten, bei besonders hohem Pflegebedarf auch in Werkstätten für behinderte Menschen erbracht.

Das W.-Haus, in dem die Antragstellerin lebt, ist ein geeigneter Ort im Sinne von § 37 Abs. 2 SGB V, weil ein Anspruch der Versicherten auf Behandlungspflege gegen den Einrichtungsträger, die Beigeladene zu 2., nicht besteht. § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V setzt voraus, dass die Leistungen in einem Haushalt oder "sonst an einem geeigneten Ort, insbesondere in betreuten Wohnformen, " erbracht werden können. Einrichtungen, in denen behinderten Menschen Eingliederungshilfe gewährt wird, können eine "betreute Wohnform" im Sinne des Gesetzes sein, wenn durch den Aufenthalt nicht ein Anspruch auf Leistungen der Behandlungspflege begründet wird, zumindest handelt es sich aber um einen "sonst geeigneten Ort". Das ergibt sich insbesondere aus dem Sinn und Zweck der Regelung nach der Änderung des § 37 SGB V durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vom 26. März 2007 mit Wirkung zum 1. April 2007. Nach der Gesetzesbegründung sollte eine vorsichtige Erweiterung des Haushaltsbegriffs erfolgen, um vorschnelle stationäre Einweisungen zu vermeiden und um Lücken im Zwischenbereich von stationärer und ambulanter Versorgung zu schließen (BT-Drs. 16/3100 S. 104). Weiter heißt es, dass ein geeigneter Ort dann nicht gegeben sei, wenn Einrichtungen medizinische Behandlungspflege schulden.

Die Gemeinsamkeiten der stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe ohne Anspruch auf Behandlungspflege mit betreuten Wohnformen rechtfertigen es, diese Wohneinrichtungen als geeignete Orte im Sinne von § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V anzusehen, wenn man sie nicht bereits als besondere Ausprägung des betreuten Wohnens im Sinne von § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V versteht. Die Einbeziehung von Einrichtungen der Eingliederungshilfe schließt auch Lücken zwischen der ambulanten und stationären Versorgung. Die stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe können nicht mit stationären Einrichtungen wie Krankenhäusern, medizinischen Rehabilitationseinrichtungen oder Pflegeheimen gleichgesetzt werden. Bei Einrichtungen der Behindertenhilfe steht die gesellschaftliche Integration der Bewohner im Vordergrund, die möglichst unabhängig werden sollen (§ 53 Abs. 3 SGB XII). Aus diesem Grund sind Behinderteneinrichtungen auch keine Pflegeheime gemäß § 71 Abs. 4 SGB XI. Nach § 6 Abs. 1 der Vereinbarung nach § 75 Abs. 3 SGB XII zwischen der Beigeladenen zu 1. und zu 2. in der Fassung vom 5. Juli 2006 kann die Leistungserbringung in Form von Beratung, Motivierung, Begleitung, Unterstützung, Anleitung, Förderung und Übernahme der beschriebenen Leistungen erfolgen. In der Anlage zu der Vereinbarung werden die grundsätzlichen Zielsetzungen der Leistungen formuliert. So soll den seelisch behinderten Menschen insbesondere die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft sowie die Ausübung einer angemessenen Tätigkeit ermöglicht und Krankenhausaufenthalte vermieden werden. Diese Ziele werden auch konsequent im Wohn- und Rehabilitationsvertrag zwischen der Antragstellerin und der Beigeladenen zu 2. umgesetzt. Die Leistungen der Einrichtung wie Reinigung und Verpflegung werden nach dem Subsidiaritätsgrundsatz erbracht, das heißt, sie werden nur soweit übernommen, wie der Bewohner nicht in der Lage ist, sie selbst vorzunehmen. Der Bewohner ist nach § 3 des Vertrages zur Mitwirkung verpflichtet. Das alles unterscheidet sich grundlegend von dem Aufenthalt in einem Krankenhaus oder Pflegeheim, bei dem jeweils die medizinische und pflegerische Behandlung im Vordergrund steht und nicht die Stärkung der psychosozialen Fähigkeiten. Der Aufenthalt in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe (ohne Anspruch auf Behandlungspflege) ist daher eher mit dem betreuten Wohnen zu vergleichen.

Nicht entscheidend ist, dass die Einrichtung, in der die Antragstellerin lebt, unter das HeimG fällt (a.A. LSG Niedersachsen-Bremen vom 24. April 2009 – L 8 SO 1/07 - Juris; SG Hamburg vom 17. Dezember 2007 – S 56 SO 365/07 und vom 3. Februar 2009 – S 48 KR 1330/08 ER - Juris). Das HeimG kann für die Auslegung des geeigneten Ortes bereits deshalb nicht herangezogen werden, weil die Zielsetzung des Gesetzes nicht darauf abzielt, Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu definieren. Nach § 2 HeimG ist der Zweck des Gesetzes, vorrangig die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und ihre Rechte gegenüber dem Heimträger zu wahren.

Ungeachtet der Tauglichkeit des HeimG für die Ermittlung des "sonst geeigneten Wohnorts" ist die Unterscheidung zwischen dem betreuten Wohnen auf der einen und dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung bzw. einem Heim auf der anderen Seite zu undifferenziert. Das betreute Wohnen ist gesetzlich nicht definiert und die Übergänge von einer Wohngemeinschaft mit Betreuungshilfe zu einer stationären Einrichtung, welche unter die Regelungen des Heimgesetzes (HeimG) fällt, dürften in Abhängigkeit der Fähigkeiten der Bewohner fließend sein. Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 HeimG sind Heime Einrichtungen, die dem Zweck dienen, ältere Menschen oder pflegebedürftige oder behinderte Volljährige aufzunehmen, ihnen Wohnraum zu überlassen sowie Betreuung und Verpflegung zur Verfügung zu stellen oder vorzuhalten, und die in ihrem Bestand von Wechsel und Zahl der Bewohner unabhängig sind und entgeltlich betrieben werden. § 1 Abs. 2 Satz 3 HeimG ist zu entnehmen, dass das HeimG Anwendung findet, wenn die Bewohner verpflichtet sind, Verpflegung und weitergehende Betreuungsleistungen anzunehmen. Das W.-Haus der Beigeladenen zu 2. ist in seinem Bestand vom Wechsel und dem Bestand der Bewohner unabhängig und gemäß § 2 des Wohn- und Rehabilitationsvertrages sind Wohnraum und Verpflegung sowie Betreuungsleistungen Leistungen der Einrichtung.

Trotz Vorliegens der Voraussetzungen von § 1 HeimG sind die Unterschiede zum betreuten Wohnen vergleichsweise gering. Beim betreuten Wohnen handelt es sich um kleinere Wohngruppen, die eher nach dem Prinzip einer Wohngemeinschaft organisiert sind und bei denen die Bewohner ein möglichst selbständiges Leben führen sollen. Die Betreuungsleistungen zielen darauf ab, dass die Bewohner noch in der Lage sind, ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen. Art und Umfang der Betreuungsleistungen hängen jedoch stark von den gesundheitlichen Einschränkungen der Bewohner ab. Mitunter ist auch wie in einem Heim eine ständige Aufsicht und Betreuung bei den täglichen Verrichtungen erforderlich. Einrichtungen der Behindertenhilfe, in denen Eingliederungshilfe gemäß §§ 53 und 54 SGB XII gewährt wird, können als institutionalisierte betreute Wohnformen angesehen werden. Es leben dort mehr Bewohner, die Einrichtung ist nicht vom Wechsel der Bewohner abhängig und die Betreuungsleistungen werden gebündelt und abgestuft erbracht. In der Einrichtung der Beigeladenen zu 2. werden seelisch behinderte/psychisch kranke Menschen aufgenommen, die in der Regel ähnlich wie bei dem betreuten Wohnen in "kleinteiligen bzw. in Wohngruppenform differenzierten Übergangs-/ Wohnheimen" angeboten wird (s. Ziffer 2 der Anlage 1 zur Vereinbarung nach § 75 Abs. 3 SGB XII). Ziel ist die Vermeidung oder Verkürzung von psychiatrischen Krankenhausbehandlungen und die Sicherung der vorangegangenen Behandlungen. Die Vermeidung einer stationären Unterbringung ist nach den Gesetzesmaterialien ein Grund für die Ausweitung des Haushaltsbegriffs gewesen (BT-Drs. 16/3100 S. 104). An dieser Stelle wird deutlich, dass das Merkmal stationär zur Differenzierung nicht ausreicht, denn die stationäre Wohneinrichtung soll gerade die stationäre Krankenbehandlung verhindern. Vom Gesetzgeber gemeint sind vielmehr die Einrichtungen mit Anspruch auf die Erbringung von Behandlungspflege wie Krankenhäuser, Rehabilitationseinrichtungen, Hospize und Pflegeheime (Ziffer I. 6. der Richtlinien über die Verordnung von "häuslicher Krankenpflege" in der Fassung vom 11. Juni 2008 - HKP-Richtlinien des gemeinsamen Bundesausschusses zur häuslichen Krankenpflege). Das W.-Haus richtet sich an behinderte Menschen, die vorübergehend oder manchmal auch dauerhaft noch nicht oder nicht mehr in der Lage sind, in einer eigenen Wohnung zu leben (s. Ziffer 2 der Anlage 1 zur Vereinbarung nach § 75 Abs. 3 SGB XII). Auch hier ergibt sich eine Übereistimmung mit dem betreuten Wohnen. Das gilt insbesondere für die übergeordnete Zielsetzung ein möglichst selbständiges Leben in der Gesellschaft mit der Ausübung einer geregelten Tätigkeit zu ermöglichen (s. Ziffer 3 der Anlage 1 zur Vereinbarung nach § 75 Abs. 3 SGB XII).

Ein sachlicher Grund für eine unterschiedliche Behandlung ist, wie vom Sozialgericht zutreffend hervorgehoben nicht ersichtlich, weshalb die Leistungen der häuslichen Krankenpflege den Bewohnern nicht vorenthalten werden dürfen. Da im Gegensatz zu Pflegeeinrichtungen gemäß §§ 43 SGB XI gerade keine Verpflichtung besteht, Behandlungspflege zu erbringen und deshalb kein entsprechend qualifiziertes Pflegepersonal vorhanden ist, besteht nicht die Gefahr, dass die Einrichtungsträger zu Lasten der Krankenkassen sich von kostenintensiven Pflichtaufgaben befreien. Eine unzulässige Überschneidung der Zuständigkeiten zwischen Kostenträgern entsteht nicht. Es gibt keine Verpflichtung der Einrichtungen, im Rahmen der Eingliederungshilfe auch Leistungen der Behandlungspflege nach § 37 Abs. 2 SGB V zu erbringen. § 55 SGB XII betrifft Pflegeleistungen nach dem SGB XI und nicht Leistungen der häuslichen Krankenversicherung nach dem SGB V.

Für eine Einbeziehung stationärer Einrichtungen der Behindertenhilfe als geeigneten Ort spricht auch, dass § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB V für Versicherte, die sich in gemäß § 43 SGB XI zugelassenen Pflegeeinrichtungen befinden, eine Ausnahmeregelung enthält. Häusliche Krankenpflege kann danach gewährt werden, wenn ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege besteht. Sofern unter besonderen Voraussetzungen in einer Pflegeeinrichtung, die grundsätzlich alle pflegerischen und medizinischen Versorgungsleistungen übernehmen muss und über entsprechendes Personal verfügt, Behandlungspflege gewährt werden kann, muss das erst recht bei einer stationären Wohneinrichtung gelten, bei der kein Anspruch auf Behandlungspflege besteht. Auch werden in dem Ausnahmetatbestand stationäre Einrichtungen der Behindertenhilfe nicht erwähnt. Da es keinen Grund gibt, die Bewohner derartiger Einrichtungen von der Versorgung auszuschließen, ist es naheliegend, dass der Gesetzgeber von einem bereits grundsätzlich bestehenden Anspruch ausgegangen ist (s. Stellungnahme des Bundesministeriums für Gesundheit vom 11. Mai 2009, Bl. 115 der Prozessakte).

Die pauschale Vergütung der Pflegekasse gemäß § 43 a SGB XI zur Abgeltung der Pflegeleistungen und der medizinischen Behandlungspflege, die den Einrichtungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen gezahlt wird, führt nicht zu einem Ausschluss des Anspruchs. Dies gilt, wie das Sozialgericht zutreffend herausgearbeitet hat, nur für Leistungen nach dem SGB XI und nicht für Leistungen der häuslichen Krankenpflege der Krankenkasse nach dem SGB V, wenn die übrigen Voraussetzungen des § 37 Abs. 2 SGB V vorliegen (BSG vom 1. September 2005 – B 1 KR 19/04 R, SozR 4-2500 § 37 Nr.5). Gegen eine Abgeltung der Leistungen nach dem SGB V spricht auch die niedrige Pauschale von 256 EUR, die nicht überschritten werden darf.

Auch aus den HKP-Richtlinien ergibt sich, dass der Anspruch auf häusliche Krankenpflege in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe maßgeblich davon abhängt, ob der Einrichtungsträger verpflichtet ist, Behandlungspflege zu erbringen (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 9. Juli 2008 – L 16 B 32/08 KR ER - Juris). Der gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen ist nach § 37 Abs. 6 ermächtigt, in Richtlinien nach § 92 SGB V festzulegen, an welchen Orten und in welchen Fällen Leistungen nach den Absätzen 1 und 2 des § 37 SGB V auch außerhalb des Haushalts und der Familie des Versicherten erbracht werden können. Gemäß Ziffer I. 6. unter "Grundlagen" heißt es in den Häusliche- Krankenpflege- Richtlinien:

"Für die Zeit des Aufenthalts in Einrichtungen, in denen nach den gesetzlichen Bestimmungen Anspruch auf die Erbringung von Behandlungspflege durch die Einrichtungen besteht (z. B. Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen, Hospize, Pflegeheimen) kann häusliche Krankenpflege nicht verordnet werden. Ob ein solcher Anspruch besteht, ist im Einzelfall durch die Krankenkasse zu prüfen."

Aus der Ausschlussregelung ergibt sich, dass eine Einrichtung der stationären Behindertenhilfe jedenfalls dann als "geeigneter Ort" angesehen werden kann, wenn die Einrichtung nicht verpflichtet ist, selbst Leistungen der Behandlungspflege zu erbringen. Denn nur für die Zeit des Aufenthalts in Einrichtungen, in denen nach den gesetzlichen Bestimmungen Anspruch auf die Erbringung von Behandlungspflege durch die Einrichtungen besteht, kann häusliche Krankenpflege nicht verordnet werden. Das bedeutet, dass grundsätzlich allein der Aufenthalt in stationären Einrichtungen dem Anspruch nicht entgegensteht, sondern nur der Umstand, dass ein Anspruch auf Behandlungspflege gegen den Träger der Einrichtung besteht. Das wird exemplarisch bei Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtung, Hospizen und Pflegeheimen angenommen. Sofern schon der Aufenthalt in "Einrichtungen" zu einem Ausschluss führen würde, wäre es überflüssig gewesen auf einen möglichen Anspruch auf die Erbringung von Behandlungspflege abzustellen. Es hätte für einen Ausschluss ausgereicht, auf den stationären Aufenthalt in einer Einrichtung abzustellen. Folgerichtig ist nach Ziffer I. 6. Satz 2 der Richtlinien im Einzelfall durch die Krankenkasse zu prüfen, ob ein solcher Anspruch besteht. Gemeint ist hiermit die Prüfung, ob in der Einrichtung ein Anspruch auf Behandlungspflege besteht.

Wenn man berücksichtigt, dass nach dem gesetzlichen Auftrag gerade durch den gemeinsamen Bundesausschuss festgelegt werden sollte, an welchen Orten die Leistungen erbracht werden können, ist es sachgerecht, im Wege der Auslegung aus der Ausschlussregelung ein positives Abgrenzungskriterium abzuleiten. Deshalb ist der Umkehrschluss, dass Einrichtungen, in denen kein Anspruch auf Behandlungspflege besteht, grundsätzlich geeignet sind, naheliegend. Für diese Auslegung spricht auch, dass das Bundesministerium der Gesundheit (BMG) die Richtlinie nur unter der Voraussetzung genehmigt hat, dass die ursprünglich geplante Aufnahme der Behinderteneinrichtungen im Klammerzusatz gestrichen wurde (Beanstandung und Auflage des Beschlusses vom 17. Januar 2008 des gemeinsamen Bundesausschusses durch das BMG am 20. März 2008). Das bedeutet, dass diese Einrichtungen gerade nicht ausgeschlossen werden sollten, wenn durch den Aufenthalt kein Anspruch auf Leistungen der Behandlungspflege gegen den Träger begründet wird. Im Auflagenbeschluss des BMG vom 20. März 2008 wird hervorgehoben, dass es im Einzelfall darauf ankomme, dass ein Anspruch auf Leistungen der Behandlungspflege außerhalb der Regelung des § 37 SGB V besteht.

Die so verstandene Auslegung der Richtlinien mit Einbeziehung der stationären Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe ohne Anspruch auf Behandlungspflege steht wie bereits dargelegt, in Einklang mit der gesetzlichen Regelung und Ermächtigungsgrundlage des § 37 Abs. 2 und 6 SGB V.

Vorliegend hat der Antragsteller keinen Anspruch auf Gewährung von Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege gegenüber dem Einrichtungsträger, der Beigeladenen zu 2., nicht. Weder aus dem Wohn- und Rehabilitationsvertrag vom 15. Oktober 2007 noch aus der Vereinbarung nach § 75 Abs. 3 SGB XII zwischen der Beigeladenen zu 1. und zu 2. nebst der Anlage zur Leistungsvereinbarung lässt sich herleiten, dass die Einrichtung derartige Leistungen zu erbringen hat. Die Anlage 1 enthält unter Punkt 4 – LB 2 – Hilfen zum Bereich Wohnen und Selbstbestimmung, 2.10 lediglich Hilfen bei den "Inanspruchnahmen sozialer Dienstleistungen und Rechte sowie medizinischer Hilfen". Das bedeutet nicht, dass diese Leistungen selbst erbracht werden, sondern nur, dass Hilfe geleistet wird, um diese medizinischen Leistungen zu erhalten. § 55 SGB XII, wonach für Behinderte in Einrichtungen der Behindertenhilfe auch Pflegeleistungen erbracht werden, betrifft nur Leistungen nach dem SGB XI und nicht Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach dem SGB V (vgl. Ausführungen zu § 43a SGB XI).

Die weiteren Voraussetzungen des § 37 Abs. 2 SGB V für die Gewährung von häuslicher Krankenpflege liegen für die Insulininjektionen vor. Insoweit und hinsichtlich des Vorliegens eines Anordnungsgrundes wird entsprechend § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts im Beschluss vom 12. Mai 2009 verwiesen.

Die Antragsgegnerin ist auch verpflichtet, die Blutzuckermessungen gemäß der ärztlichen Verordnung als Sachleistung zu gewähren. Die Einwände der Antragsgegnerin führen zu keinem anderen Ergebnis. Zwar ist es zutreffend, dass nach den Häuslichen Krankenpflege-Richtlinien die Blutzuckermessung nur unter bestimmten Voraussetzungen und nur für eine Dauer bis zu vier Wochen verordnet werden kann. Das ist nur bei der Erst- und Neueinstellung eines Diabetes und bei der Fortsetzung der sogenannten "Intensivierten Insulintherapie" möglich. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass im Einzelfall routinemäßige Dauermessungen für einen gewissen Zeitraum auch bei der "konventionellen Insulintherapie" angezeigt sein können (vgl. BSG vom 26. Januar 2006 – B 3 KR 4/05 R, SozR 4-2500 § 37 Nr. 7). Ob die Richtlinien vorliegend zum Ausschluss der verordneten Blutzuckermessungen führen, kann im Rahmen des Eilverfahrens nicht abschließend beurteilt werden. Hierzu sind weitere Ermittlungen im Hauptsacheverfahren (Stellungnahmen des verordnenden Arztes, des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung, ggf. Einholung eines Sachverständigengutachtens) erforderlich. Angesichts des offenen Verfahrensausgangs führt die gebotene Folgenabwägung hier zu einer Verpflichtung der Antragsgegnerin. Ohne die täglichen Blutzuckerkontrollen besteht die Gefahr, dass eine Unterzuckung nicht rechtzeitig erkannt wird und schwerwiegende gesundheitliche, möglicherweise irreparable Gesundheitsschäden eintreten können. Nach dem bisherigen Sachstand kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Antragstellerin die Messungen selbständig durchführen kann. Denn nach den vorliegenden Verordnungen leidet die Antragstellerin an einer schizophrenen Psychose und es ist zumindest unklar, ob die Messungen von ihr in der erforderlichen Regelmäßigkeit vorgenommen werden können. Die drohenden finanziellen Nachteile, die für die Antragsgegnerin im Fall einer vorläufigen Gewährung der Leistungen eintreten können, müssen gegenüber den drohenden gesundheitlichen Gefahren für die Antragstellerin im Fall einer Ablehnung zurücktreten.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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