Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 58 AS 2548/07
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 5 AS 60/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rückforderung einer Überzahlung in Höhe von 1.078,- Euro wegen der Nichtberücksichtigung von Kindergeld in Höhe von monatlich 154,- Euro für den am XXXXX 1995 geborenen Kläger im Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Januar 2007.
Am 4. Oktober 2004 beantragte der Vater des Klägers Leistungen der Grundsicherung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – SGB II – für sich und seine mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebende Ehefrau und seinen Sohn, dem am XXXXX 1995 geborenen Kläger. Die Leistungen wurden ab dem 1. Januar 2005 auch gewährt, und zwar unter Berücksichtigung des für den Kläger gezahlten Kindergeldes in Höhe von 154,- Euro im Monat.
Am XXXXX 2006 wurde der Bruder des Klägers geboren. Auch für ihn wurde Kindergeld bewilligt, was gegenüber dem Beklagten auch angezeigt wurde.
Mit den mehrere Seiten umfassenden Bescheiden nebst jeweils in der Anlage zum Teil tabellarisch abgefassten Berechnungsbögen vom 4. Mai 2006 und vom 13. Oktober 2006 gewährte der Beklagte der seit dem 4. April 2006 nun auch den Bruder des Klägers umfassenden Bedarfsgemeinschaft Leistungen für die Bewilligungsabschnitte vom 1. April 2006 bis zum 31. Juli 2006 und vom 1. August 2006 bis zum 31. Januar 2007. Dabei wurde das für den Kläger bezogene Kindergeld, anders als dasjenige seines Bruders, jeweils nicht als Einkommen berücksichtigt.
Am 18. Januar 2007 hörte der Beklagte den Vater des Klägers zur beabsichtigten Rückforderung von Leistungen an. Der Beklagte führte aus, seit dem 1. Juli 2005 sei aufgrund eines Fehlers Arbeitslosengeld II in Höhe von monatlich 1.283,89 Euro bewilligt worden. Nach den Bestimmungen des SGB II stünden allerdings nur 1.129,89 Euro monatlich zu, da das Kindergeld für den Kläger nicht berücksichtigt worden sei. Der Vater des Klägers habe die Überzahlung zwar nicht verursacht. Er hätte jedoch erkennen können, dass die Voraussetzungen für die Leistungen nicht vorgelegen haben. Es bestehe Gelegenheit zur Äußerung.
Mit Schreiben vom 23. Januar 2007 nahm der Vater des Klägers hierzu Stellung. Er teilte mit, dass er nicht erkannt habe und auch nicht habe erkennen können, dass es zu einer Überzahlung gekommen sei. Die Berechnung des Anspruchs sei ihm immer stimmig vorgekommen. Da er seinen Mitwirkungspflichten stets vollumfänglich nachgekommen sei und alle Unterlagen, insbesondere auch die Bescheide über das Kindergeld, unverzüglich eingereicht habe, sei er immer davon ausgegangen, dass die Berechnungen korrekt gewesen seien. Die mitgeteilte Überzahlung sei nicht so hoch, dass sie einem Laien hätte auffallen müssen. Sie sei auch den Mitarbeitern, die täglich mit der Materie befasst seien, nicht aufgefallen.
Mit Bescheid vom 19. Februar 2007 hob der Beklagte gegenüber dem Vater des Klägers die Bewilligungsbescheide vom 12. August 2005. 15. Februar 2006, 4. Mai 2006 und 13. Oktober 2006 für den Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Januar 2007 jeweils teilweise in Höhe von monatlich 154,- Euro auf und forderte, jedoch ohne Nennung eines konkreten Betrages, die Erstattung der zu Unrecht erbrachten Leistungen.
Hiergegen legte der Vater des Klägers Widerspruch ein.
Am 8. Oktober 2007 erließ der Beklagte einen weiteren Rücknahme- und Erstattungs-bescheid für den Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Januar 2007. Er führte aus, die Bescheide vom 4. Mai 2006 und 13. Oktober 2006 seien teilweise in Höhe von 1.078,- Euro aufzuheben. Der Bescheid gehe an den Vater des Klägers als sein gesetzlicher Vertreter und sei gem. § 86 Sozialgerichtsgesetz – SGG – Gegenstand des Widerspruchsverfahrens.
Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 2007 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Er führte im Wesentlichen aus, die teilweise Rücknahme der Bewilligung sei rechtmäßig. Der Vater des Klägers habe leicht erkennen können, dass das Kindergeld nicht auf das Sozialgeld des Klägers angerechnet worden sei. Sollte er gemeint haben, Leistungen ohne Anrechnung des Kindergeldes beanspruchen zu können, habe er die gebotene Sorgfalt in hohem Maße verletzt.
Hiergegen hat der Kläger, vertreten durch seinen Vater, am 16. November 2007 Klage vor dem Sozialgericht Hamburg erhoben.
Nach Anhörung der Eltern des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 18. April 2008 hat das Sozialgericht mit Urteil vom gleichen Tage der Klage stattgegeben und den Bescheid vom 19. Februar 2007 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 18. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2007 aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Rücknahmevoraussetzungen des § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB X – nicht gegeben seien. Zwar seien die Bewilligungsbescheide rechtswidrig gewesen, da das Kindergeld für den Kläger nicht bedarfsmindernd als Einkommen berücksichtigt worden sei. Dem Kläger stehe aber Vertrauensschutz zu. Dabei sei für das Kennen bzw. Kennenmüssen der Rechtswidrigkeit der Verwaltungsakte auf die Eltern des Klägers als seine gesetzlichen Vertreter abzustellen. Diese hätten übereinstimmend erklärt, dass der Vater sich hauptsächlich um die Leistungsangelegenheiten gekümmert habe, worin eine Verletzung der Sorgfaltspflicht nicht gesehen werden könne. Dem Vater des Klägers sei grobe Fahrlässigkeit nicht vorzuwerfen hinsichtlich der Unkenntnis bezüglich der Rechtswidrigkeit der Bewilligungen. Der Fehler sei nicht augenfällig gewesen. Die Höhe der bewilligten Leistungen in dem fraglichen Zeitraum sei durch die Geburt des Bruders des Klägers und den Mehrbedarf der werdenden Mutter Schwankungen unterworfen gewesen seien. Auch aus den den Bewilligungsbescheiden anliegenden Berechnungsbögen sei die Nichtanrechnung des Kindergeldes ohne weiteres nicht erkennbar gewesen. Es seien zwölf Tabellen dargestellt gewesen, in denen pro Bescheid an zwei Stellen Eintragungen "Kindergeld Einkommen 0,00 EUR" enthalten gewesen seien. Es widerspräche dem Grundgedanken des § 45 SGB X, eine Obliegenheit des Adressaten des Bescheides zur eingehenden Prüfung zu sehen und so eine Überwälzung des Risikos eines Amtsverschuldens auf den Leistungsempfänger zu bewirken. Darüber hinaus ergäben sich Zweifel, ob das Erkennen der betreffenden Tabelleneintragung als auffällig auch dazu geführt hätte, den Schluss der Rechtswidrigkeit daraus zu ziehen. Denkbar wäre auch gewesen, dass die Anrechnung an anderer Stelle des Bescheides erfolgen oder dass aufgrund einer entsprechenden Regelung das Kindergeld nur für ein Kind angerechnet würde.
Mit der am 7. Juli 2008 eingelegten Berufung macht der Beklagte geltend, dass er die Ansicht des Sozialgerichts nicht teile. Es sei von grober Fahrlässigkeit auszugehen, denn der Vater des Klägers hätte ohne weiteres erkennen können, dass für seinen Sohn eine Anrechnung des Kindergeldes nicht erfolge. Bis zur Geburt des Bruders des Klägers sei die Anrechnung des Kindergeldes des Klägers vorgenommen worden. Der Vater habe nicht davon ausgehen können, dass mit der Geburt des zweiten Kindes die Anrechnung des Kindergeldes auf den Anspruch des Sozialgeldes des Klägers entfalle. Auch wenn die Anrechnung der Einkünfte nicht im Verfügungssatz der Bewilligungsbescheide enthalten, sondern lediglich in den Tabellen dargestellt gewesen sei, so ergebe sich aus der betreffenden Spalte der jeweiligen Tabelle für den Kläger zweifelsfrei jeweils der Wert "0,00 EUR", obwohl von dem Bezug des Kindergeldes Kenntnis bestanden habe.
Der Berufungskläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 18.04.2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Berufungsbeklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger bezieht sich auf sein Vorbringen in dem sozialgerichtlichen Verfahren und führt aus, dass die Bescheinigungen über den Bezug von Kindergeld dem Beklagten vorgelegt worden seien. Bei der Kontrolle der Bewilligungsbescheide sei der Fehler nicht aufgefallen. Die nicht korrekte Berechnung durch den Beklagten könne ihm nicht angelastet werden.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung hat keinen Erfolg.
I. Sie ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht erhoben (§ 151 SGG).
II. Die Berufung ist aber unbegründet. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts vom 18. April 2008 ist rechtmäßig; der Aufhebungsbescheid vom 19. Februar 2007 sowie der Änderungsbescheid vom 8. Oktober 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2007 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.
Eine Rücknahme der Leistungsbewilligung kann nur nach Maßgabe des § 45 SGB X ergehen. Denn es lagen mit den Bewilligungsbescheiden begünstigende Bescheide vor, die infolge der Nichtanrechnung des für den Kläger bezogenen Kindergeldes nach § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II rechtswidrig waren.
Der Kläger bzw. seine gesetzlichen Vertreter haben aber auf den Bestand der Bewilligung vertraut; ihr Vertrauen ist nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X auch schutzwürdig, da sie die erbrachten Leistungen ganz offenbar verbraucht haben. Insoweit ist die Aufhebung nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X unzulässig.
Ein Ausschluss des Vertrauensschutzes nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X kommt aus den vom Sozialgericht angeführten Gründen nicht in Betracht. Denn dass die Eltern des Klägers, auf die hier als seine gesetzlichen Vertreter abzustellen ist, die Rechtswidrigkeit der Bewilligung infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannten, kann nicht angenommen werden. Grobe Fahrlässigkeit liegt nach dem Gesetz nur vor, wenn die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wurde. Das Gesetz trägt damit dem Umstand Rechnung, dass in dieser Fallgruppe die Angaben des Betroffenen zutreffend waren und die Rechtswidrigkeit des begünstigenden Bescheides mithin auf Amtsverschulden beruht. Eine Verlagerung des Risikos unrichtiger Bescheidung auf den Begünstigten erscheint nur dann als verhältnismäßig, wenn er einfachste und naheliegende Überlegungen außer Acht lässt, also an seinem individuellen Verständnishorizont gemessen augenfällige Fehler übersieht (zu allem Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 45 Rn. 54 ff. m.w.N. aus der Rechtsprechung von BSG und BVerwG). Dabei trifft den Begünstigten, der zutreffende Angaben macht, keine Verpflichtung, Bewilligungsbescheide des Näheren auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Allerdings sind die Beteiligten im Sozialrechtsverhältnis verpflichtet, sich gegenseitig vor Schaden zu bewahren. Diesem Grundsatz entspricht es, dass der Begünstigte gehalten ist, den Bescheid zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen (BSG, Urt. v. 2.2.2001 – B 11 AL 21/00 R).
Nach diesem Maßstab dürfte zunächst der Mutter des Klägers kein Vorwurf zu machen sein, weil sie die Leistungsangelegenheiten ihrem Ehemann überließ. Das dürfte in einer Ehe und bei gemeinsamem Sorgerecht für den Kläger eine angemessene Form der Arbeitsteilung sein; es ist auch nicht erkennbar, dass die Mutter des Klägers deutlich bessere Verständnismöglichkeiten besitzt, die ein Überlassen dieser Angelegenheiten an ihren Ehemann offenkundig unvernünftig oder leichtsinnig erscheinen lassen.
Auch dem Vater des Klägers kann grobe Fahrlässigkeit nicht vorgeworfen werden. Richtig hat das Sozialgericht hervorgehoben, dass sich aus dem Verfügungsteil der Bescheide die Rechtswidrigkeit der Bewilligung nicht erkennen ließ. Das könnte etwa der Fall sein, wenn der bewilligte Betrag deutlich von dem des Vormonats abweicht, ohne dass sich im Sachverhalt Änderungen ergeben hätten. Das gäbe dem Betroffenen Anlass, bei der Behörde nachzufragen, und würde ihm den Vorwurf grober Fahrlässigkeit eintragen, wenn er dies unterließe. Ein solcher Fall liegt hier indes nicht vor. Der Verfügungssatz der Bewilligungsbescheide fast den monatlichen Zahlbetrag für die Bedarfsgemeinschaft zusammen, ohne dass einzelne Berechnungsbestandteile zu erkennen sind. Zutreffend hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass sich der gesamte der Bedarfsgemeinschaft gewährte konkrete Bewilligungsbetrag nicht als zu hoch gegenüber den vorherigen Bewilligungsabschnitten aufdrängen musste, da wegen des Mehrbedarfs der Mutter des Klägers während der Schwangerschaft und durch die Geburt des Bruders des Klägers die Gesamtsumme sich der Höhe nach von den vorherigen Bewilligungsabschnitten unterscheiden musste.
Auch aus dem Begründungsteil der Bescheide, der insbesondere aus den beigefügten Berechnungsbögen besteht, war der Fehler bei dem geforderten, aber auch ausreichenden bloßen Durchlesen und Kenntnisnehmen nicht im Sinne einer groben Fahrlässigkeit zu erkennen. Der Begründungsteil der Bescheide war vielmehr derartig umfangreich und mit einer so großen Vielzahl von Zahlenangaben versehen, dass eine Augenfälligkeit des Fehlers für die Eltern des Klägers schon deshalb ausscheidet. Auch wenn das Kindergeld für den Kläger mit "0,00 EUR" ausdrücklich und fehlerhaft ausgeworfen wurde, springt dies doch dem Leser, der nicht gezielt diese Einzelangabe suchen und überprüfen will, unter den vielen weiteren Angaben und Zahlen nicht gleichsam ins Auge. Selbst bei näherer Durchsicht der Bescheide – die nicht rechtlich gefordert ist –, wie sie der Vater des Klägers seinen Angaben zufolge vorgenommen hat, sprang der Fehler nicht ins Auge. Es ist zudem zu berücksichtigen, dass den jeweiligen Spalten, in denen konkret die Eintragungen "0,00 EUR" als Einkommen bei dem Kläger dargestellt sind, ein Seitenumbruch vorangeht, so dass entweder die Überschrift "Zu berücksichtigendes monatliches Einkommen" oder die Überschrift "Zu berücksichtigendes monatliches Einkommen" mit der Namensspalte noch auf der vorherigen Seiten verbleiben. Im vorliegenden Fall müssen also die Spalten und Namenszeilen der Vorderseite über die entsprechende konkrete Eintragung auf der folgenden Seite gedacht werden, um das Gemeinte klar zum Ausdruck zu bringen. Es sind daher ernstliche Zweifel angebracht, ob einem unerfahrenen Laien das fehlende anzurechnende Einkommen für den Kläger ins Auge springen würde (vgl. SG Stade, Urteil vom 3.12.2008, S 28 AS 414/08). Überdies begann der erste auch den Bruder des Klägers berücksichtigende, immerhin achtseitige Bewilligungsbescheid vom 4. Mai 2006 mit der anteiligen Anrechnung des für den Bruder des Klägers seit seiner Geburt gewährten Kindergeldes in Höhe von 138,60 Euro. Der möglicherweise leicht als Kindergeld wiederzuerkennende Betrag von 154,- Euro taucht in diesem Bescheid also nicht auf, so dass dem Vater des Klägers durchaus der Eindruck entstanden sein mag, die Anrechnung des Kindergeldes mit einem weiteren Kind folge eigenen, ihm nicht zugänglichen Regeln. Wenn dann für die (ganzen) Folgemonate nur 154,- Euro angerechnet wurden, wird das auch deshalb nicht mehr als Fehler im Sinne des Außerachtlassens einfachster und naheliegender Überlegungen augenfällig gewesen sein.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision ist nicht nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen. Es geht hier allein um die Einzelfallfrage des Vorliegens grober Fahrlässigkeit.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rückforderung einer Überzahlung in Höhe von 1.078,- Euro wegen der Nichtberücksichtigung von Kindergeld in Höhe von monatlich 154,- Euro für den am XXXXX 1995 geborenen Kläger im Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Januar 2007.
Am 4. Oktober 2004 beantragte der Vater des Klägers Leistungen der Grundsicherung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – SGB II – für sich und seine mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebende Ehefrau und seinen Sohn, dem am XXXXX 1995 geborenen Kläger. Die Leistungen wurden ab dem 1. Januar 2005 auch gewährt, und zwar unter Berücksichtigung des für den Kläger gezahlten Kindergeldes in Höhe von 154,- Euro im Monat.
Am XXXXX 2006 wurde der Bruder des Klägers geboren. Auch für ihn wurde Kindergeld bewilligt, was gegenüber dem Beklagten auch angezeigt wurde.
Mit den mehrere Seiten umfassenden Bescheiden nebst jeweils in der Anlage zum Teil tabellarisch abgefassten Berechnungsbögen vom 4. Mai 2006 und vom 13. Oktober 2006 gewährte der Beklagte der seit dem 4. April 2006 nun auch den Bruder des Klägers umfassenden Bedarfsgemeinschaft Leistungen für die Bewilligungsabschnitte vom 1. April 2006 bis zum 31. Juli 2006 und vom 1. August 2006 bis zum 31. Januar 2007. Dabei wurde das für den Kläger bezogene Kindergeld, anders als dasjenige seines Bruders, jeweils nicht als Einkommen berücksichtigt.
Am 18. Januar 2007 hörte der Beklagte den Vater des Klägers zur beabsichtigten Rückforderung von Leistungen an. Der Beklagte führte aus, seit dem 1. Juli 2005 sei aufgrund eines Fehlers Arbeitslosengeld II in Höhe von monatlich 1.283,89 Euro bewilligt worden. Nach den Bestimmungen des SGB II stünden allerdings nur 1.129,89 Euro monatlich zu, da das Kindergeld für den Kläger nicht berücksichtigt worden sei. Der Vater des Klägers habe die Überzahlung zwar nicht verursacht. Er hätte jedoch erkennen können, dass die Voraussetzungen für die Leistungen nicht vorgelegen haben. Es bestehe Gelegenheit zur Äußerung.
Mit Schreiben vom 23. Januar 2007 nahm der Vater des Klägers hierzu Stellung. Er teilte mit, dass er nicht erkannt habe und auch nicht habe erkennen können, dass es zu einer Überzahlung gekommen sei. Die Berechnung des Anspruchs sei ihm immer stimmig vorgekommen. Da er seinen Mitwirkungspflichten stets vollumfänglich nachgekommen sei und alle Unterlagen, insbesondere auch die Bescheide über das Kindergeld, unverzüglich eingereicht habe, sei er immer davon ausgegangen, dass die Berechnungen korrekt gewesen seien. Die mitgeteilte Überzahlung sei nicht so hoch, dass sie einem Laien hätte auffallen müssen. Sie sei auch den Mitarbeitern, die täglich mit der Materie befasst seien, nicht aufgefallen.
Mit Bescheid vom 19. Februar 2007 hob der Beklagte gegenüber dem Vater des Klägers die Bewilligungsbescheide vom 12. August 2005. 15. Februar 2006, 4. Mai 2006 und 13. Oktober 2006 für den Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Januar 2007 jeweils teilweise in Höhe von monatlich 154,- Euro auf und forderte, jedoch ohne Nennung eines konkreten Betrages, die Erstattung der zu Unrecht erbrachten Leistungen.
Hiergegen legte der Vater des Klägers Widerspruch ein.
Am 8. Oktober 2007 erließ der Beklagte einen weiteren Rücknahme- und Erstattungs-bescheid für den Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Januar 2007. Er führte aus, die Bescheide vom 4. Mai 2006 und 13. Oktober 2006 seien teilweise in Höhe von 1.078,- Euro aufzuheben. Der Bescheid gehe an den Vater des Klägers als sein gesetzlicher Vertreter und sei gem. § 86 Sozialgerichtsgesetz – SGG – Gegenstand des Widerspruchsverfahrens.
Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 2007 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Er führte im Wesentlichen aus, die teilweise Rücknahme der Bewilligung sei rechtmäßig. Der Vater des Klägers habe leicht erkennen können, dass das Kindergeld nicht auf das Sozialgeld des Klägers angerechnet worden sei. Sollte er gemeint haben, Leistungen ohne Anrechnung des Kindergeldes beanspruchen zu können, habe er die gebotene Sorgfalt in hohem Maße verletzt.
Hiergegen hat der Kläger, vertreten durch seinen Vater, am 16. November 2007 Klage vor dem Sozialgericht Hamburg erhoben.
Nach Anhörung der Eltern des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 18. April 2008 hat das Sozialgericht mit Urteil vom gleichen Tage der Klage stattgegeben und den Bescheid vom 19. Februar 2007 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 18. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2007 aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Rücknahmevoraussetzungen des § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB X – nicht gegeben seien. Zwar seien die Bewilligungsbescheide rechtswidrig gewesen, da das Kindergeld für den Kläger nicht bedarfsmindernd als Einkommen berücksichtigt worden sei. Dem Kläger stehe aber Vertrauensschutz zu. Dabei sei für das Kennen bzw. Kennenmüssen der Rechtswidrigkeit der Verwaltungsakte auf die Eltern des Klägers als seine gesetzlichen Vertreter abzustellen. Diese hätten übereinstimmend erklärt, dass der Vater sich hauptsächlich um die Leistungsangelegenheiten gekümmert habe, worin eine Verletzung der Sorgfaltspflicht nicht gesehen werden könne. Dem Vater des Klägers sei grobe Fahrlässigkeit nicht vorzuwerfen hinsichtlich der Unkenntnis bezüglich der Rechtswidrigkeit der Bewilligungen. Der Fehler sei nicht augenfällig gewesen. Die Höhe der bewilligten Leistungen in dem fraglichen Zeitraum sei durch die Geburt des Bruders des Klägers und den Mehrbedarf der werdenden Mutter Schwankungen unterworfen gewesen seien. Auch aus den den Bewilligungsbescheiden anliegenden Berechnungsbögen sei die Nichtanrechnung des Kindergeldes ohne weiteres nicht erkennbar gewesen. Es seien zwölf Tabellen dargestellt gewesen, in denen pro Bescheid an zwei Stellen Eintragungen "Kindergeld Einkommen 0,00 EUR" enthalten gewesen seien. Es widerspräche dem Grundgedanken des § 45 SGB X, eine Obliegenheit des Adressaten des Bescheides zur eingehenden Prüfung zu sehen und so eine Überwälzung des Risikos eines Amtsverschuldens auf den Leistungsempfänger zu bewirken. Darüber hinaus ergäben sich Zweifel, ob das Erkennen der betreffenden Tabelleneintragung als auffällig auch dazu geführt hätte, den Schluss der Rechtswidrigkeit daraus zu ziehen. Denkbar wäre auch gewesen, dass die Anrechnung an anderer Stelle des Bescheides erfolgen oder dass aufgrund einer entsprechenden Regelung das Kindergeld nur für ein Kind angerechnet würde.
Mit der am 7. Juli 2008 eingelegten Berufung macht der Beklagte geltend, dass er die Ansicht des Sozialgerichts nicht teile. Es sei von grober Fahrlässigkeit auszugehen, denn der Vater des Klägers hätte ohne weiteres erkennen können, dass für seinen Sohn eine Anrechnung des Kindergeldes nicht erfolge. Bis zur Geburt des Bruders des Klägers sei die Anrechnung des Kindergeldes des Klägers vorgenommen worden. Der Vater habe nicht davon ausgehen können, dass mit der Geburt des zweiten Kindes die Anrechnung des Kindergeldes auf den Anspruch des Sozialgeldes des Klägers entfalle. Auch wenn die Anrechnung der Einkünfte nicht im Verfügungssatz der Bewilligungsbescheide enthalten, sondern lediglich in den Tabellen dargestellt gewesen sei, so ergebe sich aus der betreffenden Spalte der jeweiligen Tabelle für den Kläger zweifelsfrei jeweils der Wert "0,00 EUR", obwohl von dem Bezug des Kindergeldes Kenntnis bestanden habe.
Der Berufungskläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 18.04.2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Berufungsbeklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger bezieht sich auf sein Vorbringen in dem sozialgerichtlichen Verfahren und führt aus, dass die Bescheinigungen über den Bezug von Kindergeld dem Beklagten vorgelegt worden seien. Bei der Kontrolle der Bewilligungsbescheide sei der Fehler nicht aufgefallen. Die nicht korrekte Berechnung durch den Beklagten könne ihm nicht angelastet werden.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung hat keinen Erfolg.
I. Sie ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht erhoben (§ 151 SGG).
II. Die Berufung ist aber unbegründet. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts vom 18. April 2008 ist rechtmäßig; der Aufhebungsbescheid vom 19. Februar 2007 sowie der Änderungsbescheid vom 8. Oktober 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2007 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.
Eine Rücknahme der Leistungsbewilligung kann nur nach Maßgabe des § 45 SGB X ergehen. Denn es lagen mit den Bewilligungsbescheiden begünstigende Bescheide vor, die infolge der Nichtanrechnung des für den Kläger bezogenen Kindergeldes nach § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II rechtswidrig waren.
Der Kläger bzw. seine gesetzlichen Vertreter haben aber auf den Bestand der Bewilligung vertraut; ihr Vertrauen ist nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X auch schutzwürdig, da sie die erbrachten Leistungen ganz offenbar verbraucht haben. Insoweit ist die Aufhebung nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X unzulässig.
Ein Ausschluss des Vertrauensschutzes nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X kommt aus den vom Sozialgericht angeführten Gründen nicht in Betracht. Denn dass die Eltern des Klägers, auf die hier als seine gesetzlichen Vertreter abzustellen ist, die Rechtswidrigkeit der Bewilligung infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannten, kann nicht angenommen werden. Grobe Fahrlässigkeit liegt nach dem Gesetz nur vor, wenn die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wurde. Das Gesetz trägt damit dem Umstand Rechnung, dass in dieser Fallgruppe die Angaben des Betroffenen zutreffend waren und die Rechtswidrigkeit des begünstigenden Bescheides mithin auf Amtsverschulden beruht. Eine Verlagerung des Risikos unrichtiger Bescheidung auf den Begünstigten erscheint nur dann als verhältnismäßig, wenn er einfachste und naheliegende Überlegungen außer Acht lässt, also an seinem individuellen Verständnishorizont gemessen augenfällige Fehler übersieht (zu allem Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 45 Rn. 54 ff. m.w.N. aus der Rechtsprechung von BSG und BVerwG). Dabei trifft den Begünstigten, der zutreffende Angaben macht, keine Verpflichtung, Bewilligungsbescheide des Näheren auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Allerdings sind die Beteiligten im Sozialrechtsverhältnis verpflichtet, sich gegenseitig vor Schaden zu bewahren. Diesem Grundsatz entspricht es, dass der Begünstigte gehalten ist, den Bescheid zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen (BSG, Urt. v. 2.2.2001 – B 11 AL 21/00 R).
Nach diesem Maßstab dürfte zunächst der Mutter des Klägers kein Vorwurf zu machen sein, weil sie die Leistungsangelegenheiten ihrem Ehemann überließ. Das dürfte in einer Ehe und bei gemeinsamem Sorgerecht für den Kläger eine angemessene Form der Arbeitsteilung sein; es ist auch nicht erkennbar, dass die Mutter des Klägers deutlich bessere Verständnismöglichkeiten besitzt, die ein Überlassen dieser Angelegenheiten an ihren Ehemann offenkundig unvernünftig oder leichtsinnig erscheinen lassen.
Auch dem Vater des Klägers kann grobe Fahrlässigkeit nicht vorgeworfen werden. Richtig hat das Sozialgericht hervorgehoben, dass sich aus dem Verfügungsteil der Bescheide die Rechtswidrigkeit der Bewilligung nicht erkennen ließ. Das könnte etwa der Fall sein, wenn der bewilligte Betrag deutlich von dem des Vormonats abweicht, ohne dass sich im Sachverhalt Änderungen ergeben hätten. Das gäbe dem Betroffenen Anlass, bei der Behörde nachzufragen, und würde ihm den Vorwurf grober Fahrlässigkeit eintragen, wenn er dies unterließe. Ein solcher Fall liegt hier indes nicht vor. Der Verfügungssatz der Bewilligungsbescheide fast den monatlichen Zahlbetrag für die Bedarfsgemeinschaft zusammen, ohne dass einzelne Berechnungsbestandteile zu erkennen sind. Zutreffend hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass sich der gesamte der Bedarfsgemeinschaft gewährte konkrete Bewilligungsbetrag nicht als zu hoch gegenüber den vorherigen Bewilligungsabschnitten aufdrängen musste, da wegen des Mehrbedarfs der Mutter des Klägers während der Schwangerschaft und durch die Geburt des Bruders des Klägers die Gesamtsumme sich der Höhe nach von den vorherigen Bewilligungsabschnitten unterscheiden musste.
Auch aus dem Begründungsteil der Bescheide, der insbesondere aus den beigefügten Berechnungsbögen besteht, war der Fehler bei dem geforderten, aber auch ausreichenden bloßen Durchlesen und Kenntnisnehmen nicht im Sinne einer groben Fahrlässigkeit zu erkennen. Der Begründungsteil der Bescheide war vielmehr derartig umfangreich und mit einer so großen Vielzahl von Zahlenangaben versehen, dass eine Augenfälligkeit des Fehlers für die Eltern des Klägers schon deshalb ausscheidet. Auch wenn das Kindergeld für den Kläger mit "0,00 EUR" ausdrücklich und fehlerhaft ausgeworfen wurde, springt dies doch dem Leser, der nicht gezielt diese Einzelangabe suchen und überprüfen will, unter den vielen weiteren Angaben und Zahlen nicht gleichsam ins Auge. Selbst bei näherer Durchsicht der Bescheide – die nicht rechtlich gefordert ist –, wie sie der Vater des Klägers seinen Angaben zufolge vorgenommen hat, sprang der Fehler nicht ins Auge. Es ist zudem zu berücksichtigen, dass den jeweiligen Spalten, in denen konkret die Eintragungen "0,00 EUR" als Einkommen bei dem Kläger dargestellt sind, ein Seitenumbruch vorangeht, so dass entweder die Überschrift "Zu berücksichtigendes monatliches Einkommen" oder die Überschrift "Zu berücksichtigendes monatliches Einkommen" mit der Namensspalte noch auf der vorherigen Seiten verbleiben. Im vorliegenden Fall müssen also die Spalten und Namenszeilen der Vorderseite über die entsprechende konkrete Eintragung auf der folgenden Seite gedacht werden, um das Gemeinte klar zum Ausdruck zu bringen. Es sind daher ernstliche Zweifel angebracht, ob einem unerfahrenen Laien das fehlende anzurechnende Einkommen für den Kläger ins Auge springen würde (vgl. SG Stade, Urteil vom 3.12.2008, S 28 AS 414/08). Überdies begann der erste auch den Bruder des Klägers berücksichtigende, immerhin achtseitige Bewilligungsbescheid vom 4. Mai 2006 mit der anteiligen Anrechnung des für den Bruder des Klägers seit seiner Geburt gewährten Kindergeldes in Höhe von 138,60 Euro. Der möglicherweise leicht als Kindergeld wiederzuerkennende Betrag von 154,- Euro taucht in diesem Bescheid also nicht auf, so dass dem Vater des Klägers durchaus der Eindruck entstanden sein mag, die Anrechnung des Kindergeldes mit einem weiteren Kind folge eigenen, ihm nicht zugänglichen Regeln. Wenn dann für die (ganzen) Folgemonate nur 154,- Euro angerechnet wurden, wird das auch deshalb nicht mehr als Fehler im Sinne des Außerachtlassens einfachster und naheliegender Überlegungen augenfällig gewesen sein.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision ist nicht nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen. Es geht hier allein um die Einzelfallfrage des Vorliegens grober Fahrlässigkeit.
Rechtskraft
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