Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 13 AL 503/08
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 2 AL 94/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Beklagten wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor zu 1. des Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 29. November 2010 wie folgt gefasst wird: Unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 3. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 6. August 2008 wird festgestellt, dass seit dem 1. August 2007 Versicherungspflicht nach dem Recht der Arbeitsförderung besteht. 2. Die Beklagte hat der Klägerin auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen. &8195;
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass zwischen ihr und der Beklagten für die Zeit ab 1. August 2007 ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag gemäß § 28a des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches in der bis zum 30. Juni 2008 gültigen Fassung (SGB III) besteht.
Die Klägerin meldete sich am 29. Dezember 2006 zum 1. April 2007 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Zudem beantragte sie am 1. Februar 2007 die Gewährung eines Gründungszuschusses zur Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit am 1. August 2007. In diesem Antrag bestätigte sie den Empfang und die Kenntnisnahme des von der Beklagten herausgegebenen Merkblattes 3 über Vermittlungsdienste und Leistungen. Hierin (Stand Februar 2007) hieß es auf Seite 16: "Damit Ihnen der Schutz der Arbeitslosenversicherung in der Zeit Ihrer selbständigen Tätigkeit erhalten bleibt, können Sie sich freiwillig weiterversichern. Nähere Informationen finden Sie im Hinweisblatt zur freiwilligen Weiterversicherung oder erhalten Sie von der örtlichen Agentur für Arbeit." In den vorherigen Fassungen des Merkblattes fehlte ein entsprechender Hinweis. Die Beklagte bewilligte Arbeitslosengeld ab dem 1. April 2007 für 360 Tagen und sprach mit Bescheid vom 16. Juli 2007 den beantragten Gründungszuschuss ab dem 1. August 2007 zu.
Mit Schreiben vom 19. Mai 2008 beantragte die Klägerin die Begründung eines Versicherungspflichtverhältnisses auf Antrag (freiwillige Weiterversicherung) nach § 28a SGB III. Mit Bescheid vom 3. Juni 2008 und Widerspruchsbescheid vom 6. August 2008 lehnte die Beklagte den Antrag unter Verweis auf § 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III ab. Hiernach müsse der Antrag auf freiwillige Weiterversicherung spätestens innerhalb eines Monats nach Aufnahme der Tätigkeit gestellt werden, die zur freiwilligen Weiterversicherung berechtige. Daran fehle es. Die Klägerin habe die selbstständige Tätigkeit bereits am 1. August 2007 aufgenommen.
Mit ihrer Klage vom 14. August 2008 hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Sie hat vorgetragen, sie habe erst bei einer Beratung am 28. März 2008 von der Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung erfahren. Soweit ihr vorgehalten werde, sie habe sich durch das ihr ausgehändigte Merkblatt 3 informieren können, treffe dies nicht zu, da sie dieses Merkblatt entgegen ihren Angaben im Antrag nicht erhalten habe; auch reiche der dortige Hinweis, der nichts über ggf. einzuhaltende Fristen sage, für eine ordnungsgemäße Belehrung nicht aus.
Das Sozialgericht Hamburg hat mit Urteil vom 29. November 2010 der Klage stattgegeben. Zwischen der Klägerin und der Beklagten bestehe seit dem 1. August 2007 ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag gemäß § 28a SGB III. Die streitgegenständlichen Bescheide seien daher aufzuheben. Zwar habe die Klägerin die Frist des § 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III versäumt und es komme keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) in Betracht. Jedoch sei die Klägerin im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als habe sie die Antragsfrist nicht versäumt. In der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei geklärt, dass das richterrechtliche Institut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs auch neben der gesetzlichen Wiedereinsetzungsregelung in § 27 SGB X (soweit einschlägig) anwendbar sei. Der Herstellungsanspruch erfordere eine Pflichtverletzung eines Sozialleistungsträgers – etwa einer Auskunfts- oder Belehrungspflicht – und einen hierdurch beim Betroffenen hervorgerufenen rechtlichen Nachteil auf dem Gebiet des Sozialrechts; als Rechtsfolge sei der Zustand wiederherzustellen, der ohne die Pflichtverletzung bestehen würde, wobei dies jedoch nur durch eine zulässige Amtshandlung geschehen dürfe. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch greife insbesondere dann, wenn es aufgrund pflichtwidrigen Verhaltens der Behörde zu einer verspäteten Antragstellung gekommen sei bzw. wenn es die Behörde unterlasse, bei konkretem Anlass auf klar zutage liegende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig sei, dass sie ein verständiger Versicherter mutmaßlich nützen würde; dies gelte vor allem bei Gestaltungsmöglichkeiten, die sich aus unmittelbar zuvor in Kraft getretenen gesetzlichen Regelungen ergäben. Diese Voraussetzungen seien vorliegend erfüllt. Die Beklagte habe es unterlassen, die Klägerin anlässlich ihrer Beantragung des Gründungszuschusses am 1. Februar 2007 auf die Möglichkeit der Begründung eines Versicherungspflichtverhältnisses auf Antrag nach § 28a SGB III hinzuweisen und über die besonderen Modalitäten, etwa die rechtzeitige Antragstellung, aufzuklären bzw. zu beraten. Dass sie dies hätte tun müssen, stehe für die Kammer außer Zweifel. Die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit aus der Arbeitslosigkeit und dem Bezug von Arbeitslosengeld heraus sei ein konkreter Anlass, zu dem auf die seit dem 1. Februar 2006 gesetzlich offenstehende und damit klar zutage liegende Gestaltungsmöglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung hätte hingewiesen werden müssen. Die Wahrnehmung dieser Möglichkeit sei für einen Existenzgründer offensichtlich dermaßen zweckmäßig, dass sie ein verständiger Versicherter mutmaßlich nützen würde. Die Beklagte könne schon nicht nachweisen, dass sie der Klägerin anlässlich der Beantragung des Gründungszuschusses am 1. Februar 2007 tatsächlich das Merkblatt 3 mit dem Stand Februar 2007 und damit mit dem Hinweis auf die Möglichkeit der Weiterversicherung ausgehändigt habe. Zudem reiche nach Ansicht der Kammer der entsprechende Hinweis im Merkblatt 3 mit dem Stand Februar 2007 auch nicht aus, da dieser nichts zur bedeutsamen Fristenregel sage.
Die Beklagte stützt ihre am 23. Dezember 2010 eingelegte Berufung auf folgende Argumentationskette: Das Einhalten der Frist des § 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III könne nicht im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs fingiert werden. Zudem könne der Beklagten kein Beratungsversäumnis vorgeworfen werden. Zunächst hat die Beklagte vorgetragen, es sei davon auszugehen, dass die Klägerin bei Antragstellung das Merkblatt 3 mit dem Stand Februar 2007 und damit den entsprechenden Hinweis auf die Möglichkeit der Versicherung nach § 28a SGB III erhalten habe. Nunmehr gesteht die Beklagte zu, dass davon ausgegangen werden müsse, dass der Klägerin am 1. Februar 2007 das Merkblatt 3 mit dem Stand Februar 2007 nicht ausgehändigt worden sei. Schließlich sei nicht erklärbar, warum die Klägerin den Antrag auf Versicherung erst am 19. Mai 2008 gestellt habe, obwohl sie nach ihrem Vortrag bereits am 28. März 2008 von der Möglichkeit einer solchen Versicherung erfahren habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 29. November 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichtes Hamburg für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 11. September 2013, die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten sowie den weiteren Inhalt der Prozessakte nebst Beiakte und der beigezogenen Verwaltungsakten (VA) (2 Bd.) der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts ist nach §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden.
Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet. Zwischen der Klägerin und der Beklagten besteht für die Zeit ab 1. August 2007 ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag gemäß § 28a SGB III. Die streitgegenständlichen Bescheide der Beklagten sind daher rechtswidrig. Dies hat das Sozialgericht im Ergebnis auch zutreffend erkannt. Der Tenor war lediglich im Hinblick darauf neu zu fassen, dass das Versicherungspflichtverhältnis kraft Gesetzes besteht und die Beklagte daher nicht verpflichtet werden musste bzw. konnte, ein entsprechendes Verhältnis zu begründen.
Der Senat nimmt auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils unter Berücksichtigung folgender Ergänzungen Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).
Der Senat ist wie das Sozialgericht der Ansicht, dass der Herstellungsanspruch neben der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X und grundsätzlich auch bei einer Versäumung der Frist des § 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III anwendbar ist (so auch: SG Lüneburg, Urt. v. 17.12.2009 - S 7 AL 39/08; Timme, in: Hauck/Noftz, SGB III, Stand 10/2012, § 28a Rn. 35; Umer, in: Beck´scher Online-Kommentar, SGB III, Stand 12/2012, § 28a Rn. 6). Dies gilt selbst dann, wenn man diese Frist als Ausschlussfrist ansehen wollte. Denn die Anwendbarkeit des Herstellungsanspruches ist auch im Falle einer Ausschlussfrist durch das BSG anerkannt (vgl. Urt. v. 29.09.1987 – 7 RAr 23/86, SozR 4100 § 125 Nr. 3 mwN; dies inzident bejahend auch: BSG, Urt. v. 25.08.1993 - 13 RJ 27/92, SozR 3-1200 § 14 Nr. 9; Urt. v. 19.01.2005 - B 11a/11 AL 11/04 R, juris), worauf die Beklagte selbst in der übersandten Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde vor dem BSG hinweist.
Zutreffend benennt das Sozialgericht die Voraussetzungen des Herstellungsanspruches und bejaht deren Vorliegen. Dabei steht für den Senat fest, dass die Beklagte die Klägerin am 1. Februar 2007 nicht auf die Möglichkeit der Weiterversicherung nach § 28a SGB III hingewiesen hat, obwohl sie hierzu verpflichtet war. Denn nach der Aussage des Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 11. September 2013 muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin am 1. Februar 2007 nicht das Merkblatt 3 mit dem Stand Februar 2007 erhalten hat. Da es neben dem in diesem Merkblatt enthaltenen Hinweis keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass die Klägerin in irgendeiner Weise über die Möglichkeit der Weiterversicherung informiert worden ist, ist damit davon auszugehen, dass die Beklagte ihrer Informationspflicht nicht nachgekommen ist. Es kann daher offen bleiben, ob der im Merkblatt 3 (Stand Februar 2007) enthaltene Hinweis zur Erfüllung der bestehenden Hinweispflicht ausgereicht hätte.
Dass die Beklagte zu einem entsprechenden Hinweis verpflichtet war, steht für den Senat außer Zweifel. Denn es ist anerkannt, dass der Leistungsträger auch über ausdrücklich gestellte Fragen hinaus informieren muss, wenn sich eine Gestaltungsmöglichkeit offensichtlich als zweckmäßig aufdrängt und von jedem verständigen Versicherten hätte genutzt werden können. Auf derartige nahe liegende Gestaltungsmöglichkeiten muss auch hingewiesen werden, wenn unklar ist, ob der Versicherte genügend Mittel hat, die Möglichkeit auch tatsächlich zu nutzen, oder wenn sich der Versicherte trotz rechtskundiger Beratung evident unzweckmäßig verhält oder wenn die ihm erkennbar drohenden Nachteile besonders schwerwiegend sind (vgl. Seewald, in: Kasseler Kommentar, 77. Erg.lfg. 2013, SGB III Rn. 26 mwN). Die Gestaltungsmöglichkeit der Pflichtversicherung auf Antrag nach § 28a SGB III drängt sich – wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat – für einen Arbeitslosen, der sich selbstständig macht, geradezu auf. Zudem sind diese Fälle für die Verwaltung sehr einfach "herauszufiltern", da als konkreten Anlass für einen Hinweis die Stellung eines Antrags auf Gründungszuschuss genommen werden kann. Von daher ist der Vortrag der Klägerin, in dem Gespräch am 28. März 2008 sei sie als erstes danach gefragt worden, ob sie diese Gestaltungsmöglichkeit genutzt habe, plausibel und zeigt, dass bei den Mitarbeitern der Beklagten offenbar auch grundsätzlich ein Problembewusstsein besteht.
Der Senat hat auch schließlich keine Zweifel daran, dass der unterbliebene Hinweis kausal dafür war, dass die Klägerin den Antrag auf Weiterversicherung nicht innerhalb der Frist des § 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III gestellt hat. Die Klägerin hat für den Senat in der mündlichen Verhandlung am 11. September 2013 überzeugend ausgeführt, dass sie bei zutreffender Beratung sofort die Weiterversicherung beantragt hätte. Dass sie erst mit Schreiben vom 19. Mai 2008 die Weiterversicherung beantragt hat, obwohl ihr bereits im Gespräch am 28. März 2008 bekannt wurde, dass die Möglichkeit der Weiterversicherung bestanden habe, die diesbezügliche Antragsfrist jedoch abgelaufen sei, hat die Klägerin plausibel und nachvollziehbar damit erklärt, dass sie zunächst bei anderen Existenzgründern und ihrer Steuerberaterin Erkundigungen darüber einholen musste, ob es überhaupt und – wenn ja – welche Möglichkeiten es gab, dennoch die Weiterversicherung begründen zu können. Dies habe aufgrund des Umstandes, dass sie nebenbei ihre Selbstständigkeit vorangetrieben habe, einige Zeit gedauert. Der Senat hat aufgrund des Verhaltens der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und der von ihr dabei getätigten Aussagen keinerlei Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit und der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass zwischen ihr und der Beklagten für die Zeit ab 1. August 2007 ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag gemäß § 28a des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches in der bis zum 30. Juni 2008 gültigen Fassung (SGB III) besteht.
Die Klägerin meldete sich am 29. Dezember 2006 zum 1. April 2007 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Zudem beantragte sie am 1. Februar 2007 die Gewährung eines Gründungszuschusses zur Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit am 1. August 2007. In diesem Antrag bestätigte sie den Empfang und die Kenntnisnahme des von der Beklagten herausgegebenen Merkblattes 3 über Vermittlungsdienste und Leistungen. Hierin (Stand Februar 2007) hieß es auf Seite 16: "Damit Ihnen der Schutz der Arbeitslosenversicherung in der Zeit Ihrer selbständigen Tätigkeit erhalten bleibt, können Sie sich freiwillig weiterversichern. Nähere Informationen finden Sie im Hinweisblatt zur freiwilligen Weiterversicherung oder erhalten Sie von der örtlichen Agentur für Arbeit." In den vorherigen Fassungen des Merkblattes fehlte ein entsprechender Hinweis. Die Beklagte bewilligte Arbeitslosengeld ab dem 1. April 2007 für 360 Tagen und sprach mit Bescheid vom 16. Juli 2007 den beantragten Gründungszuschuss ab dem 1. August 2007 zu.
Mit Schreiben vom 19. Mai 2008 beantragte die Klägerin die Begründung eines Versicherungspflichtverhältnisses auf Antrag (freiwillige Weiterversicherung) nach § 28a SGB III. Mit Bescheid vom 3. Juni 2008 und Widerspruchsbescheid vom 6. August 2008 lehnte die Beklagte den Antrag unter Verweis auf § 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III ab. Hiernach müsse der Antrag auf freiwillige Weiterversicherung spätestens innerhalb eines Monats nach Aufnahme der Tätigkeit gestellt werden, die zur freiwilligen Weiterversicherung berechtige. Daran fehle es. Die Klägerin habe die selbstständige Tätigkeit bereits am 1. August 2007 aufgenommen.
Mit ihrer Klage vom 14. August 2008 hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Sie hat vorgetragen, sie habe erst bei einer Beratung am 28. März 2008 von der Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung erfahren. Soweit ihr vorgehalten werde, sie habe sich durch das ihr ausgehändigte Merkblatt 3 informieren können, treffe dies nicht zu, da sie dieses Merkblatt entgegen ihren Angaben im Antrag nicht erhalten habe; auch reiche der dortige Hinweis, der nichts über ggf. einzuhaltende Fristen sage, für eine ordnungsgemäße Belehrung nicht aus.
Das Sozialgericht Hamburg hat mit Urteil vom 29. November 2010 der Klage stattgegeben. Zwischen der Klägerin und der Beklagten bestehe seit dem 1. August 2007 ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag gemäß § 28a SGB III. Die streitgegenständlichen Bescheide seien daher aufzuheben. Zwar habe die Klägerin die Frist des § 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III versäumt und es komme keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) in Betracht. Jedoch sei die Klägerin im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als habe sie die Antragsfrist nicht versäumt. In der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei geklärt, dass das richterrechtliche Institut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs auch neben der gesetzlichen Wiedereinsetzungsregelung in § 27 SGB X (soweit einschlägig) anwendbar sei. Der Herstellungsanspruch erfordere eine Pflichtverletzung eines Sozialleistungsträgers – etwa einer Auskunfts- oder Belehrungspflicht – und einen hierdurch beim Betroffenen hervorgerufenen rechtlichen Nachteil auf dem Gebiet des Sozialrechts; als Rechtsfolge sei der Zustand wiederherzustellen, der ohne die Pflichtverletzung bestehen würde, wobei dies jedoch nur durch eine zulässige Amtshandlung geschehen dürfe. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch greife insbesondere dann, wenn es aufgrund pflichtwidrigen Verhaltens der Behörde zu einer verspäteten Antragstellung gekommen sei bzw. wenn es die Behörde unterlasse, bei konkretem Anlass auf klar zutage liegende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig sei, dass sie ein verständiger Versicherter mutmaßlich nützen würde; dies gelte vor allem bei Gestaltungsmöglichkeiten, die sich aus unmittelbar zuvor in Kraft getretenen gesetzlichen Regelungen ergäben. Diese Voraussetzungen seien vorliegend erfüllt. Die Beklagte habe es unterlassen, die Klägerin anlässlich ihrer Beantragung des Gründungszuschusses am 1. Februar 2007 auf die Möglichkeit der Begründung eines Versicherungspflichtverhältnisses auf Antrag nach § 28a SGB III hinzuweisen und über die besonderen Modalitäten, etwa die rechtzeitige Antragstellung, aufzuklären bzw. zu beraten. Dass sie dies hätte tun müssen, stehe für die Kammer außer Zweifel. Die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit aus der Arbeitslosigkeit und dem Bezug von Arbeitslosengeld heraus sei ein konkreter Anlass, zu dem auf die seit dem 1. Februar 2006 gesetzlich offenstehende und damit klar zutage liegende Gestaltungsmöglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung hätte hingewiesen werden müssen. Die Wahrnehmung dieser Möglichkeit sei für einen Existenzgründer offensichtlich dermaßen zweckmäßig, dass sie ein verständiger Versicherter mutmaßlich nützen würde. Die Beklagte könne schon nicht nachweisen, dass sie der Klägerin anlässlich der Beantragung des Gründungszuschusses am 1. Februar 2007 tatsächlich das Merkblatt 3 mit dem Stand Februar 2007 und damit mit dem Hinweis auf die Möglichkeit der Weiterversicherung ausgehändigt habe. Zudem reiche nach Ansicht der Kammer der entsprechende Hinweis im Merkblatt 3 mit dem Stand Februar 2007 auch nicht aus, da dieser nichts zur bedeutsamen Fristenregel sage.
Die Beklagte stützt ihre am 23. Dezember 2010 eingelegte Berufung auf folgende Argumentationskette: Das Einhalten der Frist des § 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III könne nicht im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs fingiert werden. Zudem könne der Beklagten kein Beratungsversäumnis vorgeworfen werden. Zunächst hat die Beklagte vorgetragen, es sei davon auszugehen, dass die Klägerin bei Antragstellung das Merkblatt 3 mit dem Stand Februar 2007 und damit den entsprechenden Hinweis auf die Möglichkeit der Versicherung nach § 28a SGB III erhalten habe. Nunmehr gesteht die Beklagte zu, dass davon ausgegangen werden müsse, dass der Klägerin am 1. Februar 2007 das Merkblatt 3 mit dem Stand Februar 2007 nicht ausgehändigt worden sei. Schließlich sei nicht erklärbar, warum die Klägerin den Antrag auf Versicherung erst am 19. Mai 2008 gestellt habe, obwohl sie nach ihrem Vortrag bereits am 28. März 2008 von der Möglichkeit einer solchen Versicherung erfahren habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 29. November 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichtes Hamburg für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 11. September 2013, die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten sowie den weiteren Inhalt der Prozessakte nebst Beiakte und der beigezogenen Verwaltungsakten (VA) (2 Bd.) der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts ist nach §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden.
Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet. Zwischen der Klägerin und der Beklagten besteht für die Zeit ab 1. August 2007 ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag gemäß § 28a SGB III. Die streitgegenständlichen Bescheide der Beklagten sind daher rechtswidrig. Dies hat das Sozialgericht im Ergebnis auch zutreffend erkannt. Der Tenor war lediglich im Hinblick darauf neu zu fassen, dass das Versicherungspflichtverhältnis kraft Gesetzes besteht und die Beklagte daher nicht verpflichtet werden musste bzw. konnte, ein entsprechendes Verhältnis zu begründen.
Der Senat nimmt auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils unter Berücksichtigung folgender Ergänzungen Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).
Der Senat ist wie das Sozialgericht der Ansicht, dass der Herstellungsanspruch neben der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X und grundsätzlich auch bei einer Versäumung der Frist des § 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III anwendbar ist (so auch: SG Lüneburg, Urt. v. 17.12.2009 - S 7 AL 39/08; Timme, in: Hauck/Noftz, SGB III, Stand 10/2012, § 28a Rn. 35; Umer, in: Beck´scher Online-Kommentar, SGB III, Stand 12/2012, § 28a Rn. 6). Dies gilt selbst dann, wenn man diese Frist als Ausschlussfrist ansehen wollte. Denn die Anwendbarkeit des Herstellungsanspruches ist auch im Falle einer Ausschlussfrist durch das BSG anerkannt (vgl. Urt. v. 29.09.1987 – 7 RAr 23/86, SozR 4100 § 125 Nr. 3 mwN; dies inzident bejahend auch: BSG, Urt. v. 25.08.1993 - 13 RJ 27/92, SozR 3-1200 § 14 Nr. 9; Urt. v. 19.01.2005 - B 11a/11 AL 11/04 R, juris), worauf die Beklagte selbst in der übersandten Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde vor dem BSG hinweist.
Zutreffend benennt das Sozialgericht die Voraussetzungen des Herstellungsanspruches und bejaht deren Vorliegen. Dabei steht für den Senat fest, dass die Beklagte die Klägerin am 1. Februar 2007 nicht auf die Möglichkeit der Weiterversicherung nach § 28a SGB III hingewiesen hat, obwohl sie hierzu verpflichtet war. Denn nach der Aussage des Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 11. September 2013 muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin am 1. Februar 2007 nicht das Merkblatt 3 mit dem Stand Februar 2007 erhalten hat. Da es neben dem in diesem Merkblatt enthaltenen Hinweis keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass die Klägerin in irgendeiner Weise über die Möglichkeit der Weiterversicherung informiert worden ist, ist damit davon auszugehen, dass die Beklagte ihrer Informationspflicht nicht nachgekommen ist. Es kann daher offen bleiben, ob der im Merkblatt 3 (Stand Februar 2007) enthaltene Hinweis zur Erfüllung der bestehenden Hinweispflicht ausgereicht hätte.
Dass die Beklagte zu einem entsprechenden Hinweis verpflichtet war, steht für den Senat außer Zweifel. Denn es ist anerkannt, dass der Leistungsträger auch über ausdrücklich gestellte Fragen hinaus informieren muss, wenn sich eine Gestaltungsmöglichkeit offensichtlich als zweckmäßig aufdrängt und von jedem verständigen Versicherten hätte genutzt werden können. Auf derartige nahe liegende Gestaltungsmöglichkeiten muss auch hingewiesen werden, wenn unklar ist, ob der Versicherte genügend Mittel hat, die Möglichkeit auch tatsächlich zu nutzen, oder wenn sich der Versicherte trotz rechtskundiger Beratung evident unzweckmäßig verhält oder wenn die ihm erkennbar drohenden Nachteile besonders schwerwiegend sind (vgl. Seewald, in: Kasseler Kommentar, 77. Erg.lfg. 2013, SGB III Rn. 26 mwN). Die Gestaltungsmöglichkeit der Pflichtversicherung auf Antrag nach § 28a SGB III drängt sich – wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat – für einen Arbeitslosen, der sich selbstständig macht, geradezu auf. Zudem sind diese Fälle für die Verwaltung sehr einfach "herauszufiltern", da als konkreten Anlass für einen Hinweis die Stellung eines Antrags auf Gründungszuschuss genommen werden kann. Von daher ist der Vortrag der Klägerin, in dem Gespräch am 28. März 2008 sei sie als erstes danach gefragt worden, ob sie diese Gestaltungsmöglichkeit genutzt habe, plausibel und zeigt, dass bei den Mitarbeitern der Beklagten offenbar auch grundsätzlich ein Problembewusstsein besteht.
Der Senat hat auch schließlich keine Zweifel daran, dass der unterbliebene Hinweis kausal dafür war, dass die Klägerin den Antrag auf Weiterversicherung nicht innerhalb der Frist des § 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III gestellt hat. Die Klägerin hat für den Senat in der mündlichen Verhandlung am 11. September 2013 überzeugend ausgeführt, dass sie bei zutreffender Beratung sofort die Weiterversicherung beantragt hätte. Dass sie erst mit Schreiben vom 19. Mai 2008 die Weiterversicherung beantragt hat, obwohl ihr bereits im Gespräch am 28. März 2008 bekannt wurde, dass die Möglichkeit der Weiterversicherung bestanden habe, die diesbezügliche Antragsfrist jedoch abgelaufen sei, hat die Klägerin plausibel und nachvollziehbar damit erklärt, dass sie zunächst bei anderen Existenzgründern und ihrer Steuerberaterin Erkundigungen darüber einholen musste, ob es überhaupt und – wenn ja – welche Möglichkeiten es gab, dennoch die Weiterversicherung begründen zu können. Dies habe aufgrund des Umstandes, dass sie nebenbei ihre Selbstständigkeit vorangetrieben habe, einige Zeit gedauert. Der Senat hat aufgrund des Verhaltens der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und der von ihr dabei getätigten Aussagen keinerlei Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit und der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.
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