L 4 AS 403/15 B ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 22 AS 3298/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AS 403/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 22. September 2015 aufgehoben. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Tatbestand:

I. Der Antragsteller, ein bulgarischer Staatsangehöriger, begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), nachdem der Antragsgegner die Weiterbewilligung abgelehnt hat, weil sich der Antragsteller nach Ablauf von sechs Monaten seit der letzten Beschäftigung nur zur Arbeitssuche im Bundesgebiet aufhalte. Er sei damit nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, weil sich sein Aufenthaltsrecht allein aus der Arbeitssuche ergebe.

Mit Beschluss vom 22. September 2015 hat das Sozialgericht dem Eilantrag stattgegeben. Der Leistungsanspruch des hilfebedürftigen und erwerbsfähigen Antragstellers folge aus § 19 Abs. 1 Satz 1 und 3, Abs. 3, § 20, § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II und § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III). Danach könne – und müsse aufgrund einer Ermessensreduzierung – über die Erbringung von Geldleistungen vorläufig entschieden werden, wenn eine entscheidungserhebliche Frage von grundsätzlicher Bedeutung in einem Verfahren vor dem Bundessozialgericht anhängig sei. Das sei hier der Fall, da die Verfassungsmäßigkeit der Ausschlussvorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vor dem Bundessozialgericht (u.a. Verfahren "Alimanovic – B 4 AS 9/13 R) anhängig sei. Die Vorschrift sei nach Auffassung des Sozialgerichts auch als verfassungswidrig anzusehen, so dass sich der Leistungsanspruch zudem im Wege einer Folgenabwägung gewinnen lasse. Denn der Ausschlusstatbestand verstoße gegen das Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums, wie es in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz (Urteil vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10 u.a.) ausgeformt worden sei. Danach hänge der individuelle Leistungsanspruch nicht vom Aufenthaltsstatus, sondern allein von dem tatsächlichen Aufenthalt im Bundesgebiet ab. Der Ausschlusstatbestand verstoße zudem gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG), da vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer mit Leistungsansprüchen nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bessergestellt würden als EU-Bürger auf Arbeitssuche, obwohl beide Personengruppen ohne weiteres in ihre jeweiligen Herkunftsländer zurückkehren könnten. Der Ausschlusstatbestand könne auch nicht gerechtfertigt werden mit einem Verweis auf möglicherweise bestehende Ansprüche auf Ermessensleistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 oder § 73 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), da der Gesetzgeber die verfassungsgemäße Bestimmung des Existenzminimums nicht über Ermessensvorschriften den Behörden und Gerichten überlassen dürfe.

Dagegen hat der Antragsgegner am 24. September 2015 Beschwerde erhoben.

Entscheidungsgründe:

II. Die Beschwerde hat Erfolg. Sie ist statthaft und zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz – SGG) und auch begründet.

Das Sozialgericht hat den Antragsgegner zu Unrecht dazu verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch voraus, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gem. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, etwa wenn eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Insbesondere bei Ansprüchen, die darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das Existenzminimum zu sichern, ist ein nur möglicherweise bestehender Anspruch in der Regel vorläufig zu befriedigen (vgl. den Beschluss des Senats vom 4.3.2014 – L 4 AS 57/14 B ER sowie Hessisches LSG, Beschluss vom 30.9.2013 – L 6 AS 433/13 B ER, unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 12.5.2005 – 1 BvR 569/05).

1. Hier fehlt es an einem Anordnungsanspruch. Unabhängig von dem Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist der Antragsteller nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil sich sein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU ergeben kann.

2. Die Regelung des Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II steht – das ist mittlerweile vom Europäischen Gerichtshof geklärt worden – im Einklang mit dem Recht der Europäischen Union (Rechtsprechung des EuGH, Urteil vom 11.11.2014 – C-333/13 "Dano"; Urteil vom 15.9.2015 – C-67/14 "Alimanovic").

3. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist auch mit dem nationalen Verfassungsrecht vereinbar (so auch BayLSG, Beschluss vom 1.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER). Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG ist als Menschenrecht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Grunde nach unverfügbar und muss durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10 und 2/11). Den entsprechenden verfassungsrechtlichen Vorgaben kann aus Sicht des Senats dadurch hinreichend Rechnung getragen werden, dass arbeitsuchenden Unionsbürgern ein Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form der unabweisbar gebotenen Leistungen eingeräumt wird (vgl. dazu im Einzelnen LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 6.9.2012 – L 7 AS 758/12 B ER). Welche Leistungen unabweisbar sind, hängt dabei von den Umständen des Einzelfalls ab. Bei möglicher und zumutbarer Rückkehr in das Heimatland kommt in der Regel lediglich die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthalts in Betracht (Überbrückungsleistungen). Es kann dahingestellt bleiben, ob ein solcher Anspruch auf die unabweisbar gebotene Hilfe aus einer entsprechenden Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII (Hilfegewährung im Ermessenswege, vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.3.2015 – L 19 AS 116/15 B ER; Coseriu, in: jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 23 Rn. 74 ff.; Hohm, in: Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Aufl. 2015, § 23 Rn. 29.6), des § 1a AsylbLG (Schlette, in: Hauck/Noftz, SGB XII, 28. Lfg. Stand 7/2012, § 23 Rn. 50; Birk, in: LPK-SGB XII, 10. Aufl. 2015, § 23 Rrn. 13, 22; a.A. Oppermann, in: jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 1a AsylbLG Rn. 18 f.: es kommen allenfalls Leistungen nach dem SGB XII in Frage) oder unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG (Herbst, in: Mergler/Zink, SGB XII, 28. Lfg. Stand 1/2015, § 23 Rn. 48) herzuleiten ist oder ob in entsprechenden Fällen von einer atypischen Bedarfslage auszugehen ist, die den Einsatz öffentlicher Mittel im Sinne des § 73 SGB XII (Hilfe in sonstigen Lebenslagen) rechtfertigt.

Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz (Urteil vom 18.7.2012, a.a.O., im Folgenden zitiert nach juris) folgt nichts anderes. In jener Entscheidung ging es um die Bemessung des existenznotwendigen Bedarfs nach § 3 AsylbLG. Nur in dem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass Leistungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren begründet werden müssten und die Höhe der Leistungsansprüche nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenziert werden dürfe (Rn. 69, 73). Hier jedoch geht es um einen Leistungsausschluss, der seine Rechtfertigung in dem europäischen Konzept einer Freizügigkeit findet, ohne dass zugleich (schon) eine sog. Sozialunion hergestellt ist. Dieses Konzept ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wobei der Senat davon ausgeht, dass in sämtlichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union deren grundlegende, in Art. 2 des EU-Vertrages festgelegten Werte, wozu Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und die Wahrung der Menschenrechte gehören, gewährleistet sind (vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 4.2.2015 – L 2 AS 14/15 B ER). Weiter hat das Bundesverfassungsgericht in jener Entscheidung ausgesprochen, dass die Hilfebedürftigen nicht auf freiwillige Leistungen verwiesen werden dürften, sondern der Gesetzgeber ihnen ein entsprechendes subjektives Recht einräumen müsse (Rn. 65). Dem genügt der oben beschriebene Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form der unabweisbar gebotenen Leistungen, der – wie etwa auch der Anspruch nach § 1a oder § 11 Abs. 2 AsylbLG bzw. nach § 23 SGB XII – ein gesetzlicher Anspruch ist, selbst wenn seine konkrete Ausgestaltung im Einzelfall nicht direkt aus dem Gesetz ablesbar ist. Anders als bei der Bemessung der Leistungen nach § 3 AsylbLG stößt der Gesetzgeber wegen der Individualität und Situationsbezogenheit dieses Anspruchs an sachbezogene Grenzen.

Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Vielmehr beruht er auf sachgerechten Gründen, nämlich dem bereits erwähnten europäischen Konzept der Freizügigkeit einerseits und dem grundsicherungsrechtlichen Grundsatz der Selbsthilfe andererseits. EU-Bürger sind nämlich typischerweise ohne weiteres imstande, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren und dort unter adäquaten, menschenwürdigen Umständen zu leben. Insoweit ist ihre Situation mit der in § 11 Abs. 2 AsylbLG geregelten Lage derjenigen Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz vergleichbar, denen bei Verstoß gegen eine räumliche Beschränkung im Bundesgebiet nur die unabweisbar gebotene Hilfe ist leisten ist. Zwar mag es im Hinblick auf § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG Fälle geben, in denen ausländische Nicht-EU-Bürger Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen, obwohl sie ebenfalls ohne weiteres in ihren Herkunftsstaat zurückkehren könnten. Darin liegt aber – abgesehen von der politischen Diskussion über Rechtsänderungen in diesem Bereich – kein relevanter Gleichheitsverstoß, weil der Gesetzgeber bei der ihm nur möglichen typisierenden Betrachtung nicht von der gleichmäßigen Gewähr adäquater, menschenwürdiger Umstände außerhalb der Europäischen Union ausgehen muss.

4. Aus § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III folgt nichts anderes. Die hier eingeräumte Möglichkeit einer lediglich vorläufigen Leistungsbewilligung dürfte angesichts der aufgezeigten Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB II mit höherrangigem Recht nicht in Betracht kommen. Auch eine Folgenabwägung, auf die das Sozialgericht sich ergänzend bezogen hat, scheidet demzufolge aus.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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