L 2 R 73/15

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 9 R 931/13
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 2 R 73/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung der Beklagen wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 29. April 2015 dahingehend abgeändert, dass die Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 16. Januar 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2013 dem Grunde nach verurteilt wird, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 1. April 2012 bis zum 31. März 2018 zu gewähren, längstens jedoch bis zur verbindlichen Zusicherung der Gewährung von die Erwerbsminderung beseitigenden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. 2. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit ist ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung.

Die am xxxxx 1962 geborene Klägerin ist seit ihrer Geburt oder jedenfalls seit frühester Kindheit gehörlos. Trotz seit Jahrzehnten bestehender Versorgung mit Hörgeräten vermag sie nur das Vorhandensein lauter Geräusche wahrzunehmen, ist jedoch nicht in der Lage, einzelne gesprochene Wörter zu identifizieren, sodass sie bei auch bestehender Sprachstörung für die nicht schriftliche Kommunikation auf die Hilfe von Gebärdensprachdolmetschern angewiesen ist.

Nach Abschluss einer von 1978 bis 1981 absolvierten Ausbildung zur Bekleidungsfertigerin arbeitete die Klägerin zunächst vorübergehend in diesem Beruf, später in der Adjustierung sowie in der Endkontrolle einer Kellerei und war anschließend 9 Jahre lang bis September 2010 versicherungspflichtig im Versandhandel beschäftigt. Nach einer Qualifizierungsmaßnahme zur beruflichen Wiedereingliederung war sie noch bei verschiedenen Unternehmen jeweils kurzzeitig erwerbstätig und absolvierte Praktika. Die Klägerin nahm von September 2009 bis September 2010 an einer Integrationsmaßnahme beim Berufsförderungswerk teil und war anschließend arbeitslos bzw. seit März 2011 arbeitsunfähig wegen Depressionen, die nach Suizidversuch und erneuter -drohung zu einer mehrmonatigen stationären Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus führten. Seit Oktober 2011 bezieht die Klägerin Arbeitslosengeld II. Vom Versorgungsamt H. ist ein Grad der Behinderung von 100 wegen an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit mit Sprachstörung sowie psychischer Störung anerkannt; darüber hinaus wurde das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" festgestellt, derjenigen für die Merkzeichen "G" und "B" hingegen abgelehnt.

Die Klägerin beantragte am 20. September 2011 bei der Beklagten die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Sie halte sich seit Januar 2000 wegen Depressionen und durch Tinnitus bedingter Schlafstörungen für voll erwerbsgemindert.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ebenso wie mehrere im Jahr 2012 gestellte Anträge der Klägerin auf medizinische Rehabilitation und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ab, nachdem die von ihr mit der Begutachtung der Klägerin beauftragte Fachärztin für Neurologie Dr. G. die Klägerin noch für fähig gehalten hatte, 6 Stunden täglich und mehr Tätigkeiten am Arbeitsmarkt mit näher bezeichneten qualitativen Einschränkungen auszuüben (Bescheid vom 16. Januar 2013, Widerspruchsbescheid vom 16. August 2013).

Hiergegen hat die Klägerin am 17. September 2013 Klage beim Sozialgericht (SG) Hamburg erhoben und darauf hingewiesen, dass insbesondere der sie behandelnde Neurologe und Psychiater Prof. Dr. H2 ihre Gesundheitsstörungen schlimmer einschätze als von der Beklagten angenommen. Die berufliche Belastbarkeit sei dementsprechend geringer. Wegen der Hör- und Sprachschädigung sei ohnehin nur eine geringe Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gegeben. Ihr Leistungsvermögen sei aufgehoben.

Das SG hat im Rahmen der Ermittlungen die Schwerbehindertenakte der Klägerin beigezogen, Befundberichte von den behandelnden Ärzten der Klägerin und der Psychologin B. eingeholt und schließlich den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. Dipl.-Psych. M. mit der Erstellung eines Gutachtens nach ambulanter Untersuchung der Klägerin beauftragt, die am 19. September 2014 erfolgt ist. In seinem Gutachten vom 23. September 2014 hat Prof. Dr. M. für sein Fachgebiet die Diagnose "Angst und depressive Störung gemischt" gestellt und die Klägerin damit noch für fähig erachtet, mittelschwere Tätigkeiten einfacher geistiger Art mit geringer Verantwortung auszuüben, nicht unter besonderem Zeitdruck, nicht im Akkord, in Schicht- oder Nachtdienst, nicht mit Publikum, nicht mit zu großen Anforderungen an die Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand. Hinsichtlich der linken Hand bestehe ein Behandlungsleiden. Bei Einhaltung dieser Anforderungen sei die Klägerin vollschichtig belastbar und könne auch Hemmungen gegenüber der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit bei zumutbarer Willensanstrengung überwinden.

Nach Einsatz eines Cochlea-Implantats links im Oktober 2014 hat die Klägerin im Januar und Februar 2015 eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in den M3 Kliniken S. erhalten, nach deren Entlassungsbericht bei der Klägerin folgende Gesundheitsstörungen bestehen: Taubheit rechts, hochgradige Innenohrschwerhörigkeit links (mit CI links und Hörgerät rechts versorgt), chronischer Tinnitus aurium mit Gleichgewichtsstörungen, mittelgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom, gesamtes Wirbelsäulen-Syndrom. Das Leistungsvermögen der Klägerin sei aufgehoben. Leistungen zur Teilhabe sollten geprüft werden. Das SG hat im Termin zur mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme am 29. April 2015 den medizinischen Sachverständigen Prof. Dr. M. ergänzend zu seinem schriftlichen Gutachten unter Berücksichtigung des Reha-Entlassungsberichts und eines neueren Befundberichts des Prof. Dr. H2 sowie den berufskundlichen Sachverständigen M1 zu der Frage des Bestehens eines offenen Arbeitsmarktes für Hörgeschädigte gehört. Mit Urteil vom selben Tag hat es dem Antrag der Klägerin voll stattgegeben, den Bescheid der Beklagten vom 16. Januar 2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2013 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, "der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung, befristet bis zum Abschluss von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ab Antragstellung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren". Zur Begründung hat es ausgeführt, dass schon zum Zeitpunkt der Antragstellung und bei Entscheidung der Beklagten der Arbeitsmarkt der gehörlosen Klägerin trotz vollschichtigen Leistungsvermögens mit lediglich qualitativen Einschränkungen – wovon die Kammer nach den überzeugenden Ausführungen des Prof. Dr. M. ausgehe – aus gesundheitlichen Gründen ohne Bereitstellung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben verschlossen gewesen sei, sodass nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu den Fällen einer schweren spezifischen Leistungseinschränkung und/oder einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen ein Rentenanspruch nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) bestehe. Bei der Klägerin bestünden von Seiten des HNO-ärztlichen Fachgebiets eine Taubheit des rechten Ohrs sowie eine hochgradige Innenohrschwerhörigkeit links (kurz vor der mündlichen Verhandlung mit Cochlea Implantat auf einem Ohr und Hörgerät auf dem anderen Ohr versorgt), ein chronischer Tinnitus aurium mit Gleichgewichtsstörungen sowie ein gesamtes Wirbelsäulen-Syndrom. Ferner bestehe im Zusammenspiel mit diesen Erkrankungen von Seiten des neurologisch-psychiatrischen Fachgebiets eine Angst- und depressive Störung gemischt. Die von den M3 Kliniken S. im Februar 2015 diagnostizierte mittelgradige Episode mit somatischem Syndrom sei, worauf Prof. Dr. M. in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar hingewiesen habe, nicht ausreichend durch in der Klinik erhobene Befunde oder anderweitige Befunde nach Aktenlage gesichert und werde deswegen von der Kammer nicht zu Grunde gelegt. Zusätzlich bestünden eine leichte Gesichtsfeldstörung nach links und – wovon sich die Kammer in der mündlichen Verhandlung habe überzeugen können – eine erhebliche Sprachstörung der Klägerin im Zusammenhang mit der Taubheit, die eine Kommunikation ohne Hinzuziehung von Gebärdendolmetschern jedenfalls außerhalb des rein privaten Bereichs, in dem eine geduldige Zuwendung und Gewöhnung zu erwarten sei, unmöglich erscheinen lasse. Die Sprachstörung sei auch vielfach in Befundunterlagen dokumentiert.

Im Zusammenspiel dieser Gesundheitsstörungen sehe die Kammer eine schwere spezifische Leistungseinschränkung im Sinne der Rechtsprechung des BSG (Hinweis auf Urteil vom 21. März 2006 – B 5 RJ 51/04 R, SozR 4-2600 § 43 Nr. 8), insbesondere wegen der Taubheit und Sprachstörung der Klägerin. Dies erfordere nach der Rechtsprechung des BSG die Benennung einer konkreten Tätigkeit, für die der Arbeitsmarkt der Klägerin trotz der besonderen Leistungseinschränkungen offen stehe und die sie innerhalb der üblichen Einarbeitungszeit von 3 Monaten erlernen könne. Gelinge das nicht und sei der Arbeitsmarkt der Versicherten trotz vollschichtigen Leistungsvermögens verschlossen, müsse sie so lange als voll erwerbsgemindert angesehen werden, wie das Hindernis nicht behoben sei, was neben der Änderung der persönlichen Situation der Versicherten durch die erfolgreiche Durchführung einer vom Versicherungsträger bewilligten Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation und/oder zur Teilhabe am Arbeitsleben geschehen könne (Hinweis auf BSG, Urteil vom 21. März 2006 – B 5 RJ 51/04 R, a.a.O., für den Fall der Wegeunfähigkeit). Derart schätze die Kammer die Situation der Klägerin insbesondere nach berufskundlicher Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung ein. Dabei berücksichtige die Kammer, dass die Klägerin nach den Angaben des berufskundlichen Sachverständigen M1, der selbst in der Arbeitsvermittlung (Jobcenter) für behinderte Menschen tätig sei, noch nicht wegen des Zusammenspiels der Einschränkungen der rechten Hand und der eher geringen Einschränkung des Sehvermögens an einer Erwerbstätigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt gehindert sei und letztlich auch nicht wegen des Zusammenspiels dieser Erkrankungen mit der Einschränkung von Seiten des neurologisch-psychiatrischen Fachgebiets. Wegen der Gehörlosigkeit der Klägerin und der hieraus folgenden Notwendigkeit der Einarbeitung mit Hilfe einer Gebärdensprachdolmetscherin entstehe jedoch ein erhöhter Aufwand für solche Firmen, die bereit seien, gehörlose Menschen einzustellen und einzuarbeiten. Dies führe nach den Ausführungen des Sachverständigen zum einen dazu, dass die Einarbeitung selbst länger dauere, zum anderen zu einem erhöhten Koordinierungsaufwand der Arbeitgeber, wenn für geplante Erläuterungen Gebärdensprachdolmetscher organisiert werden müssten. Auf Grund dessen werde der Einsatz gehörloser Arbeitnehmer von den Arbeitgebern nach den Recherchen des berufskundlichen Sachverständigen nur dann vorgenommen, wenn diesem wirtschaftlichen Aspekt z.B. durch die Bereitstellung eines Einarbeitungszuschusses Rechnung getragen werde. Eine solche Leistung werde außer von der Arbeitsverwaltung auch von Rentenversicherungsträgern als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben im Einzelfall bereitgestellt, wie der Kammer aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt sei. Sie gleiche die Nachteile des Arbeitgebers aus, die nicht mehr von den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes gedeckt seien und teilweise auch längere Einarbeitung erforderten. Ohne einen solchen zusätzlichen Anreiz für Arbeitgeber zum Ausgleich der wirtschaftlichen Nachteile der Einarbeitung gehörloser oder wie hier quasi taubstummer Arbeitnehmer habe der berufskundliche Sachverständige den Arbeitsmarkt als verschlossen geschildert. Für die Klägerin halte die Kammer, wenn sie überhaupt Mut fassen und sich dem Arbeitsmarkt wieder stellen würde, solche Hilfen, die die längere Dauer der Einarbeitung ausgleichen könnten, und ggf. zusätzlich andere Wiedereinstiegshilfen für zwingend, zumal schon die Beklagte angenommen habe, dass die Ein- und Umstellfähigkeit der Klägerin eingeschränkt sei. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass die Klägerin über einen längeren Zeitraum (9 Jahre) im Versandhandel trotz ihrer Gehörlosigkeit gearbeitet habe. Zurzeit habe sie keinen Arbeitsplatz inne. Außerdem sei sie zum damaligen Zeitpunkt wesentlich jünger gewesen und habe keine psychische Erkrankung gehabt. Trotzdem sei es zu erheblichen Problemen im Kollegenkreis gekommen. Für eine solche Situation habe auch Prof. Dr. M. kein ausreichendes Leistungsvermögen gesehen. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wie z.B. ein Einarbeitungszuschuss seien der Klägerin bisher nicht angeboten worden. Die Prüfung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sei im Gegenteil immer wieder abgelehnt, jedoch auch von der Reha-Klinik S. für erforderlich gehalten worden. Auch auf entsprechende Nachfrage des Gerichts habe sich die Beklagte bis zum Ende der mündlichen Verhandlung aber weder hierzu noch zur Benennung oder Rentengewährung geäußert. Gemäß § 8 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) seien solche Leistungen vorrangig vor dem Rentenbezug zu prüfen und zu gewähren. Die Klägerin gehöre zu dem vom SGB IX geschützten Personenkreis. Da eine Benennung einer von der Klägerin noch auszuübenden konkreten Tätigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt trotz Vorliegens einer schweren spezifischen Leistungseinschränkung weder im rentenrechtlichen Verwaltungsverfahren noch nach dem entsprechenden Hinweis der Reha-Klinik nach dem Ende der medizinischen Rehabilitation erfolgt und nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung, insbesondere der berufskundlichen Ausführungen, eine Benennung "aus dem Stand" auch nicht möglich sei, seien die nach § 8 Abs. 2 SGB IX vorrangigen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nun zu gewähren und der Klägerin gemäß § 102 Abs. 2a SGB VI eine befristete Rente bis zum Abschluss von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auszusprechen.

Gegen dieses, ihr am 29. Mai 2015 zugestellte Urteil richtet sich die am 24. Juni 2015 eingelegte Berufung der Beklagten, mit der sie an ihrer Auffassung festhält, dass der allgemeine Arbeitsmarkt der Klägerin angesichts des festgestellten vollschichtigen Leistungsvermögens nicht verschlossen sei. Insbesondere könne sie leichte Pack-, Montier-, Produktions-, Prüf-, Etikettier- und Kommissionierungsarbeiten regelmäßig mehr als 6 Stunden täglich ausüben. Der berufskundliche Sachverständige habe konkrete Tätigkeiten im Bereich der Re-Importe bei Medikamenten und bei M2 benannt. Im vom Sachverständigen M1 beigebrachten Protokoll aus einem anderen Verfahren finde sich darüber hinaus der Hinweis, dass das Unternehmen H1 für gehörlose Arbeitnehmer ein Einarbeitungsvideo erstellt habe. Für ihre Auffassung, dass ein offener Arbeitsmarkt für Gehörlose bundesweit bestehe, z.B. auch im Bereich der Warensortiererei, bezieht die Beklagte sich auf Urteile der Landessozialgerichte Baden Württemberg vom 23. Januar 2007– L 11 R 269/03 –, Sachsen-Anhalt vom 12. Oktober 2011 – L 3 R 403/08– und Bayern vom 28. Juni 2011 – L 20 R 279/07 –. Soweit die Agenturen für Arbeit Arbeitgebern bei der Einstellung Gehörloser regelhaft Eingliederungszuschüsse bewilligten, diene dies lediglich der besseren Vermittelbarkeit; insoweit handele es sich um Leistungen im Rahmen der Arbeitslosenversicherung, nicht jedoch der Rentenversicherung.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 29. April 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil des SG für richtig und nimmt hierauf Bezug. Sie habe einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung, weil ihre Einstellung allenfalls unter betriebsunüblichen Bedingungen erfolgen könne.

Der Senat hat den Sachverständigen M1 vom Jobcenter team.arbeit. h. für schwerbehinderte Menschen um eine ergänzende Stellungnahme zu seinem am 29. April 2015 vor dem SG abgegebenen Gutachten und dabei um Mitteilung gebeten, ob Einarbeitung und Beschäftigung der Klägerin unter betriebsüblichen Bedingungen möglich seien, insbesondere auch wie lange eine Einarbeitung auf in Frage kommenden Arbeitsplätzen dauern würde. Der Sachverständige hat unter dem 20. April 2016 ausgeführt, dass aufgrund der Gehörlosigkeit im Rahmen der Einarbeitung die Notwendigkeit eines Gebärdensprachdolmetschers bestehen werde. Dieser erläutere die Sicherheitsvorschriften, soweit notwendig, die Abläufe in der Firma und die Tätigkeiten. Ferner helfe er bei der Absprache der weiteren Kommunikation mit Kollegen und Kolleginnen sowie den Vorgesetzten. In der Regel würden einfache Fragen oder Absprachen, die bei hörenden Mitarbeitern durch eine kurze Unterhaltung geklärt würden, nach der Einarbeitung schriftlich mit der gehörlosen Person vorgenommen. Dies insbesondere, da nicht jederzeit ein Gebärdensprachdolmetscher abrufbar sei und diese Person auch erst zum Arbeitsplatz der Gehörlosen kommen müsse. Durch die Übersetzungstätigkeit dauere die Einarbeitung geringfügig länger. Der Mehraufwand lasse sich im Rahmen der Einarbeitung auf ca. 10% der Arbeitszeit schätzen. Die Dauer des Erlernens der Tätigkeit selbst sei von der Gehörlosigkeit nicht betroffen. Hier gehe es um das persönliche Geschick. Die Dauer von insgesamt 3 Monaten werde dabei nicht überschritten. Bei späteren längeren Besprechungen (Betriebsversammlung, Personalgespräch, größere Veränderungen im Team, Teambesprechung) könne ein Gebärdensprachdolmetscher seitens der Firma oder der Klägerin engagiert werden. Die Kosten trage seines Wissens das zuständige Integrationsamt im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben. Insgesamt stelle die Einstellung einer Mitarbeiterin, die einen Gebärdensprachdolmetscher benötige, für den Arbeitgeber einen höheren Aufwand dar. Dieser Aufwand sei eine betriebswirtschaftliche zusätzliche Leistung des Arbeitgebers, die auf dem Arbeitsmarkt nicht üblich sei. Es stünden ausreichend Arbeitsstellen für den Bereich der Pack-, Sortier- und Montier Tätigkeiten im Bundesgebiet zur Verfügung. Für die Einschränkungen dieser zahlreichen Arbeitsstellen hinsichtlich der Gehörlosigkeit verweise er auf seine obigen Ausführungen.

Die Beteiligten haben durch Erklärungen vom 18. Januar 2016 (Klägerin) und 8. Januar 2016 (Beklagte) ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Berichterstatters anstelle des Senats erteilt (§ 155 Abs. 3 und 4 SGG).

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird Bezug genommen auf die Sitzungsniederschrift vom 7. September 2016, die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten sowie den weiteren Inhalt der Prozessakte und der ausweislich der Sitzungsniederschrift beigezogenen, zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten und Unterlagen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung ist im Wesentlichen unbegründet. Das SG hat der zulässigen Klage weitestgehend zu Recht stattgegeben. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind insoweit rechtswidrig und verletzen die Klägerin in deren Rechten, als sie einen Anspruch der Klägerin auf eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung verneinen. Die Klägerin hat einen solchen Anspruch nach §§ 43 Abs. 2, 102 Abs. 2 SGB VI.

Soweit das SG in dem angefochtenen Urteil ausführt, dass zwar auf der Grundlage der insbesondere von Prof. Dr. M. festgestellten Gesundheitsstörungen ein vollschichtiges Leistungsvermögen der Klägerin mit lediglich qualitativen Einschränkungen besteht, dass jedoch nach den Feststellungen des berufskundlichen Sachverständigen M1 wegen der Taubheit und Sprachstörung der Klägerin von einer schweren spezifischen Leistungseinschränkung mit der Folge der Verschlossenheit des Arbeitsmarkts und damit dem Bestehen eines Anspruchs auf Rente wegen voller Erwerbsminderung auszugehen ist, folgt das erkennende Gericht diesem, nimmt auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug und sieht von einer weiteren Darstellung der Gründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).

Es gibt keine Anhaltspunkte für eine für diesen Rechtsstreit relevante, seit der letzten Begutachtung und der mündlichen Verhandlung vor dem SG eingetretene wesentliche Verschlechterung der Gesundheitsstörungen der Klägerin, die nach den schlüssigen Ausführungen des vom Sozialgericht beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. M. keine quantitative Einschränkung des Leistungsvermögens der Klägerin zu begründen vermögen.

Dennoch geht auch das erkennende Gericht davon aus, dass die Klägerin derzeit und jedenfalls seit Antragstellung im September 2011 deshalb voll erwerbsgemindert ist, weil sie nicht fähig ist, im Sinne des § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes durch Arbeit Erwerb zu erzielen. Nach dieser Fähigkeit jedoch beurteilt sich die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten und nicht allein nach derjenigen, Arbeiten überhaupt verrichten zu können (BSG Großer Senat, Beschluss vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95, BSGE 80,24, m.w.N.; s.a. zum Begriff der üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts Freudenberg in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB VI, 2. Aufl. 2013, Stand 1. Juli 2013, § 43 Rn. 129 ff., 135, 142, 196 ff.; Gürtner in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 89. Ergänzungslieferung März 2016, § 43 SGB VI Rn. 37 ff.; jeweils m.w.N.).

Der Sachverständige M1, der früher bei der Agentur für Arbeit und nunmehr seit vielen Jahren beim Jobcenter als Teamleiter unter anderem im Bereich Vermittlung schwerbehinderter Menschen tätig war bzw. ist, hat gegenüber dem Sozialgericht und dieses bekräftigend gegenüber dem erkennenden Gericht ausgeführt, dass die Einstellung gehörloser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Arbeitgeber regelmäßig mit einem höheren Aufwand und betriebswirtschaftlich betrachtet zusätzlichen Leistungen einhergeht, sodass die Jobcenter in diesen Fällen regelhaft Eingliederungszuschüsse bewilligen. Das Gericht hat keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln. Es leuchtet unmittelbar ein, dass das Erfordernis der Hinzuziehung von Gebärdensprachdolmetschern zeit- und kostenaufwändig ist. Dass das Unternehmen H1 ein Einarbeitungsvideo für gehörlose neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erstellt hat, führt zu keiner anderen Bewertung, sondern erhärtet diesen Befund. Denn selbstverständlich ist mit der Fertigung dieses Videos ebenfalls ein zeitlicher und finanzieller Aufwand verbunden gewesen. Im Übrigen würde die von dem typischen Arbeitgeber abweichende Praxis eines Arbeitgebers nicht zu der Annahme führen, dass das regelhaft bestehende Einstellungshindernis damit beseitigt wäre. Dass Arbeitgeber für diesen zusätzlichen Aufwand regelmäßig eine zumindest gewisse Kompensation durch Sozialleistungen erwarten bzw. eine solche als Bedingung für die Einstellung Gehörloser ansehen, erscheint nachvollziehbar. Es erscheint auch realistisch, wenn der Sachverständige M1 berichtet, dass seitens der eine große Anzahl Gehörloser betreuender Jobcenter regelhaft Eingliederungszuschüsse anlässlich deren Einstellung erbracht werden. Die Beklagte hat sich im Verfahren darauf beschränkt, aus den vom Sachverständigen M1 aufgezeigten Tatsachen abzulesen, dass es sich bei der Gehörlosigkeit um ein bloßes Vermittlungshindernis handele, dessen Beseitigung allein in die Zuständigkeit der Arbeitslosenversicherung falle. Dabei übersieht die Beklagte, dass dann, wenn ein solches Vermittlungshindernis unabhängig von dem individuellen Versicherten regelmäßig besteht, die für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit maßgebliche Fähigkeit, überhaupt durch Arbeit Erwerb zu erzielen, an sich tangiert ist. Auch die erst in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht in Bezug genommenen Entscheidungen der Landessozialgerichte Baden Württemberg vom 23. Januar 2007– L 11 R 269/03 –, Sachsen-Anhalt vom 12. Oktober 2011 – L 3 R 403/08– und Bayern vom 28. Juni 2011 – L 20 R 279/07 – vermögen keine Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Sachverständigen M1 zu begründen. Abgesehen davon, dass die zugrunde liegenden Sachverhalte allesamt weit in der Vergangenheit liegen, geht aus keinem der Urteile hervor, dass ein berufskundliches Sachverständigengutachten explizit zu der Frage eingeholt worden ist, wie sich die Einweisung unter anderem auch in Sicherheitsvorschriften und Einarbeitung von auf Gebärdensprachdolmetscher angewiesenen Versicherten gestaltet und ob die Einstellung regelhaft auch ohne die Gewährung insbesondere von Eingliederungszuschüssen erfolgt. Auch der Umstand, dass die hiesige Klägerin in der Vergangenheit versicherungspflichtig beschäftigt war, spricht nicht gegen das Vorliegen voller Erwerbsminderung oder für falsche Angaben des Sachverständigen. Zum einen ist nicht bekannt, ob die Aufnahme der von der Klägerin früher ausgeübten Beschäftigungen in irgendeiner Form von einem Sozialleistungsträger gefördert wurde und ob die Arbeitsmarktlage früher eine andere war als heute, zum anderen ist es immer denkbar, dass grundsätzlich voll erwerbsgeminderte Personen im Einzelfall und sei es durch besondere Unterstützungsmaßnahmen ihre Erwerbsfähigkeit vorübergehend (wieder-)erlangen, sie jedoch nach Beendigung der konkreten Beschäftigung wieder verlieren (siehe hierzu BSG, Urteil vom 25. April 1990 – 5 RJ 68/88, BSGE 67, 1).

Wenn jedoch der Klägerin der allgemeine Arbeitsmarkt so lange verschlossen ist, bis eine einem potentiellen Arbeitgeber zugutekommende, den mit ihrer Einstellung einhergehenden Mehraufwand zumindest zum Teil kompensierende Teilhabeleistung erbracht bzw. rechtlich verbindlich im Sinne des § 34 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch zugesichert wird, besteht ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB VI. Es wäre an der nach §§ 9,11 SGB VI zuständigen Beklagten – oder an einem anderen zuständigen Sozialleistungsträger – gegebenenfalls von Amts wegen (§ 115 Abs. 4 SGB VI) der Klägerin das Erwerbshindernis beseitigende Teilhabeleistungen zu erbringen bzw. zuzusichern, um die Erwerbsminderung zu beseitigen (so für die vergleichbaren Fälle der Angewiesenheit auf eine nicht betriebsübliche Arbeitsplatzausstattung bzw. auf Leistungen zur Behebung einer vorhandenen Wegeunfähigkeit: Freudenberg, a.a.O., Rn. 205, 215; Gürtner, a.a.O. Rn. 42; BSG, Urteil vom 21. März 2006 – B5 RJ 51/04 R, a.a.O.; jeweils m.w.N.). Die Zuständigkeit der Beklagten unter anderem für Eingliederungszuschüsse nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 SGB IX besteht neben derjenigen der Agentur für Arbeit. Der grundsätzliche Nachrang von Leistungen der Agentur für Arbeit nach § 7 SGB IX in Verbindung mit § 22 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) besteht vorliegend nach § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB III in Verbindung mit § 90 Abs. 2 bis 4 SGB III und § 104 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a bis d SGB IX sowie § 72 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX nicht. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen liegen nicht nur für eine Rente wegen Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI vor, sondern auch für Teilhabeleistungen durch die Beklagte nach § 11 SGB VI, jedenfalls nach § 11 Abs. 2a Nr. 1 SGB VI, der dem Grundsatz "Reha vor Rente" nach § 8 Abs. 2 SGB IX sowie § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Rechnung trägt, indem er bestimmt, dass Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben an Versicherte auch erbracht werden, wenn ohne diese Leistungen Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu leisten wären.

Der Rentenanspruch ist jedoch schon wegen seiner Arbeitsmarktabhängigkeit zeitlich nach § 102 Abs. 2 SGB VI zu befristen, sodass der Rentenbeginn nach § 101 Abs. 1 SGB VI angesichts der Antragstellung im September 2011, anders als vom SG tenoriert, erst am 1. April 2012 liegt. Da die maximale Befristung von 3 Jahren nach § 102 Abs. 2 Satz 4 SGB VI zum Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Gerichts bereits abgelaufen ist, ist ein weiterer Dreijahreszeitraum bis 31. März 2018 direkt anzuschließen. Entgegen der Auffassung des SG liegt hier kein Fall des § 102 Abs. 2a SGB VI vor, denn Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben werden gerade noch nicht mit offenem Ende erbracht (vgl. Kater in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 89. Ergänzungslieferung März 2016, § 100 SGB VI Rn. 17). Deshalb wäre auch die sachliche Befristung bzw. auflösende Bedingung des Abschlusses von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Tenor des angefochtenen Urteils nicht erforderlich. Für den Fall der Erbringung bzw. Zusicherung ausreichender Teilhabeleistungen wäre stattdessen die Regelung in § 100 Abs. 3 SGB VI zu beachten, wonach die Rente unter Umständen mit zeitlicher Verzögerung wegfallen würde. Da jedoch die sachliche Befristung bzw. auflösende Bedingung dem Antrag der Klägerin entspricht und keine Anschlussberufung eingelegt worden ist, sieht sich das erkennende Gericht daran gehindert, die Tenorierung auf die Verurteilung zur Gewährung einer zeitlich befristeten Rente zu beschränken. Zu beschränken ist auf die Berufung der Beklagten hin allerdings der konkrete Ausspruch über die sachliche Befristung bzw. auflösende Bedingung, wonach die Befristung bis zum Abschluss von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erfolge.

Da vorliegend insbesondere Eingliederungszuschüsse oder Kostenübernahmezusagen für Gebärdensprachdolmetscher in Betracht kommen, reicht die rechtlich verbindliche Zusicherung für den Fall der Anbahnung eines Beschäftigungsverhältnisses aus. Auch insoweit war der Berufung teilweise stattzugeben und der Tenor zu ändern.

Schließlich war der Berufung auch insoweit teilweise stattzugeben und der Tenor der angefochtenen Entscheidung zu ändern, als die angefochtenen Bescheide der Beklagten insgesamt aufgehoben und nicht lediglich geändert worden sind. Diese beinhalteten eine vollständige Ablehnung des Rentenantrags der Klägerin. Der Erfolg der Klage beschränkt sich jedoch letztlich auf die Gewährung einer lediglich befristeten Rente, sodass die Ablehnung im Übrigen Bestand hat.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Berufung nur in geringem Umfang Erfolg hat und die Beklagte hinsichtlich der Kernfrage, ob ein Rentenanspruch besteht, unterlegen ist.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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