Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 22 AS 2412/11
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AS 219/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 27. März 2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten, ob der Beklagte einen Bewilligungsbescheid aufheben bzw. zurücknehmen durfte.
Die am xxxxx 1986 geborene Klägerin, deren Auszug aus der elterlichen Wohnung die ARGE Pinneberg im Jahr 2008 zugestimmt hatte, beantragte am 27. Juni 2010 beim Beklagten Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Zuvor hatte sie eine Berufliche Schule in K. besucht. Die Klägerin verneinte sämtliche Fragen nach Einkommen und Vermögen und legte einen Mietvertrag vor, datiert auf den 31. Januar 2010, über eine von ihr ab 1. Februar 2010 anzumietende Wohnung im Erdgeschoss des Gebäudes O. in H ...
Mit Bescheid vom 26. Juli 2010 bewilligte der Beklagte der Klägerin für die Zeit vom 1. August 2010 bis 31. Januar 2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Regelsatz plus Kosten der Unterkunft in Höhe von 445,53 EUR monatlich).
Nachdem dem Beklagten Zweifel gekommen waren, ob die Klägerin die Wohnung in H. tatsächlich bewohnt, hob er die Bewilligung durch Bescheid vom 18. Januar 2011 mit Wirkung ab 1. Januar 2011 wegen "Wegfalls der Bedürftigkeit" gem. § 48 Abs. 1 Satz 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf.
Die Klägerin erhob Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid vom 17. Juni 2011 zurückgewiesen wurde: Es lägen die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Bewilligung nach § 45 SGB X vor. Die Klägerin sei von Anfang an nicht hilfebedürftig gewesen. Nach Besichtigung der Räumlichkeiten im O. habe nicht festgestellt werden können, dass sie dort ihren Aufenthalt habe. Auch bestünden Zweifel an einer wirksamen Mietzahlungsverpflichtung. Miete sei nie vereinbarungsgemäß auf das Konto des Vermieters gegangen, sondern diese angeblich bar bezahlt worden. Auch im Übrigen könne den von der Klägerin vorgelegten Kontoauszügen die erforderliche Hilfebedürftigkeit nicht entnommen werden (Abbuchungen von div. Tankstellen, wiederholt in K.). Auf Vertrauen könne sich die Klägerin nicht berufen, da sie falsche Angaben gemacht habe.
Ein Absendevermerk oder Zustellungsnachweis betreffend den Widerspruchsbescheid findet sich in den Akten nicht.
Am 18. Juli 2011 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht Hamburg Klage erhoben. Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen N. (Vermieter der Klägerin) und G. (Freundin der Klägerin). Wegen des Ergebnisses wird auf das Sitzungsprotokoll vom 27. März 2015 verwiesen.
Mit Urteil vom 27. März 2015 hat das Sozialgericht die Bescheide vom 18. Januar 2011 und 17. Juni 2011 (Widerspruchsbescheid) aufgehoben. Die Voraussetzungen für eine Aufhebungsentscheidung nach § 45 SGB X lägen nicht vor, weil sich unter Berücksichtigung der negativen Feststellungslast des Beklagten nicht mit der erforderlichen Sicherheit habe feststellen lassen, dass die Leistungsbewilligung für den Monat Januar 2011 rechtswidrig gewesen sei. Es habe nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden können, dass die Klägerin im O. nicht in dem von § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II geforderten Sinne gewohnt habe. Auch habe nicht festgestellt werden können, dass die Klägerin die laut Mietvertrag vereinbarte Miete nicht tatsächlich geschuldet habe. Schließlich seien nicht mit der erforderlichen Sicherheit Umstände festzustellen gewesen, welche die Bewilligung des Regelbedarfs rechtswidrig machen würden.
Das Urteil ist dem Beklagten am 25. April 2015 zugestellt worden. Am 19. Mai 2015 hat er Berufung eingelegt.
Der Beklagte moniert insbesondere die Beweiswürdigung durch das Sozialgericht. Das Gericht habe selbst eingeräumt, dass der Aussage der Zeugin G. kein Beweis für das dauerhafte Wohnen der Klägerin im O. entnommen werden könne. Auch habe das Gericht Indizien dafür gesehen, dass eine wirkliche Mietzahlungsverpflichtung nicht bestanden habe. Wenngleich nach der Aussage des Zeugen N. in Betracht gezogen werden müsse, dass er wahrheitsgemäß angegeben habe, Zahlungen von der Klägerin erhalten zu wollen, so hätte das Gericht bei der Würdigung der Aussage doch zu einem anderen Ergebnis kommen müssen, zumal sich auch wegen der Verwendung eines Mietvertragsformulars vom März 2010 Zweifel an der Gültigkeit des Vertrages ergeben hätten. Schließlich hätte der ursprünglich vorgesehene Zeuge Keyvan Mohaghegh Zadeh D. (angeblich Mitarbeiter im Büro des Vermieters) gehört werden müssen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 27. März 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil des Sozialgerichts.
Der Senat hat zu den Wohnverhältnissen der Klägerin im Januar 2011 Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen N. und D ... Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 4. Mai 2017 Bezug genommen.
Die Sachakten des Beklagten haben vorgelegen. Auf ihren sowie auf den Inhalt der Prozessakten, insbesondere auch die Sachverhaltsdarstellung im angefochtenen Urteil, wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die nach den Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 27. März 2015 hat in der Sache Erfolg. Das Sozialgericht hätte der von der Klägerin erhobenen Anfechtungsklage nicht stattgeben dürfen, da diese unbegründet ist.
Die angefochtenen Bescheide des Beklagten vom 18. Januar 2011 und vom 17. Juni 2011 (Widerspruchsbescheid) sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Die angefochtenen Bescheide sind zunächst formell rechtmäßig. Zwar hat der Beklagte die Klägerin vor Erlass des Bescheids vom 18. Januar 2011 möglicherweise nicht angehört (vgl. § 24 SGB X). Ein solcher Fehler wäre jedoch während des Widerspruchsverfahrens geheilt worden (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X).
Die angefochtenen Bescheide des Beklagten sind auch materiell rechtmäßig.
Der Bescheid vom 18. Januar 2011 wahrt das Bestimmtheitsgebot des § 33 Abs. 1 SGB X. Er bezeichnet unmissverständlich den Umfang der Aufhebung der Bewilligung.
Die Aufhebung der Bewilligung für den Monat Januar 2011 findet ihre rechtliche Grundlage in § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) und § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und Satz 3 Nr. 2 SGB X.
Nach § 45 Abs. 1 und 2 SGB X darf ein rechtswidriger, begünstigender Verwaltungsakt zurückgenommen werden, sofern schutzwürdiges Vertrauen nicht entgegensteht. Beruht der Verwaltungsakt auf Angaben, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, so kann er sich nicht auf Vertrauen berufen (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). In diesem Fall ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X, § 330 Abs. 2 SGB III).
Die Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung der Bewilligung zum 1. Januar 2011 nach diesen Vorschriften liegen vor.
Die Beweisaufnahme durch den Senat hat zwar ergeben, dass die Klägerin entgegen den Annahmen des Beklagten im Januar 2011 einen Bedarf für Unterkunft (§ 22 SGB II) hatte, weil sie damals in H. in der ihr vom Zeugen N. zur Verfügung gestellten Ersatzwohnung wohnte und weiterhin einer vertraglichen Mietzahlungverpflichtung ausgesetzt war. Darauf kommt es jedoch nicht entscheidend an. Die ursprüngliche Leistungsbewilligung wäre nämlich nur dann rechtmäßig, wenn die Klägerin im Bewilligungszeitraum auch tatsächlich hilfebedürftig gewesen wäre und insbesondere nicht über Einkommen oder Vermögen verfügte, das nach Maßgabe der §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 und 11 SGB II auf ihren Bedarf anzurechnen war. Hieran bestehen jedoch erhebliche Zweifel.
Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II nur hilfebedürftige Personen. Hilfebedürftig ist dabei nach § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen erhält. Ob die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum hilfebedürftig in diesem Sinne war, hängt davon ab, ob ihr genügend Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes zur Verfügung gestanden haben. Dies lässt sich im vorliegenden Fall auch nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht mit der erforderlichen Gewissheit aufklären.
Die Zweifel an der Hilfebedürftigkeit der Klägerin ergeben sich insbesondere daraus, dass sie nicht in der Lage war, plausibel zu erklären, wie sie in der Zeit vor Januar 2011 ihren vom Vermieter quittierten Mietzahlungsverpflichtungen nachkommen konnte, ohne dass sich dies (abgesehen von November 2010) in entsprechenden Überweisungen oder Barabhebungen von ihrem Konto widerspiegelte. Die zunächst gegebene Erklärung, sie habe Geld von der vorangegangenen Ausbildungsförderung zurückgelegt gehabt, passt nicht zu ihren Angaben im Leistungsantrag vom 26. Juni 2010, wonach sie über keinerlei Geldmittel verfüge. Vor allem aber hat die Klägerin die Rücklagen mit lediglich etwa 300 EUR beziffert; das hätte nicht einmal für eine Monatsmiete ausgereicht. Auch die von der Klägerin erwähnten kleinen Geldzuwendungen der Geschwister können die Finanzierung der Mietkosten nicht ansatzweise erklären, da diese nicht mehr als etwa 100 EUR monatlich ausgemacht haben sollen. Schließlich überzeugt die erst auf Vorhalt nachgeschobene Behauptung der Klägerin nicht, sie habe sich von Freunden (S.) und vom Bruder (H1) Geld geliehen und damit die Miete finanziert. Denn damals erhielt sie noch Leistungen vom Beklagten, die für diesen Zweck hätten verwendet werden können.
Die verbleibenden Zweifel des Gerichts gehen zu Lasten der Klägerin, weshalb von der Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidung auszugehen ist.
Ob die Voraussetzungen für die Aufhebung der Leistungsbewilligung vorliegen, hat das Gericht grundsätzlich von Amts wegen aufzuklären (§ 103 SGG). Das SGG kennt keine subjektive Beweisführungslast der Beteiligten, d.h. es obliegt nicht den Beteiligten, für eine bestimmte Behauptung Beweis anzubieten, vielmehr hat das Gericht selbst die erforderlichen Aufklärungsmaßnahmen zu ergreifen. Allerdings gelten auch im Sozialgerichtsverfahren die Grundsätze der materiellen Beweislast, die vorgeben, wie zu entscheiden ist, wenn das Gericht die erforderlichen Tatsachen nicht umfassend ermitteln kann. Dabei gilt der Grundsatz, dass im Rahmen des anzuwendenden materiellen Rechts derjenige, der einen Anspruch geltend macht, die Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen trägt. Steht ein Aufhebungs- oder Rücknahmebescheid im Streit, trifft die objektive Beweislast dementsprechend grundsätzlich den Beklagten (vgl. BSG, Urteile vom 24.05.2006, Az.: B 11a AL 7/05 R, vom 21.03.2007, Az.: B 11a AL 21/06 R, und vom 28.08.2007, Az.: B 7/7a AL 10/06 R).
Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist jedoch dann zu machen, wenn solche Vorgänge nicht aufklärbar sind, die in der persönlichen Sphäre oder der Verantwortungssphäre des Leistungsempfängers wurzeln, d.h. wenn eine besondere Beweisnähe zum Leistungsempfänger vorliegt (BSG, Urteile vom 24.05.2006, Az.: B 11a AL 7/05 R, vom 21.03.2007, Az.: B 11a AL 21/06 R und vom 28.08.2007, Az.: B 7/7a AL 10/06 R). In diesen Fällen liegt die materielle Beweislast beim Leistungsempfänger. So verhält es sich auch hier, da es ausschließlich um Umstände geht, die zu gestalten, darzustellen und zu beeinflussen die Klägerin in der Lage war.
Die Klägerin kann sich auch nicht auf schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der ursprünglichen Bewilligung berufen. Es ist schon zweifelhaft, ob sie in Bezug auf den Monat Januar 2011 im Vertrauen auf die Bewilligung überhaupt irgendwelche Vermögensdispositionen getroffen hatte; die Miete wurde nicht mehr gezahlt und wird vom Vermieter auch nicht mehr gefordert. Jedenfalls ist ein Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X ausgeschlossen, da die Bewilligung auf Angaben beruhte, welche die Klägerin zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig bzw. unvollständig gemacht hat. Hier ist insbesondere auf die (wegen der angeblich angesparten Barmittel und der durchgreifenden Zweifel an ihrer Hilfebedürftigkeit offenbar unrichtige) Angabe im Bewilligungsantrag vom 26. Juni 2010 zu verweisen, dass sie über keinerlei Einkommen oder Vermögen verfüge.
Gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X muss der Verwaltungsakt innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen, die die rückwirkende Rücknahme rechtfertigen, aufgehoben werden. Diese Frist ist hier eingehalten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Ein Grund, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, ist nicht gegeben.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten, ob der Beklagte einen Bewilligungsbescheid aufheben bzw. zurücknehmen durfte.
Die am xxxxx 1986 geborene Klägerin, deren Auszug aus der elterlichen Wohnung die ARGE Pinneberg im Jahr 2008 zugestimmt hatte, beantragte am 27. Juni 2010 beim Beklagten Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Zuvor hatte sie eine Berufliche Schule in K. besucht. Die Klägerin verneinte sämtliche Fragen nach Einkommen und Vermögen und legte einen Mietvertrag vor, datiert auf den 31. Januar 2010, über eine von ihr ab 1. Februar 2010 anzumietende Wohnung im Erdgeschoss des Gebäudes O. in H ...
Mit Bescheid vom 26. Juli 2010 bewilligte der Beklagte der Klägerin für die Zeit vom 1. August 2010 bis 31. Januar 2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Regelsatz plus Kosten der Unterkunft in Höhe von 445,53 EUR monatlich).
Nachdem dem Beklagten Zweifel gekommen waren, ob die Klägerin die Wohnung in H. tatsächlich bewohnt, hob er die Bewilligung durch Bescheid vom 18. Januar 2011 mit Wirkung ab 1. Januar 2011 wegen "Wegfalls der Bedürftigkeit" gem. § 48 Abs. 1 Satz 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf.
Die Klägerin erhob Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid vom 17. Juni 2011 zurückgewiesen wurde: Es lägen die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Bewilligung nach § 45 SGB X vor. Die Klägerin sei von Anfang an nicht hilfebedürftig gewesen. Nach Besichtigung der Räumlichkeiten im O. habe nicht festgestellt werden können, dass sie dort ihren Aufenthalt habe. Auch bestünden Zweifel an einer wirksamen Mietzahlungsverpflichtung. Miete sei nie vereinbarungsgemäß auf das Konto des Vermieters gegangen, sondern diese angeblich bar bezahlt worden. Auch im Übrigen könne den von der Klägerin vorgelegten Kontoauszügen die erforderliche Hilfebedürftigkeit nicht entnommen werden (Abbuchungen von div. Tankstellen, wiederholt in K.). Auf Vertrauen könne sich die Klägerin nicht berufen, da sie falsche Angaben gemacht habe.
Ein Absendevermerk oder Zustellungsnachweis betreffend den Widerspruchsbescheid findet sich in den Akten nicht.
Am 18. Juli 2011 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht Hamburg Klage erhoben. Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen N. (Vermieter der Klägerin) und G. (Freundin der Klägerin). Wegen des Ergebnisses wird auf das Sitzungsprotokoll vom 27. März 2015 verwiesen.
Mit Urteil vom 27. März 2015 hat das Sozialgericht die Bescheide vom 18. Januar 2011 und 17. Juni 2011 (Widerspruchsbescheid) aufgehoben. Die Voraussetzungen für eine Aufhebungsentscheidung nach § 45 SGB X lägen nicht vor, weil sich unter Berücksichtigung der negativen Feststellungslast des Beklagten nicht mit der erforderlichen Sicherheit habe feststellen lassen, dass die Leistungsbewilligung für den Monat Januar 2011 rechtswidrig gewesen sei. Es habe nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden können, dass die Klägerin im O. nicht in dem von § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II geforderten Sinne gewohnt habe. Auch habe nicht festgestellt werden können, dass die Klägerin die laut Mietvertrag vereinbarte Miete nicht tatsächlich geschuldet habe. Schließlich seien nicht mit der erforderlichen Sicherheit Umstände festzustellen gewesen, welche die Bewilligung des Regelbedarfs rechtswidrig machen würden.
Das Urteil ist dem Beklagten am 25. April 2015 zugestellt worden. Am 19. Mai 2015 hat er Berufung eingelegt.
Der Beklagte moniert insbesondere die Beweiswürdigung durch das Sozialgericht. Das Gericht habe selbst eingeräumt, dass der Aussage der Zeugin G. kein Beweis für das dauerhafte Wohnen der Klägerin im O. entnommen werden könne. Auch habe das Gericht Indizien dafür gesehen, dass eine wirkliche Mietzahlungsverpflichtung nicht bestanden habe. Wenngleich nach der Aussage des Zeugen N. in Betracht gezogen werden müsse, dass er wahrheitsgemäß angegeben habe, Zahlungen von der Klägerin erhalten zu wollen, so hätte das Gericht bei der Würdigung der Aussage doch zu einem anderen Ergebnis kommen müssen, zumal sich auch wegen der Verwendung eines Mietvertragsformulars vom März 2010 Zweifel an der Gültigkeit des Vertrages ergeben hätten. Schließlich hätte der ursprünglich vorgesehene Zeuge Keyvan Mohaghegh Zadeh D. (angeblich Mitarbeiter im Büro des Vermieters) gehört werden müssen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 27. März 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil des Sozialgerichts.
Der Senat hat zu den Wohnverhältnissen der Klägerin im Januar 2011 Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen N. und D ... Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 4. Mai 2017 Bezug genommen.
Die Sachakten des Beklagten haben vorgelegen. Auf ihren sowie auf den Inhalt der Prozessakten, insbesondere auch die Sachverhaltsdarstellung im angefochtenen Urteil, wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die nach den Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 27. März 2015 hat in der Sache Erfolg. Das Sozialgericht hätte der von der Klägerin erhobenen Anfechtungsklage nicht stattgeben dürfen, da diese unbegründet ist.
Die angefochtenen Bescheide des Beklagten vom 18. Januar 2011 und vom 17. Juni 2011 (Widerspruchsbescheid) sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Die angefochtenen Bescheide sind zunächst formell rechtmäßig. Zwar hat der Beklagte die Klägerin vor Erlass des Bescheids vom 18. Januar 2011 möglicherweise nicht angehört (vgl. § 24 SGB X). Ein solcher Fehler wäre jedoch während des Widerspruchsverfahrens geheilt worden (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X).
Die angefochtenen Bescheide des Beklagten sind auch materiell rechtmäßig.
Der Bescheid vom 18. Januar 2011 wahrt das Bestimmtheitsgebot des § 33 Abs. 1 SGB X. Er bezeichnet unmissverständlich den Umfang der Aufhebung der Bewilligung.
Die Aufhebung der Bewilligung für den Monat Januar 2011 findet ihre rechtliche Grundlage in § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) und § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und Satz 3 Nr. 2 SGB X.
Nach § 45 Abs. 1 und 2 SGB X darf ein rechtswidriger, begünstigender Verwaltungsakt zurückgenommen werden, sofern schutzwürdiges Vertrauen nicht entgegensteht. Beruht der Verwaltungsakt auf Angaben, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, so kann er sich nicht auf Vertrauen berufen (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). In diesem Fall ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X, § 330 Abs. 2 SGB III).
Die Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung der Bewilligung zum 1. Januar 2011 nach diesen Vorschriften liegen vor.
Die Beweisaufnahme durch den Senat hat zwar ergeben, dass die Klägerin entgegen den Annahmen des Beklagten im Januar 2011 einen Bedarf für Unterkunft (§ 22 SGB II) hatte, weil sie damals in H. in der ihr vom Zeugen N. zur Verfügung gestellten Ersatzwohnung wohnte und weiterhin einer vertraglichen Mietzahlungverpflichtung ausgesetzt war. Darauf kommt es jedoch nicht entscheidend an. Die ursprüngliche Leistungsbewilligung wäre nämlich nur dann rechtmäßig, wenn die Klägerin im Bewilligungszeitraum auch tatsächlich hilfebedürftig gewesen wäre und insbesondere nicht über Einkommen oder Vermögen verfügte, das nach Maßgabe der §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 und 11 SGB II auf ihren Bedarf anzurechnen war. Hieran bestehen jedoch erhebliche Zweifel.
Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II nur hilfebedürftige Personen. Hilfebedürftig ist dabei nach § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen erhält. Ob die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum hilfebedürftig in diesem Sinne war, hängt davon ab, ob ihr genügend Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes zur Verfügung gestanden haben. Dies lässt sich im vorliegenden Fall auch nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht mit der erforderlichen Gewissheit aufklären.
Die Zweifel an der Hilfebedürftigkeit der Klägerin ergeben sich insbesondere daraus, dass sie nicht in der Lage war, plausibel zu erklären, wie sie in der Zeit vor Januar 2011 ihren vom Vermieter quittierten Mietzahlungsverpflichtungen nachkommen konnte, ohne dass sich dies (abgesehen von November 2010) in entsprechenden Überweisungen oder Barabhebungen von ihrem Konto widerspiegelte. Die zunächst gegebene Erklärung, sie habe Geld von der vorangegangenen Ausbildungsförderung zurückgelegt gehabt, passt nicht zu ihren Angaben im Leistungsantrag vom 26. Juni 2010, wonach sie über keinerlei Geldmittel verfüge. Vor allem aber hat die Klägerin die Rücklagen mit lediglich etwa 300 EUR beziffert; das hätte nicht einmal für eine Monatsmiete ausgereicht. Auch die von der Klägerin erwähnten kleinen Geldzuwendungen der Geschwister können die Finanzierung der Mietkosten nicht ansatzweise erklären, da diese nicht mehr als etwa 100 EUR monatlich ausgemacht haben sollen. Schließlich überzeugt die erst auf Vorhalt nachgeschobene Behauptung der Klägerin nicht, sie habe sich von Freunden (S.) und vom Bruder (H1) Geld geliehen und damit die Miete finanziert. Denn damals erhielt sie noch Leistungen vom Beklagten, die für diesen Zweck hätten verwendet werden können.
Die verbleibenden Zweifel des Gerichts gehen zu Lasten der Klägerin, weshalb von der Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidung auszugehen ist.
Ob die Voraussetzungen für die Aufhebung der Leistungsbewilligung vorliegen, hat das Gericht grundsätzlich von Amts wegen aufzuklären (§ 103 SGG). Das SGG kennt keine subjektive Beweisführungslast der Beteiligten, d.h. es obliegt nicht den Beteiligten, für eine bestimmte Behauptung Beweis anzubieten, vielmehr hat das Gericht selbst die erforderlichen Aufklärungsmaßnahmen zu ergreifen. Allerdings gelten auch im Sozialgerichtsverfahren die Grundsätze der materiellen Beweislast, die vorgeben, wie zu entscheiden ist, wenn das Gericht die erforderlichen Tatsachen nicht umfassend ermitteln kann. Dabei gilt der Grundsatz, dass im Rahmen des anzuwendenden materiellen Rechts derjenige, der einen Anspruch geltend macht, die Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen trägt. Steht ein Aufhebungs- oder Rücknahmebescheid im Streit, trifft die objektive Beweislast dementsprechend grundsätzlich den Beklagten (vgl. BSG, Urteile vom 24.05.2006, Az.: B 11a AL 7/05 R, vom 21.03.2007, Az.: B 11a AL 21/06 R, und vom 28.08.2007, Az.: B 7/7a AL 10/06 R).
Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist jedoch dann zu machen, wenn solche Vorgänge nicht aufklärbar sind, die in der persönlichen Sphäre oder der Verantwortungssphäre des Leistungsempfängers wurzeln, d.h. wenn eine besondere Beweisnähe zum Leistungsempfänger vorliegt (BSG, Urteile vom 24.05.2006, Az.: B 11a AL 7/05 R, vom 21.03.2007, Az.: B 11a AL 21/06 R und vom 28.08.2007, Az.: B 7/7a AL 10/06 R). In diesen Fällen liegt die materielle Beweislast beim Leistungsempfänger. So verhält es sich auch hier, da es ausschließlich um Umstände geht, die zu gestalten, darzustellen und zu beeinflussen die Klägerin in der Lage war.
Die Klägerin kann sich auch nicht auf schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der ursprünglichen Bewilligung berufen. Es ist schon zweifelhaft, ob sie in Bezug auf den Monat Januar 2011 im Vertrauen auf die Bewilligung überhaupt irgendwelche Vermögensdispositionen getroffen hatte; die Miete wurde nicht mehr gezahlt und wird vom Vermieter auch nicht mehr gefordert. Jedenfalls ist ein Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X ausgeschlossen, da die Bewilligung auf Angaben beruhte, welche die Klägerin zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig bzw. unvollständig gemacht hat. Hier ist insbesondere auf die (wegen der angeblich angesparten Barmittel und der durchgreifenden Zweifel an ihrer Hilfebedürftigkeit offenbar unrichtige) Angabe im Bewilligungsantrag vom 26. Juni 2010 zu verweisen, dass sie über keinerlei Einkommen oder Vermögen verfüge.
Gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X muss der Verwaltungsakt innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen, die die rückwirkende Rücknahme rechtfertigen, aufgehoben werden. Diese Frist ist hier eingehalten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Ein Grund, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, ist nicht gegeben.
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