Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 54 SB 666/12
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 3 SB 21/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G erfüllt.
Der 1941 geborene Kläger hatte im Jahr 1994 einen Hirnfarkt erlitten und stellte danach einen Erstantrag nach dem Schwerbehindertengesetz. Zuletzt stellte das Versorgungsamt Braunschweig mit Ausführungbescheid vom 24. Oktober 2000 aufgrund eines im Gerichtsverfahren vor dem LSG Niedersachsen (L 9 SB 117/00) abgegebenen Teilanerkenntnisses einen Grad der Behinderung GdB von 50 für den Bereich Nervensystem und Psyche fest, wobei jeweils ein Teil-GdB von 30 für 1. eine Restaphasie mit Störung vornehmlich im Bereich der Schriftsprache mit leichtem hirnorganischen Psychosyndrom mit Beeinträchtigung der Aufmerksamkeitsfunktionen sowie 2. eine psychische Beeinträchtigung zugrunde gelegt wurde. Als weitere Funktionsbeeinträchtigungen wurden Gefühlsstörungen in der linken Körperhälfte, Bluthochdruck, ein Schlafapnoe-Syndrom und ein Wirbelsäulenschaden berücksichtigt, die sich jedoch mit einem Teil-GdB von jeweils 10 nicht auf den Gesamt-GdB auswirkten.
Am 6. November 2011 stellte der Kläger einen Neufeststellungsantrag, mit dem er die Feststellung des Merkzeichens G geltend machte, da eine Coxarthrose rechts mit Implantation einer Hüftgelenksprothese hinzugekommen war.
Gegen die mit Bescheid vom 18. April 2012 erfolgte Ablehnung erhob der Kläger Widerspruch und führte aus, es sei durch die Hüftoperation zu einer Beinlängendifferenz gekommen, die zu Schmerzen beim Gehen und Stehen führe. Außerdem seien Herzrhythmusstörungen und plötzlicher Schwindel zu berücksichtigen.
Nach Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte des Klägers wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12. September 2012 zurück.
Mit seiner dagegen am 15. Oktober 2012 erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, dass sich durch die Hüftoperation eine Verschlechterung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen ergeben habe und insbesondere seine Beweglichkeit eingeschränkt sei. Auch seine übrigen Erkrankungen seien nicht ausreichend gewürdigt worden.
Dem Sozialgericht haben Befundberichte der behandelnden Ärzte Dr. H. (Orthopäde), Dr. B. (Orthopäde), Dr. G. (Kardiologe/Internist), Dr. V. (Kardiologe/Internist), Dr. D. (Allgemeinmediziner), Dr. S. (Neurologe) sowie der Entlassungsbericht der D1-Klinik über den stationären Aufenthalt vom 25. Juli bis 12. August 2011 und zwei Arztbriefe der A. Klinik A1 über stationäre Aufenthalte vom 11. bis 14. September 2013 und vom 18. bis 22. November 2014 vorgelegen.
Das Sozialgericht hat die Klage sodann durch Gerichtsbescheid vom 29. Juni 2015 abgewiesen und ausgeführt, den vorliegenden Befunden lasse sich eine massive Einschränkung der Gehfähigkeit nicht entnehmen. Auch in Bezug auf die Herzerkrankung ergebe sich eine gute Belastbarkeit mit Beschwerdefreiheit. Ein Anfallsleiden mit mittlerer Anfallshäufigkeit sei nicht belegt und auch hinsichtlich des vorgetragenen Schwindels sei den Befunden Beschwerdefreiheit zu entnehmen.
Der Kläger hat gegen den ihm am 18. August 2015 zugestellten Gerichtsbescheid am 11. September 2015 Berufung eingelegt und verweist zur Begründung auf sein erstinstanzliches Vorbringen. Er benötige das Merkzeichen G, denn neben den zunehmenden körperlichen Beeinträchtigungen plagten ihn auch kognitive Defizite, die zu täglichen Zuständen der Verwirrung und Desorientierung führten. Er hat hierzu weitere Befundberichte von Dr. D., Dr. G., Dr. N. (Neurologin), der Praxisgemeinschaft Radiologie B1 sowie einen Arztbrief der A. Klinik A1 über einen stationären Aufenthalt vom 29. bis 31. Oktober 2014 eingereicht.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 29. Juni 2015 und den Bescheid der Beklagten vom 18. April 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält nach Auswertung der im Berufungsverfahren übersandten Befunde an ihrer Auffassung fest und bezieht sich auf eine gutachtliche Stellungnahme ihres beratenden Internisten Dr. P. vom 20. Februar 2016. Darin heißt es, es ergebe sich lediglich eine Neufassung des Herzleidens (Herzschrittmacher und Herzleistungsminderung, operierte koronare Herzkrankheit, Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck) mit einer GdB-Anhebung auf 20, der jedoch bei einer Ergometerleistung von 150 Watt keine wesentliche negative Beeinflussung der anderen Behinderungsleistungen zuzuerkennen sei. Zu den vorgetragenen kognitiven Defiziten mit Zuständen der Verwirrung und Desorientierung fänden sich in den vorgelegten Unterlagen keine ärztlichen Aussagen. Unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen festgestellten Behinderungsleiden untereinander lasse sich ein höherer Gesamt-GdB als 50 nicht begründen. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen G seien eindeutig nicht gegeben, weder aus orthopädischer noch aus kardialer Ursache. Ein behandlungspflichtiges Krampfleiden sei nicht dokumentiert. Eine Beinlängendifferenz von 0,5 cm wirke sich weder auf das Gangbild noch auf die Wirbelsäulenstatik gravierend aus.
Das Berufungsgericht hat den Kläger unter dem 8. März 2016 auf die fehlende Erfolgsaussicht der Berufung hingewiesen und ihm gleichzeitig gemäß §§ 153 Abs. 1, 106a Sozialgerichtsgesetz (SGG) eine Frist bis zum 29. März 2016 zur Angabe der Tatsachen gesetzt, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung er sich (noch) beschwert fühle. Der Kläger ist außerdem auf die gesetzlichen Folgen einer Einreichung von Erklärungen und Beweismittel nach Fristablauf hingewiesen. Auch für die eventuelle Stellung eines Antrages nach § 109 SGG ist dem Kläger eine Frist bis zum 29. März 2016 gesetzt worden. Weiterer Vortrag des Klägers ist danach nicht erfolgt.
Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 13. Juni 2017 der Berichterstatterin zur Entscheidung mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen (§ 153 Abs. 5 SGG).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte und die Schwerbehindertenakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige Berufung (§§ 143, 151 SGG) ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht und mit zutreffender Begründung abgewiesen, da die angefochtenen Bescheide rechtmäßig sind. Der Kläger kann die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G nicht beanspruchen. Die vom Kläger im Berufungsverfahren vorgelegten Befunde führen nicht zu einer anderen Beurteilung und vermögen auch die behauptete weitere Verschlechterung seiner Gehfähigkeit nicht zu belegen.
Gemäß § 145 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 SGB IX. Über das Vorliegen der damit ausgesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Nach § 146 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfreiheit im Straßenverkehr erheblich eingeschränkt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Das Gesetz fordert somit in § 145 Abs. 1 S. 1, § 146 Abs. 1 S. 1 SGB IX eine doppelte Kausalität: Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung muss sein Gehvermögen einschränken (BSG, Urteil vom 11.08.2015 – B 9 SB 1/14 R – Juris).
Die nähere Präzisierung des Personenkreises schwerbehinderter Menschen mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ergibt sich aus der nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX im Schwerbehindertenrecht entsprechend geltenden, nach § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizinverordnung – VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I 2412). Nach Teil D Nr. 1b S. 2 und 3 der Anlage zu § 2 VersMedV kommt es für die Prüfung der Voraussetzungen nicht auf die konkreten Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird. Nähere Umschreibungen für einzelne Krankheitsbilder und Behinderungen enthalten darüber hinaus Teil D Nr. 1d, e und f VersMedV. Nach Teil D Nr. 1d VersMedV sind diese Voraussetzungen als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen (S. 1). Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB von unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40 (S. 2). Auch bei inneren Leiden kommt es bei der Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an (S. 3). Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 und bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen (S. 4). Besonderheiten gelten für hirnorganische Anfälle (Teil D Nr. 1e) und Orientierungsstörungen infolge von Sehstörungen, Hörstörungen oder geistiger Behinderung (Teil D Nr. 1f), die grundsätzlich erst ab einem Behinderungsgrad von wenigstens 70 Merkzeichenrelevanz entfalten. Bei dem Kläger liegt keines dieser Krankheitsbilder vor.
Er leidet nicht an Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Auch eine andere Behinderung an den unteren Gliedmaßen, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirkt, besteht nicht. Zwar wurde ihm ein Hüftgelenkersatz rechts implantiert, von den behandelnden Ärzten werden insoweit jedoch weitgehende Beschwerdefreiheit und ein guter Prothesensitz (Dr. H. am 2. Januar 2012 bzw. 16. Juli 2012) sowie ein unauffälliges Gangbild (Dr. B. am 6. Februar 2013) beschrieben. Wegen der Beinlängendifferenz von 0,5 bzw. – nach Angaben des Klägers – 0,7 cm wird links ein 0,5 cm dicker Fersenkeil getragen. Eine besondere Auswirkung auf die Gehfähigkeit ist nirgends dokumentiert und auch nicht erkennbar.
Die Gehfähigkeit des Klägers ist auch durch innere Leiden nicht erheblich beeinträchtigt. Insbesondere liegt kein Herzschaden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 im Sinne von Teil B 9.1.1 VersMedV vor. Hierunter fällt eine Leistungsbeeinträchtigung bereits bei alltäglicher leichter Belastung sowie bei Beschwerden und Auftreten pathologischer Messdaten bei Ergometerbelastung mit 50 Watt. Eine solche liegt bei dem Kläger nicht vor. Bei ihm bestehen zwar eine koronare Herzkrankheit mit Stentimplantation, Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck und ein Zustand nach Herzschrittmacher-Implantation. Den vorliegenden Befunden ist jedoch eine stärkere Leistungsbeeinträchtigung nicht zu entnehmen. Vielmehr hat der Kläger anlässlich einer Untersuchung durch den Kardiologen Dr. G. am 16. Januar 2015 Beschwerdefreiheit angegeben und berichtet, dass er Sport treibt. Ergometrisch war der Kläger ebenso wie schon bei den Untersuchungen am 22. Juni 2012 und 24. Januar 2013 bis 150 Watt belastbar; der Abbruch erfolgte lediglich wegen muskulärer Erschöpfung. Herzschrittmachertypische Beschwerden werden im Bericht der A. Klinik A1 vom 27. Januar 2015 verneint. Auch zum vorgetragenen Schwindel finden sich keine Belege. Vielmehr hat Dr. G. in seinem Bericht vom 20. September 2012 mitgeteilt, dass der Kläger bezüglich Schwindel und Synkopen beschwerdefrei sei. Der Kardiologe Dr. V. hat in seinem Bericht vom 10. Mai 2012 ausgeführt, der Kläger habe angegeben, beim Sport keine Probleme zu haben. Es gebe keinen Hinweis auf eine hämodynamisch relevante koronare Herzkrankheit. Es bestehe eine gute linksventrikuläre Pumpfunktion, den Arrhythmien könne kein wesentlicher Krankheitswert beigemessen werden.
Nach Teil D Nr. 1e VersMedV ist bei hirnorganischen Anfällen die Beurteilung, ob durch sie eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit gegeben ist, von der Art und Häufigkeit der Anfälle sowie von der Tageszeit des Auftretens abhängig. Im Allgemeinen ist auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit erst ab einer mittleren Anfallshäufigkeit von mit einem GdB von wenigstens 70 zu schließen, wenn die Anfälle überwiegend am Tage auftreten. In den vorliegenden Unterlagen ist jedoch nur der Verdacht auf einen fokalen epileptischen Anfall am 11. September 2013 dokumentiert. Für die vom Kläger behaupteten "regelmäßig auftretenden epileptischen Anfälle" gibt es daher keinen Nachweis.
Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 11.08.2015, a.a.O.) sind die in Teil D Nr. 1 VersMedV aufgeführten Regelbeispiele allerdings nicht abschließend. Anspruch auf das Merkzeichen G hat vielmehr auch der schwerbehinderte Mensch, der aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist. Auch hierfür gibt es jedoch keine Anhaltspunkte, zumal der Kläger regelmäßig gegenüber den behandelnden Ärzten angegeben hat, beschwerdefrei Sport zu treiben und im Sommer sogar Bergsteigen zu gehen (Befundbericht von Dr. G. vom 24. Januar 2013).
Schließlich gibt es für die von ihm im Berufungsverfahren geltend gemachten kognitiven Defizite mit täglichen Zuständen der Verwirrung und Desorientierung keine Belege. Er erlitt zwar am 29. Oktober 2014 eine transistorisch-ischämische Attacke (TIA) und wurde daher in der U1 der A. Klinik A1 behandelt. Hinweise auf danach bestehende Störungen der Orientierungsfähigkeit finden sich jedoch nicht, auch nicht im Bericht der Neurologin Dr. N. vom 18. August 2015.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision wurde nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G erfüllt.
Der 1941 geborene Kläger hatte im Jahr 1994 einen Hirnfarkt erlitten und stellte danach einen Erstantrag nach dem Schwerbehindertengesetz. Zuletzt stellte das Versorgungsamt Braunschweig mit Ausführungbescheid vom 24. Oktober 2000 aufgrund eines im Gerichtsverfahren vor dem LSG Niedersachsen (L 9 SB 117/00) abgegebenen Teilanerkenntnisses einen Grad der Behinderung GdB von 50 für den Bereich Nervensystem und Psyche fest, wobei jeweils ein Teil-GdB von 30 für 1. eine Restaphasie mit Störung vornehmlich im Bereich der Schriftsprache mit leichtem hirnorganischen Psychosyndrom mit Beeinträchtigung der Aufmerksamkeitsfunktionen sowie 2. eine psychische Beeinträchtigung zugrunde gelegt wurde. Als weitere Funktionsbeeinträchtigungen wurden Gefühlsstörungen in der linken Körperhälfte, Bluthochdruck, ein Schlafapnoe-Syndrom und ein Wirbelsäulenschaden berücksichtigt, die sich jedoch mit einem Teil-GdB von jeweils 10 nicht auf den Gesamt-GdB auswirkten.
Am 6. November 2011 stellte der Kläger einen Neufeststellungsantrag, mit dem er die Feststellung des Merkzeichens G geltend machte, da eine Coxarthrose rechts mit Implantation einer Hüftgelenksprothese hinzugekommen war.
Gegen die mit Bescheid vom 18. April 2012 erfolgte Ablehnung erhob der Kläger Widerspruch und führte aus, es sei durch die Hüftoperation zu einer Beinlängendifferenz gekommen, die zu Schmerzen beim Gehen und Stehen führe. Außerdem seien Herzrhythmusstörungen und plötzlicher Schwindel zu berücksichtigen.
Nach Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte des Klägers wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12. September 2012 zurück.
Mit seiner dagegen am 15. Oktober 2012 erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, dass sich durch die Hüftoperation eine Verschlechterung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen ergeben habe und insbesondere seine Beweglichkeit eingeschränkt sei. Auch seine übrigen Erkrankungen seien nicht ausreichend gewürdigt worden.
Dem Sozialgericht haben Befundberichte der behandelnden Ärzte Dr. H. (Orthopäde), Dr. B. (Orthopäde), Dr. G. (Kardiologe/Internist), Dr. V. (Kardiologe/Internist), Dr. D. (Allgemeinmediziner), Dr. S. (Neurologe) sowie der Entlassungsbericht der D1-Klinik über den stationären Aufenthalt vom 25. Juli bis 12. August 2011 und zwei Arztbriefe der A. Klinik A1 über stationäre Aufenthalte vom 11. bis 14. September 2013 und vom 18. bis 22. November 2014 vorgelegen.
Das Sozialgericht hat die Klage sodann durch Gerichtsbescheid vom 29. Juni 2015 abgewiesen und ausgeführt, den vorliegenden Befunden lasse sich eine massive Einschränkung der Gehfähigkeit nicht entnehmen. Auch in Bezug auf die Herzerkrankung ergebe sich eine gute Belastbarkeit mit Beschwerdefreiheit. Ein Anfallsleiden mit mittlerer Anfallshäufigkeit sei nicht belegt und auch hinsichtlich des vorgetragenen Schwindels sei den Befunden Beschwerdefreiheit zu entnehmen.
Der Kläger hat gegen den ihm am 18. August 2015 zugestellten Gerichtsbescheid am 11. September 2015 Berufung eingelegt und verweist zur Begründung auf sein erstinstanzliches Vorbringen. Er benötige das Merkzeichen G, denn neben den zunehmenden körperlichen Beeinträchtigungen plagten ihn auch kognitive Defizite, die zu täglichen Zuständen der Verwirrung und Desorientierung führten. Er hat hierzu weitere Befundberichte von Dr. D., Dr. G., Dr. N. (Neurologin), der Praxisgemeinschaft Radiologie B1 sowie einen Arztbrief der A. Klinik A1 über einen stationären Aufenthalt vom 29. bis 31. Oktober 2014 eingereicht.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 29. Juni 2015 und den Bescheid der Beklagten vom 18. April 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält nach Auswertung der im Berufungsverfahren übersandten Befunde an ihrer Auffassung fest und bezieht sich auf eine gutachtliche Stellungnahme ihres beratenden Internisten Dr. P. vom 20. Februar 2016. Darin heißt es, es ergebe sich lediglich eine Neufassung des Herzleidens (Herzschrittmacher und Herzleistungsminderung, operierte koronare Herzkrankheit, Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck) mit einer GdB-Anhebung auf 20, der jedoch bei einer Ergometerleistung von 150 Watt keine wesentliche negative Beeinflussung der anderen Behinderungsleistungen zuzuerkennen sei. Zu den vorgetragenen kognitiven Defiziten mit Zuständen der Verwirrung und Desorientierung fänden sich in den vorgelegten Unterlagen keine ärztlichen Aussagen. Unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen festgestellten Behinderungsleiden untereinander lasse sich ein höherer Gesamt-GdB als 50 nicht begründen. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen G seien eindeutig nicht gegeben, weder aus orthopädischer noch aus kardialer Ursache. Ein behandlungspflichtiges Krampfleiden sei nicht dokumentiert. Eine Beinlängendifferenz von 0,5 cm wirke sich weder auf das Gangbild noch auf die Wirbelsäulenstatik gravierend aus.
Das Berufungsgericht hat den Kläger unter dem 8. März 2016 auf die fehlende Erfolgsaussicht der Berufung hingewiesen und ihm gleichzeitig gemäß §§ 153 Abs. 1, 106a Sozialgerichtsgesetz (SGG) eine Frist bis zum 29. März 2016 zur Angabe der Tatsachen gesetzt, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung er sich (noch) beschwert fühle. Der Kläger ist außerdem auf die gesetzlichen Folgen einer Einreichung von Erklärungen und Beweismittel nach Fristablauf hingewiesen. Auch für die eventuelle Stellung eines Antrages nach § 109 SGG ist dem Kläger eine Frist bis zum 29. März 2016 gesetzt worden. Weiterer Vortrag des Klägers ist danach nicht erfolgt.
Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 13. Juni 2017 der Berichterstatterin zur Entscheidung mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen (§ 153 Abs. 5 SGG).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte und die Schwerbehindertenakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige Berufung (§§ 143, 151 SGG) ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht und mit zutreffender Begründung abgewiesen, da die angefochtenen Bescheide rechtmäßig sind. Der Kläger kann die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G nicht beanspruchen. Die vom Kläger im Berufungsverfahren vorgelegten Befunde führen nicht zu einer anderen Beurteilung und vermögen auch die behauptete weitere Verschlechterung seiner Gehfähigkeit nicht zu belegen.
Gemäß § 145 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 SGB IX. Über das Vorliegen der damit ausgesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Nach § 146 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfreiheit im Straßenverkehr erheblich eingeschränkt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Das Gesetz fordert somit in § 145 Abs. 1 S. 1, § 146 Abs. 1 S. 1 SGB IX eine doppelte Kausalität: Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung muss sein Gehvermögen einschränken (BSG, Urteil vom 11.08.2015 – B 9 SB 1/14 R – Juris).
Die nähere Präzisierung des Personenkreises schwerbehinderter Menschen mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ergibt sich aus der nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX im Schwerbehindertenrecht entsprechend geltenden, nach § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizinverordnung – VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I 2412). Nach Teil D Nr. 1b S. 2 und 3 der Anlage zu § 2 VersMedV kommt es für die Prüfung der Voraussetzungen nicht auf die konkreten Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird. Nähere Umschreibungen für einzelne Krankheitsbilder und Behinderungen enthalten darüber hinaus Teil D Nr. 1d, e und f VersMedV. Nach Teil D Nr. 1d VersMedV sind diese Voraussetzungen als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen (S. 1). Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB von unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40 (S. 2). Auch bei inneren Leiden kommt es bei der Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an (S. 3). Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 und bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen (S. 4). Besonderheiten gelten für hirnorganische Anfälle (Teil D Nr. 1e) und Orientierungsstörungen infolge von Sehstörungen, Hörstörungen oder geistiger Behinderung (Teil D Nr. 1f), die grundsätzlich erst ab einem Behinderungsgrad von wenigstens 70 Merkzeichenrelevanz entfalten. Bei dem Kläger liegt keines dieser Krankheitsbilder vor.
Er leidet nicht an Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Auch eine andere Behinderung an den unteren Gliedmaßen, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirkt, besteht nicht. Zwar wurde ihm ein Hüftgelenkersatz rechts implantiert, von den behandelnden Ärzten werden insoweit jedoch weitgehende Beschwerdefreiheit und ein guter Prothesensitz (Dr. H. am 2. Januar 2012 bzw. 16. Juli 2012) sowie ein unauffälliges Gangbild (Dr. B. am 6. Februar 2013) beschrieben. Wegen der Beinlängendifferenz von 0,5 bzw. – nach Angaben des Klägers – 0,7 cm wird links ein 0,5 cm dicker Fersenkeil getragen. Eine besondere Auswirkung auf die Gehfähigkeit ist nirgends dokumentiert und auch nicht erkennbar.
Die Gehfähigkeit des Klägers ist auch durch innere Leiden nicht erheblich beeinträchtigt. Insbesondere liegt kein Herzschaden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 im Sinne von Teil B 9.1.1 VersMedV vor. Hierunter fällt eine Leistungsbeeinträchtigung bereits bei alltäglicher leichter Belastung sowie bei Beschwerden und Auftreten pathologischer Messdaten bei Ergometerbelastung mit 50 Watt. Eine solche liegt bei dem Kläger nicht vor. Bei ihm bestehen zwar eine koronare Herzkrankheit mit Stentimplantation, Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck und ein Zustand nach Herzschrittmacher-Implantation. Den vorliegenden Befunden ist jedoch eine stärkere Leistungsbeeinträchtigung nicht zu entnehmen. Vielmehr hat der Kläger anlässlich einer Untersuchung durch den Kardiologen Dr. G. am 16. Januar 2015 Beschwerdefreiheit angegeben und berichtet, dass er Sport treibt. Ergometrisch war der Kläger ebenso wie schon bei den Untersuchungen am 22. Juni 2012 und 24. Januar 2013 bis 150 Watt belastbar; der Abbruch erfolgte lediglich wegen muskulärer Erschöpfung. Herzschrittmachertypische Beschwerden werden im Bericht der A. Klinik A1 vom 27. Januar 2015 verneint. Auch zum vorgetragenen Schwindel finden sich keine Belege. Vielmehr hat Dr. G. in seinem Bericht vom 20. September 2012 mitgeteilt, dass der Kläger bezüglich Schwindel und Synkopen beschwerdefrei sei. Der Kardiologe Dr. V. hat in seinem Bericht vom 10. Mai 2012 ausgeführt, der Kläger habe angegeben, beim Sport keine Probleme zu haben. Es gebe keinen Hinweis auf eine hämodynamisch relevante koronare Herzkrankheit. Es bestehe eine gute linksventrikuläre Pumpfunktion, den Arrhythmien könne kein wesentlicher Krankheitswert beigemessen werden.
Nach Teil D Nr. 1e VersMedV ist bei hirnorganischen Anfällen die Beurteilung, ob durch sie eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit gegeben ist, von der Art und Häufigkeit der Anfälle sowie von der Tageszeit des Auftretens abhängig. Im Allgemeinen ist auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit erst ab einer mittleren Anfallshäufigkeit von mit einem GdB von wenigstens 70 zu schließen, wenn die Anfälle überwiegend am Tage auftreten. In den vorliegenden Unterlagen ist jedoch nur der Verdacht auf einen fokalen epileptischen Anfall am 11. September 2013 dokumentiert. Für die vom Kläger behaupteten "regelmäßig auftretenden epileptischen Anfälle" gibt es daher keinen Nachweis.
Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 11.08.2015, a.a.O.) sind die in Teil D Nr. 1 VersMedV aufgeführten Regelbeispiele allerdings nicht abschließend. Anspruch auf das Merkzeichen G hat vielmehr auch der schwerbehinderte Mensch, der aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist. Auch hierfür gibt es jedoch keine Anhaltspunkte, zumal der Kläger regelmäßig gegenüber den behandelnden Ärzten angegeben hat, beschwerdefrei Sport zu treiben und im Sommer sogar Bergsteigen zu gehen (Befundbericht von Dr. G. vom 24. Januar 2013).
Schließlich gibt es für die von ihm im Berufungsverfahren geltend gemachten kognitiven Defizite mit täglichen Zuständen der Verwirrung und Desorientierung keine Belege. Er erlitt zwar am 29. Oktober 2014 eine transistorisch-ischämische Attacke (TIA) und wurde daher in der U1 der A. Klinik A1 behandelt. Hinweise auf danach bestehende Störungen der Orientierungsfähigkeit finden sich jedoch nicht, auch nicht im Bericht der Neurologin Dr. N. vom 18. August 2015.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision wurde nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Login
HAM
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