Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 6 KR 249/15
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 KR 106/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Rücknahme eines eine Auffangversicherung feststellenden Verwaltungsaktes.
Der am xxxxx.1968 geborenen Kläger war bis zum 23.11.1994 bei den Rechtsvorgängern der Beklagten zu 1 und 2 (AOK H.) kranken- und pflegeversichert. Ab dem 24.11.1994 verfügte der Kläger weder über Kranken- noch Pflegeversicherung.
Am 19.01.2005 stellte der Kläger einen Antrag auf Abschluss eines Antrags auf private Krankenversicherung bei der Beigeladenen. Aufgrund des Antrags wurde der Kläger bei der Beigeladenen im Zeitraum 01.02.2005 bis 30.11.2005 unter der Versicherungsnummer: 357/033115727 A 00016 als Inhaber einer Krankenvoll- und einer Pflegeversicherung geführt. Versicherungsprämie war ein Betrag von 170,03 EUR. Dieser Betrag wurde durch die Beigeladene einmalig erfolgreich vom damaligen Konto des Klägers abgebucht. In der Folge kam es zu Lastschriftrückläufern. Anträge auf Erstattung reichte der Kläger bis zum 30.11.2005, dem Zeitpunkt der Beendigung des Vertrages durch die Beigeladene aufgrund der Nichtzahlung von Beiträgen, bei dieser nicht ein.
In der Zeit vom 23.10. bis 02.11.2012 wurde der Kläger in der A. Klinik N. wegen Herzproblemen behandelt. Eine erneute Behandlung erfolgte im Zeitraum 06.11. bis 07.11.2012. Der Kläger zeigte den Beklagten am 26.11.2012 die fehlende Kranken- und Pflegeversicherung an. Er füllte die Frage der Vorversicherung im Fragebogen mit: "letzte Krankenversicherung in der Zeit vom 24.07.1989 bis 23.11.1994" aus. In der Zeit vom 11.12.2012 bis 17.12.2012 befand sich der Kläger zur Durchführung einer Herzoperation erneut in der A. Klinik N ... Am 06.01.2013 erhielt der Kläger eine Rechnung der A. Klinik für die 3 Behandlungen über einen Gesamtbetrag von 23.536.31 EUR. Ab Februar 2013 befand sich der Kläger im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Am 14.02.2013 erfolgte ein Telefongespräch zwischen einem Mitarbeiter der Beklagten zu 1 und dem Kläger. Der Mitarbeiter der Beklagten zu 1 vermerkte sich hierzu unter anderem folgende Punkte: "Rückruf Versicherter, habe ihn um den Dreizeiler gebeten, dass er in der Zeit 24.11.1994 bis 31.03.2007 auch nicht privat krankenversichert war ( ) Versicherter fängt schon während ich spreche an "nein, nein, nein" zu sagen. Das würden wir nicht mehr von ihm bekommen, das sei doch Taktik, warum hat man ihm das denn nicht schon früher gesagt, das kann doch nicht sein er habe doch schon die Bestätigung der DRV beigelegt."
Am 18.02.2013 legte der Kläger eine schriftliche Bestätigung bei der Beklagten zu 1. vor, aus er sich ergab, dass er seit November 1994 nicht mehr krankenversichert gewesen sei.
Mit Bescheid vom 30.04.2013 stellte die Beklagte zu 1 auch im Namen der Beklagten zu 2 eine Mitgliedschaft in der Kranken- und Pflegeversicherung ab dem 01.04.2007 aufgrund von § 5 Abs. 1 Nr. 13 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) fest. Gleichzeitig wurden Beiträge für die Zeit ab dem 01.12.2008 in Höhe von insgesamt von 11279,54 EUR festgesetzt. Der Kläger legte gegen diesen Bescheid hinsichtlich der Beitragsfestsetzung Widerspruch ein und erklärte einen Verrechnungswunsch mit den Kosten für die Behandlung in der A. Klinik N ... In der weiteren Korrespondenz ging die Beklagte zu 1 von einer Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V aus.
Mit Schreiben vom 29.10.2013 teilte die Beklagte zu 1 auch im Namen der Beklagten zu 2 dem Kläger mit, das A. Klinikum habe mitgeteilt, dass der Kläger bei der Aufnahme eine Karte der Beigeladenen vorgezeigt habe. Der Kläger werde zu einer Rücknahme des Bescheides vom 30.04.2013 angehört. Eine Rückmeldung durch den Kläger erfolgte nicht. Mit Bescheid vom 08.07.2014 hob die Beklagte zu 1 auch im Namen der Beklagten zu 2 den Bescheid vom 30.04.2013 vollständig auf. Als Begründung wurde angeführt, der Kläger unterfalle der Auffangversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nicht, da er in der Zeit vom 01.02.2005 bis 30.11.2005 bei der Beigeladenen privat krankenversichert gewesen sei. Dies habe der Kläger offensichtlich wider besseres Wissen bewusst verschwiegen. Eine Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung bleibe ihm daher versagt. Ausführungen zu der Ausübung von Ermessen finden sich nicht.
Der Kläger legte gegen diesen Bescheid mit Schreiben vom 31.07.2014 (eingegangen am 05.08.2014) Widerspruch ein, der nicht begründet war.
Mit Widerspruchsbescheid vom 18.02.2015 wies die Beklagte zu 1 auch im Namen der Beklagten zu 2 den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde auf den Bescheid vom 08.07.2014 verwiesen. Die Beklagten seien bei Beachtung von § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) berechtigt den Bescheid vom 30.04.2013 aufzuheben, weil der Kläger wider besseres Wissen oder wenigstens grob fahrlässig unrichtige Angaben zu seinem letzten Krankenversicherungsschutz gemacht habe. Auch im Widerspruchsbescheid finden sich Ausführungen zum Ermessen nicht.
Der Kläger hat am 02.03.2015 Klage beim Sozialgericht erhoben. Mit der Beigeladenen sei ein Vertrag damals nicht zu Stande gekommen, sondern es sei nur ein Probeantrag gestellt worden.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hat der Kläger behauptet, er habe im Jahr 2005, nachdem die erste Prämie durch den Beigeladenen bei ihm abgebucht worden war, dort angerufen und gefragt, wieso eine Abbuchung erfolgt sei, da seiner Ansicht nach kein Vertrag zu Stande gekommen sei. Weiteren Abbuchungen habe er widersprochen. Er habe dann gedacht, dass das Ganze erledigt sei. Es sei außerdem falsch, dass er die Versicherungskarte der Beigeladenen im Krankenhaus vorgezeigt habe. Vielmehr sei er bei Einlieferung bewusstlos gewesen. In seinem Portemonnaie habe sich eine Visitenkarte der Beigeladenen befunden, die durch das Personal des Krankenhauses entnommen worden sei.
Das Sozialgericht hat der Klage mit Urteil vom 28. Juli 2017 stattgegeben und die streitigen Bescheide aufgehoben, weil keine Ermessensausübung zu erkennen sei, obwohl diese erforderlich gewesen wäre, da kein Fall der Ermessensreduzierung auf Null vorgelegen habe. Dies sei nur bei einer vorsätzlichen Täuschung des Klägers begründbar gewesen, die aber aufgrund einer möglichen falschen rechtlichen Beurteilung des Vertrages mit der Beigeladenen nicht sicher festzustellen sei.
Die Beklagte hält mit ihrer gegen diese Entscheidung eingelegten Berufung daran fest, dass eine Ermessensausübung entbehrlich gewesen sei, da aufgrund der vorsätzlich falsch vom Kläger gemachten Angaben eine Ermessensreduzierung auf Null vorgelegen habe. Der Kündigung durch die Beigeladene habe vielfältiger Schriftverkehr vorausgehen müssen. Es sei daher nicht nachvollziehbar, dass der Kläger nichts von einem bestehenden Versicherungsverhältnis bei der Beigeladenen gewusst haben wolle. Dazu passe, dass er sich in dem Telefonat mit der Beklagten zu diesem Punkt als widerspenstig erwiesen habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28. Juli 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beigeladene
stellt keinen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 14. Juni 2018, die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten sowie den weiteren Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist statthaft (§§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben.
Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet.
Das Sozialgericht hat die rechtlichen Grundlagen des Falles zutreffend erkannt und dargestellt. Es hat daraus auch die rechtlich richtigen Schlüsse gezogen.
Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Ausgangsbescheid vom 30. April 2013 zwei Verfügungssätze enthält: zum einen die Feststellung der Versicherungspflicht, zum anderen die Beitragsfestsetzung.
Der Kläger hatte bei verständiger Würdigung seines Verhaltens nur gegen die Beitragsfestsetzung Widerspruch eingelegt; die Feststellung der Versicherungspflicht war hingegen in seinem Interesse und ist damit bestandskräftig geworden. Diese bestandskräftige Feststellung der Versicherungspflicht wurde dann mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 8. Juli 2014 rückwirkend zurückgenommen. Gleichzeitig wurde damit der Beitragsbescheid aufgehoben (dem mit der nunmehr fehlenden Versicherungspflicht die Grundlage entzogen war) und damit dem hiergegen noch anhängigen Widerspruch abgeholfen.
Rechtsgrundlage der Rücknahme ist – wie das SG zutreffend ausgeführt hat – § 45 SGB X.
Auf Tatbestandsseite ist für die rückwirkende Aufhebung nach § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X das Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X erforderlich. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann jedoch letztlich dahinstehen. Denn zumindest fehlt es an der auf Rechtsfolgenseite nötigen Ermessensausübung durch die Beklagte.
Fest steht, dass auch in den Fällen des § 45 Abs. 4 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 SGB X Ermessen auszuüben ist. Die Formulierung in Abs. 4 Satz 1 "wird" ist insoweit missverständlich. Ansonsten wäre auch die Regelung des § 330 Abs. 2 SGB III, die in ihrem Anwendungsbereich für die Fälle des § 45 Abs. 4 SGB X eine gebundene Entscheidung anordnet, unverständlich und überflüssig.
Eine Ermessensausübung ist jedoch weder im Bescheid vom 8. Juli 2018 noch im Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 2018 ersichtlich. Allein die Formulierung im Widerspruchsbescheid, die Beklagte sei zur Aufhebung "berechtigt" gewesen, lässt bei wohlwollender Betrachtung den Schluss zu, dass die Beklagte sich evtl. bewusst war, zur Aufhebung nicht im Sinne einer gebundenen Entscheidung verpflichtet gewesen zu sein. Allerdings reicht dieser Umstand allein nicht aus, um von einer Ermessensausübung ausgehen zu können. Denn es folgen Ausführungen, die allein auf die Vertrauensschutzprüfung des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X abzielen. Eine Ermessensausübung hätte aber gerade im Anschluss daran auf Rechtsfolgenseite erfolgen müssen.
Das Sozialgericht ist daher zutreffend davon ausgegangen, dass die Bescheide nur bei Annahme einer Ermessensreduzierung auf Null Bestand haben könnten. Ob überhaupt und ggf. unter welchen Voraussetzungen eine solche Ermessensreduzierung im Rahmen des § 45 SGB X möglich ist, ist – sogar zwischen den Senaten des BSG – umstritten.
Man wird aber festhalten können, dass sie einen seltenen Ausnahmefall darstellt und voraussetzt, dass es nach dem festgestellten Sachverhalt ausgeschlossen ist, dass Umstände vorliegen, die eine anderweitige den Betroffenen ganz oder teilweise begünstigende Entscheidungsfindung rechtsfehlerfrei zuließen. Dies wird in aller Regel nicht der Fall sein (in diesem Sinne BSG, Urt. v. 11.04.2002 – B 3 P 8/01 R mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus der Rspr. des BSG). Diskutiert wird eine Ermessensreduzierung vor allem bei Bösgläubigkeit des Begünstigten i.S. betrügerischen Verhaltens (LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 29.10.2009 - L 10 KR 20/04, Rn. 56 bei juris; von Wulffen/Wiesner aaO mwN). Letztlich dürfte es eine individuelle Entscheidung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles sein, ob eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt (vgl. BSG, Urt. v. 26.09.1990 - 9b/7 RAr 30/89).
Gerade die Berücksichtigung der besonderen Umstände dieses konkreten Falles lassen den Senat daran zweifeln, dass der Kläger bei den Angaben zu seiner Vorversicherung in einer Art und Weise vorsätzlich gehandelt hat, die es rechtfertigen könnten, von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen.
Die Situation des Klägers war damals geprägt von dem Umstand, dass er aufgrund seiner plötzlich und unerwartet aufgetretenen schweren Herzerkrankung mit einem Ruck aus seinem bisherigen (Berufs-)Leben gerissen wurde. Diese Erkrankung erforderte mehrfach längere Krankenhausaufenthalte mit teilweise offensichtlich lebensbedrohlichen Situationen. Es ist für den Senat nachvollziehbar, dass dies maßgeblichen Einfluss auch auf die Psyche und das Erinnerungsvermögen des Klägers hatte. Es leuchtet dem Senat nicht ein, mit welcher Motivation und welchem Ziel der Kläger in betrügerischer Absicht versucht haben sollte, unbedingt eine Versicherung bei der Beklagten und nicht bei der Beigeladenen zu erreichen. Nachvollziehbar ist, dass er aufgrund seiner Erkrankung nunmehr – nachdem ihm dies zuvor offensichtlich nicht so wichtig war – überhaupt den Schutz einer Krankenversicherung erreichen wollte. Bei welcher Versicherung ihm dieser gewährt wurde, dürfte ihm aber relativ egal gewesen sein. So hat der Prozessbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung auch angegeben, dass es vor allem sein Rat gewesen sei, gegen den streitigen Bescheid vorzugehen, um bei der Beklagten versichert zu bleiben.
Unter diesem Blickwinkel lässt sich auch das Verhalten des Klägers in dem besagten Telefonat mit einem Mitarbeiter der Beklagten erklären und muss nicht als Versuch einer vorsätzlichen Täuschung verstanden werden. Dieses Gespräch fand im Februar 2013 und damit kurz nach dem Auftreten der Herzerkrankung und den zwei dadurch notwendigen Krankenhausaufenthalten statt. Für den Senat ist gut nachvollziehbar, dass der Kläger hier – wie die Beklagte es formuliert – unwirsch auf die Nachfragen nach seiner Vorversicherung reagiert hat, weil er befürchtete, dass sich die Feststellung der in seiner Krankheitssituation dringend nötigen Absicherung durch eine Krankenversicherung weiter verzögern würde.
Die Argumentation der Beklagten, dass der Kläger im Zusammenhang mit den Beitragseinziehungsversuchen durch die Beigeladene vielfach Schreiben von dieser erhalten haben müsse, aus denen sich das Vorliegen einer Versicherung bei der Beigeladenen ergeben habe, führt nicht zu einer anderen Betrachtung. Denn zum einen konnte die Beigeladenen trotz mehrfacher Aufforderung keine derartigen Schreiben vorlegen. Dieser Umstand muss zu Lasten der Beklagten gehen, da sie sich auf das Vorliegen einer Ermessensreduzierung auf Null beruft und damit die objektive Beweislast trägt. Zum anderen hält es der Senat für glaubhaft, dass sich der Kläger in der konkreten Krankheitssituation Ende 2012, Anfang 2013 nicht mehr an diese Umstände erinnern konnte.
Auch wenn letztlich viele genaue Umstände dieses Falles unklar bleiben und auch nicht verkannt wird, dass der Kläger sich scheinbar oft an Umstände, die für ihn in diesem Verfahren schädlich sein könnten, nicht erinnern konnte, hat der Senat auf der Grundlage des ermittelten Sachverhalts durchgreifende Zweifel daran, dass die Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegen. Die Unklarheiten, die bleiben, gehen nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu Lasten der Beklagten, die auch selbst keine weiteren für sie günstigen Umstände belegen konnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Rücknahme eines eine Auffangversicherung feststellenden Verwaltungsaktes.
Der am xxxxx.1968 geborenen Kläger war bis zum 23.11.1994 bei den Rechtsvorgängern der Beklagten zu 1 und 2 (AOK H.) kranken- und pflegeversichert. Ab dem 24.11.1994 verfügte der Kläger weder über Kranken- noch Pflegeversicherung.
Am 19.01.2005 stellte der Kläger einen Antrag auf Abschluss eines Antrags auf private Krankenversicherung bei der Beigeladenen. Aufgrund des Antrags wurde der Kläger bei der Beigeladenen im Zeitraum 01.02.2005 bis 30.11.2005 unter der Versicherungsnummer: 357/033115727 A 00016 als Inhaber einer Krankenvoll- und einer Pflegeversicherung geführt. Versicherungsprämie war ein Betrag von 170,03 EUR. Dieser Betrag wurde durch die Beigeladene einmalig erfolgreich vom damaligen Konto des Klägers abgebucht. In der Folge kam es zu Lastschriftrückläufern. Anträge auf Erstattung reichte der Kläger bis zum 30.11.2005, dem Zeitpunkt der Beendigung des Vertrages durch die Beigeladene aufgrund der Nichtzahlung von Beiträgen, bei dieser nicht ein.
In der Zeit vom 23.10. bis 02.11.2012 wurde der Kläger in der A. Klinik N. wegen Herzproblemen behandelt. Eine erneute Behandlung erfolgte im Zeitraum 06.11. bis 07.11.2012. Der Kläger zeigte den Beklagten am 26.11.2012 die fehlende Kranken- und Pflegeversicherung an. Er füllte die Frage der Vorversicherung im Fragebogen mit: "letzte Krankenversicherung in der Zeit vom 24.07.1989 bis 23.11.1994" aus. In der Zeit vom 11.12.2012 bis 17.12.2012 befand sich der Kläger zur Durchführung einer Herzoperation erneut in der A. Klinik N ... Am 06.01.2013 erhielt der Kläger eine Rechnung der A. Klinik für die 3 Behandlungen über einen Gesamtbetrag von 23.536.31 EUR. Ab Februar 2013 befand sich der Kläger im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Am 14.02.2013 erfolgte ein Telefongespräch zwischen einem Mitarbeiter der Beklagten zu 1 und dem Kläger. Der Mitarbeiter der Beklagten zu 1 vermerkte sich hierzu unter anderem folgende Punkte: "Rückruf Versicherter, habe ihn um den Dreizeiler gebeten, dass er in der Zeit 24.11.1994 bis 31.03.2007 auch nicht privat krankenversichert war ( ) Versicherter fängt schon während ich spreche an "nein, nein, nein" zu sagen. Das würden wir nicht mehr von ihm bekommen, das sei doch Taktik, warum hat man ihm das denn nicht schon früher gesagt, das kann doch nicht sein er habe doch schon die Bestätigung der DRV beigelegt."
Am 18.02.2013 legte der Kläger eine schriftliche Bestätigung bei der Beklagten zu 1. vor, aus er sich ergab, dass er seit November 1994 nicht mehr krankenversichert gewesen sei.
Mit Bescheid vom 30.04.2013 stellte die Beklagte zu 1 auch im Namen der Beklagten zu 2 eine Mitgliedschaft in der Kranken- und Pflegeversicherung ab dem 01.04.2007 aufgrund von § 5 Abs. 1 Nr. 13 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) fest. Gleichzeitig wurden Beiträge für die Zeit ab dem 01.12.2008 in Höhe von insgesamt von 11279,54 EUR festgesetzt. Der Kläger legte gegen diesen Bescheid hinsichtlich der Beitragsfestsetzung Widerspruch ein und erklärte einen Verrechnungswunsch mit den Kosten für die Behandlung in der A. Klinik N ... In der weiteren Korrespondenz ging die Beklagte zu 1 von einer Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V aus.
Mit Schreiben vom 29.10.2013 teilte die Beklagte zu 1 auch im Namen der Beklagten zu 2 dem Kläger mit, das A. Klinikum habe mitgeteilt, dass der Kläger bei der Aufnahme eine Karte der Beigeladenen vorgezeigt habe. Der Kläger werde zu einer Rücknahme des Bescheides vom 30.04.2013 angehört. Eine Rückmeldung durch den Kläger erfolgte nicht. Mit Bescheid vom 08.07.2014 hob die Beklagte zu 1 auch im Namen der Beklagten zu 2 den Bescheid vom 30.04.2013 vollständig auf. Als Begründung wurde angeführt, der Kläger unterfalle der Auffangversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nicht, da er in der Zeit vom 01.02.2005 bis 30.11.2005 bei der Beigeladenen privat krankenversichert gewesen sei. Dies habe der Kläger offensichtlich wider besseres Wissen bewusst verschwiegen. Eine Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung bleibe ihm daher versagt. Ausführungen zu der Ausübung von Ermessen finden sich nicht.
Der Kläger legte gegen diesen Bescheid mit Schreiben vom 31.07.2014 (eingegangen am 05.08.2014) Widerspruch ein, der nicht begründet war.
Mit Widerspruchsbescheid vom 18.02.2015 wies die Beklagte zu 1 auch im Namen der Beklagten zu 2 den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde auf den Bescheid vom 08.07.2014 verwiesen. Die Beklagten seien bei Beachtung von § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) berechtigt den Bescheid vom 30.04.2013 aufzuheben, weil der Kläger wider besseres Wissen oder wenigstens grob fahrlässig unrichtige Angaben zu seinem letzten Krankenversicherungsschutz gemacht habe. Auch im Widerspruchsbescheid finden sich Ausführungen zum Ermessen nicht.
Der Kläger hat am 02.03.2015 Klage beim Sozialgericht erhoben. Mit der Beigeladenen sei ein Vertrag damals nicht zu Stande gekommen, sondern es sei nur ein Probeantrag gestellt worden.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hat der Kläger behauptet, er habe im Jahr 2005, nachdem die erste Prämie durch den Beigeladenen bei ihm abgebucht worden war, dort angerufen und gefragt, wieso eine Abbuchung erfolgt sei, da seiner Ansicht nach kein Vertrag zu Stande gekommen sei. Weiteren Abbuchungen habe er widersprochen. Er habe dann gedacht, dass das Ganze erledigt sei. Es sei außerdem falsch, dass er die Versicherungskarte der Beigeladenen im Krankenhaus vorgezeigt habe. Vielmehr sei er bei Einlieferung bewusstlos gewesen. In seinem Portemonnaie habe sich eine Visitenkarte der Beigeladenen befunden, die durch das Personal des Krankenhauses entnommen worden sei.
Das Sozialgericht hat der Klage mit Urteil vom 28. Juli 2017 stattgegeben und die streitigen Bescheide aufgehoben, weil keine Ermessensausübung zu erkennen sei, obwohl diese erforderlich gewesen wäre, da kein Fall der Ermessensreduzierung auf Null vorgelegen habe. Dies sei nur bei einer vorsätzlichen Täuschung des Klägers begründbar gewesen, die aber aufgrund einer möglichen falschen rechtlichen Beurteilung des Vertrages mit der Beigeladenen nicht sicher festzustellen sei.
Die Beklagte hält mit ihrer gegen diese Entscheidung eingelegten Berufung daran fest, dass eine Ermessensausübung entbehrlich gewesen sei, da aufgrund der vorsätzlich falsch vom Kläger gemachten Angaben eine Ermessensreduzierung auf Null vorgelegen habe. Der Kündigung durch die Beigeladene habe vielfältiger Schriftverkehr vorausgehen müssen. Es sei daher nicht nachvollziehbar, dass der Kläger nichts von einem bestehenden Versicherungsverhältnis bei der Beigeladenen gewusst haben wolle. Dazu passe, dass er sich in dem Telefonat mit der Beklagten zu diesem Punkt als widerspenstig erwiesen habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28. Juli 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beigeladene
stellt keinen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 14. Juni 2018, die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten sowie den weiteren Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist statthaft (§§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben.
Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet.
Das Sozialgericht hat die rechtlichen Grundlagen des Falles zutreffend erkannt und dargestellt. Es hat daraus auch die rechtlich richtigen Schlüsse gezogen.
Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Ausgangsbescheid vom 30. April 2013 zwei Verfügungssätze enthält: zum einen die Feststellung der Versicherungspflicht, zum anderen die Beitragsfestsetzung.
Der Kläger hatte bei verständiger Würdigung seines Verhaltens nur gegen die Beitragsfestsetzung Widerspruch eingelegt; die Feststellung der Versicherungspflicht war hingegen in seinem Interesse und ist damit bestandskräftig geworden. Diese bestandskräftige Feststellung der Versicherungspflicht wurde dann mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 8. Juli 2014 rückwirkend zurückgenommen. Gleichzeitig wurde damit der Beitragsbescheid aufgehoben (dem mit der nunmehr fehlenden Versicherungspflicht die Grundlage entzogen war) und damit dem hiergegen noch anhängigen Widerspruch abgeholfen.
Rechtsgrundlage der Rücknahme ist – wie das SG zutreffend ausgeführt hat – § 45 SGB X.
Auf Tatbestandsseite ist für die rückwirkende Aufhebung nach § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X das Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X erforderlich. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann jedoch letztlich dahinstehen. Denn zumindest fehlt es an der auf Rechtsfolgenseite nötigen Ermessensausübung durch die Beklagte.
Fest steht, dass auch in den Fällen des § 45 Abs. 4 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 SGB X Ermessen auszuüben ist. Die Formulierung in Abs. 4 Satz 1 "wird" ist insoweit missverständlich. Ansonsten wäre auch die Regelung des § 330 Abs. 2 SGB III, die in ihrem Anwendungsbereich für die Fälle des § 45 Abs. 4 SGB X eine gebundene Entscheidung anordnet, unverständlich und überflüssig.
Eine Ermessensausübung ist jedoch weder im Bescheid vom 8. Juli 2018 noch im Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 2018 ersichtlich. Allein die Formulierung im Widerspruchsbescheid, die Beklagte sei zur Aufhebung "berechtigt" gewesen, lässt bei wohlwollender Betrachtung den Schluss zu, dass die Beklagte sich evtl. bewusst war, zur Aufhebung nicht im Sinne einer gebundenen Entscheidung verpflichtet gewesen zu sein. Allerdings reicht dieser Umstand allein nicht aus, um von einer Ermessensausübung ausgehen zu können. Denn es folgen Ausführungen, die allein auf die Vertrauensschutzprüfung des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X abzielen. Eine Ermessensausübung hätte aber gerade im Anschluss daran auf Rechtsfolgenseite erfolgen müssen.
Das Sozialgericht ist daher zutreffend davon ausgegangen, dass die Bescheide nur bei Annahme einer Ermessensreduzierung auf Null Bestand haben könnten. Ob überhaupt und ggf. unter welchen Voraussetzungen eine solche Ermessensreduzierung im Rahmen des § 45 SGB X möglich ist, ist – sogar zwischen den Senaten des BSG – umstritten.
Man wird aber festhalten können, dass sie einen seltenen Ausnahmefall darstellt und voraussetzt, dass es nach dem festgestellten Sachverhalt ausgeschlossen ist, dass Umstände vorliegen, die eine anderweitige den Betroffenen ganz oder teilweise begünstigende Entscheidungsfindung rechtsfehlerfrei zuließen. Dies wird in aller Regel nicht der Fall sein (in diesem Sinne BSG, Urt. v. 11.04.2002 – B 3 P 8/01 R mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus der Rspr. des BSG). Diskutiert wird eine Ermessensreduzierung vor allem bei Bösgläubigkeit des Begünstigten i.S. betrügerischen Verhaltens (LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 29.10.2009 - L 10 KR 20/04, Rn. 56 bei juris; von Wulffen/Wiesner aaO mwN). Letztlich dürfte es eine individuelle Entscheidung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles sein, ob eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt (vgl. BSG, Urt. v. 26.09.1990 - 9b/7 RAr 30/89).
Gerade die Berücksichtigung der besonderen Umstände dieses konkreten Falles lassen den Senat daran zweifeln, dass der Kläger bei den Angaben zu seiner Vorversicherung in einer Art und Weise vorsätzlich gehandelt hat, die es rechtfertigen könnten, von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen.
Die Situation des Klägers war damals geprägt von dem Umstand, dass er aufgrund seiner plötzlich und unerwartet aufgetretenen schweren Herzerkrankung mit einem Ruck aus seinem bisherigen (Berufs-)Leben gerissen wurde. Diese Erkrankung erforderte mehrfach längere Krankenhausaufenthalte mit teilweise offensichtlich lebensbedrohlichen Situationen. Es ist für den Senat nachvollziehbar, dass dies maßgeblichen Einfluss auch auf die Psyche und das Erinnerungsvermögen des Klägers hatte. Es leuchtet dem Senat nicht ein, mit welcher Motivation und welchem Ziel der Kläger in betrügerischer Absicht versucht haben sollte, unbedingt eine Versicherung bei der Beklagten und nicht bei der Beigeladenen zu erreichen. Nachvollziehbar ist, dass er aufgrund seiner Erkrankung nunmehr – nachdem ihm dies zuvor offensichtlich nicht so wichtig war – überhaupt den Schutz einer Krankenversicherung erreichen wollte. Bei welcher Versicherung ihm dieser gewährt wurde, dürfte ihm aber relativ egal gewesen sein. So hat der Prozessbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung auch angegeben, dass es vor allem sein Rat gewesen sei, gegen den streitigen Bescheid vorzugehen, um bei der Beklagten versichert zu bleiben.
Unter diesem Blickwinkel lässt sich auch das Verhalten des Klägers in dem besagten Telefonat mit einem Mitarbeiter der Beklagten erklären und muss nicht als Versuch einer vorsätzlichen Täuschung verstanden werden. Dieses Gespräch fand im Februar 2013 und damit kurz nach dem Auftreten der Herzerkrankung und den zwei dadurch notwendigen Krankenhausaufenthalten statt. Für den Senat ist gut nachvollziehbar, dass der Kläger hier – wie die Beklagte es formuliert – unwirsch auf die Nachfragen nach seiner Vorversicherung reagiert hat, weil er befürchtete, dass sich die Feststellung der in seiner Krankheitssituation dringend nötigen Absicherung durch eine Krankenversicherung weiter verzögern würde.
Die Argumentation der Beklagten, dass der Kläger im Zusammenhang mit den Beitragseinziehungsversuchen durch die Beigeladene vielfach Schreiben von dieser erhalten haben müsse, aus denen sich das Vorliegen einer Versicherung bei der Beigeladenen ergeben habe, führt nicht zu einer anderen Betrachtung. Denn zum einen konnte die Beigeladenen trotz mehrfacher Aufforderung keine derartigen Schreiben vorlegen. Dieser Umstand muss zu Lasten der Beklagten gehen, da sie sich auf das Vorliegen einer Ermessensreduzierung auf Null beruft und damit die objektive Beweislast trägt. Zum anderen hält es der Senat für glaubhaft, dass sich der Kläger in der konkreten Krankheitssituation Ende 2012, Anfang 2013 nicht mehr an diese Umstände erinnern konnte.
Auch wenn letztlich viele genaue Umstände dieses Falles unklar bleiben und auch nicht verkannt wird, dass der Kläger sich scheinbar oft an Umstände, die für ihn in diesem Verfahren schädlich sein könnten, nicht erinnern konnte, hat der Senat auf der Grundlage des ermittelten Sachverhalts durchgreifende Zweifel daran, dass die Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegen. Die Unklarheiten, die bleiben, gehen nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu Lasten der Beklagten, die auch selbst keine weiteren für sie günstigen Umstände belegen konnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
Login
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