L 4 AS 361/15

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 22 AS 684/10
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AS 361/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beigeladenen wird zurückgewiesen.

Die Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.

Die Beigeladene hat ein Zehntel der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

xxxxx. Juni 1958 geborene Kläger, dem von der Rechtsvorgängerin des Beklagten (im Weiteren einheitlich: Beklagter) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für einen Zeitraum bewilligt wurden, für den nachträglich durch den Träger der Rentenversicherung eine dauerhafte volle Erwerbsminderung festgestellt wurde, begehrt für diesen Zeitraum die zusätzliche Gewährung eines behinderungsbedingten Mehrbedarfs durch die Beigeladene, bei der es sich um die Leistungsträgerin nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) handelt.

Der Kläger bezog bei Inkrafttreten des SGB II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) oder dem Grundsicherungsgesetz (GSiG). Ab 1. Januar 2005 bewilligte der Beklagte Leistungen nach den Vorschriften des SGB II, so auch auf den Weiterbewilligungsantrag des Klägers vom 21. September 2009 durch Bescheid vom 23. September 2009 für die Zeit vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010. Diese enthielten Leistungen für den Regelbedarf, teilweise einschließlich eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung, i.H.v. 395,- Euro für die Monate November und Dezember 2009, i.H.v. 385,40 Euro für den Monat Januar 2010 sowie i.H.v. 359,- Euro für die Monate Februar bis März 2010. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhielt der Kläger in diesem Zeitraum nicht.

Im November 2009 gab das Versorgungsamt im Rahmen eines sozialgerichtlichen Verfahrens (S 59 SB 648/08) ein Anerkenntnis hinsichtlich der Zuerkennung des Grades der Behinderung (GdB) von 80 und des Merkzeichens G ab und erließ am 30. November 2009 einen entsprechenden Feststellungsbescheid mit Wirksamkeit ab dem 28. April 2008.

Mit Telefax vom 1. Dezember 2009 bat der Kläger beim Beklagten um eine Neuberechnung des Mehrbedarfs wegen des Merkzeichens G und übersandte zugleich einen Schriftsatz des Versorgungsamtes vom 20. November 2009 aus dem sozialgerichtlichen Klageverfahren, in dem es heißt, die Auswertung der vom Gericht übersandten Befunde habe ergeben, "daß der Grad der Behinderung (GdB) mit 80 und das gesundheitliche Merkmal ‚erhebliche Gehbehinderung‘ (Merkzeichen G) festgestellt werden können." Mit Schreiben vom 3. Dezember 2009 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass die Veränderung des GdB sowie das zusätzliche Merkzeichen G nicht zu einer Veränderung der Bedarfe nach dem SGB II führten. Das Schreiben machte keine Mitteilung dazu, auf welchen Leistungszeitraum die Mitteilung zu beziehen sei. Es enthielt eine Rechtsbehelfsbelehrung dahingehend, dass Widerspruch erhoben werden könne. Der Kläger erhob mit Schreiben vom 8. Dezember 2009 Widerspruch. Zur Begründung verwies er auf § 28 SGB II und § 30 SGB XII.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2010 zurück. Ein Mehrbedarf gem. § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II könne nicht gewährt werden, da kein Nachweis vorliege, dass dem Kläger Maßnahmen nach § 33 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) erbracht würden. Ein Mehrbedarf nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 SGB II scheide aus, da beim Kläger keine volle Erwerbsminderung festgestellt sei und er auch nicht in Bedarfsgemeinschaft mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen lebe. Der Widerspruchsbescheid, dessen in der Leistungsakte des Beklagten befindliches Exemplar einen sog. "Ab-Vermerk" der Sachbearbeiterin vom 13. Januar 2010 enthält, machte keine Ausführungen dazu, auf welchen Leistungszeitraum die Entscheidung zu beziehen sei.

Am 19. Februar 2010 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Hamburg erhoben. Er hat u.a. eine Kopie des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2010 übersandt, die am 19. Januar 2010 an seine Prozessbevollmächtigten per Fax übersandt worden war und deren Eingangsstempel von diesem Tag trägt.

Am 8. Februar 2011 hat der Kläger bei der Beigeladenen einen Antrag auf Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII gestellt. Die Beigeladene hat ihm daraufhin ab dem 1. März 2011 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt bewilligt.

Mit Bescheid vom 6. September 2011 hat die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Nord einen Antrag des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung vom 27. April 2011 mangels Vorliegens der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen abgelehnt, jedoch zugleich festgestellt, dass der Kläger seit dem 30. Mai 2005 dauerhaft voll erwerbsgemindert sei.

Der Kläger hat mit der Klage sein Begehren der Gewährung eines Mehrbedarfs wegen Behinderung weiterverfolgt und zur Begründung vorgetragen, ihm seien ein GdB von 80 und das Merkzeichen G zuerkannt. Bis 2004 habe er einen Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit vom Sozialamt nach dem damaligen BSHG oder dem GSiG erhalten. Daraus folge, dass die Beigeladene spätestens 2004 seine Erwerbsunfähigkeit festgestellt habe, anderenfalls wäre er nicht nach § 1 GSiG berechtigt gewesen. Er habe mit Schreiben vom 9. November 2009 einen Mehrbedarf wegen Behinderung beantragt und gegen die Ablehnung vom 3. Dezember 2009 Widerspruch erhoben. Er sei seit Jahrzehnten schwer erkrankt. Von 1971 bis 1995 sei er von Betäubungsmitteln abhängig gewesen; seit 1995 und fortlaufend werde seine Abhängigkeitserkrankung mit Polamidon therapiert. Er leide an Hepatitis C und einer chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung mit obstruktiver Ventilationsstörung. Weiterhin lägen eine degenerative Wirbelsäulenveränderung, ein Hüftgelenksverschleiß sowie eine Nervenstörung beider Füße vor. Seit Ende Juli 2007 sei ihm durchgängig Arbeitsunfähigkeit attestiert worden. Der Beklagte habe ihn trotz dieser gewichtigen Anhaltspunkte nicht amtsärztlich untersuchen lassen und sei auch seinen Hinweis- und Beratungspflichten nicht nachgekommen. Erst am 7. Dezember 2009 habe er, der Kläger, auf Hinweis seiner Bevollmächtigten die Überprüfung der Erwerbsfähigkeit beim Beklagten beantragt. Wegen der Vielzahl und Schwere seiner Erkrankungen benötige er häufig nicht-verschreibungspflichtige Medikamente. Er sei aufgrund seiner Gehbehinderung teilweise auf die Nutzung von Taxen angewiesen. Zusätzlich habe er Bedarf an Unterstützung im Haushalt. Er sei an maximal zwei Tagen pro Woche in der Lage, außerhäusige Termine wahrzunehmen. Quittungen und Belege für die entstandenen Mehrkosten habe er nicht aufbewahrt oder könnten nicht aufgefunden werden.

In rechtlicher Hinsicht hatte der Kläger zunächst vorgetragen, dass sich für den streitigen Zeitraum ein Anspruch auf einen behinderungsbedingten Mehrbedarf gegen den Beklagten aus Art. 3 Grundgesetz (GG) i.V.m. § 30 SGB XII oder aber aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ergebe. Mit dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18. Februar 2010 (B 4 AS 29/98 R) und im Lichte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09 u.a.) sei im Einzelfall zu prüfen, ob aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ein Anspruch auf Deckung eines laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfes bestehe. Solche Bedarfe seien bei ihm gegeben. Vor dem Hintergrund der im Laufe des Verfahrens mit Bescheid vom 6. September 2011 festgestellten dauerhaften vollen Erwerbsminderung hat der Kläger sodann vorgetragen, er sei auch für den streitigen Zeitraum als leistungsberechtigt i.S.d. SGB XII anzusehen. Die streitgegenständlichen Bescheide seien gem. § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zurückzunehmen, und ihm seien durch die Beigeladene für diesen Zeitraum Leistungen nach dem SGB XII einschließlich des Mehrbedarfs nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII zu gewähren. Da der Beklagte die Überprüfung seiner Erwerbsfähigkeit pflichtwidrig unterlassen habe, ergebe sich ein Anspruch auf Gewährung des Mehrbedarfs (auch) aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Weiter seien, dem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 22. Januar 2014 (L 13 AS 190/12) folgend und unter Anwendung des § 16 Abs. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I), von der Beigeladenen nicht nur für den Zeitraum vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010, sondern bereits ab dem 30. Mai 2005 Leistungen einschließlich des Mehrbedarfs wegen Behinderung zu erbringen.

Die vom Sozialgericht gem. § 75 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Beigeladene (Beschluss vom 17.1.2012) hat die Ansicht vertreten, dass dem Kläger weder nach dem SGB II noch nach dem SGB XII ein Anspruch auf die Deckung eines besonderen Mehrbedarfs für die Vergangenheit zustehe. Die Beigeladene habe vom Kläger erstmalig im Februar 2011 erfahren, seit dem 1. März 2011 erhalte er von ihr zu Recht laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII. Die gewährten Leistungen seien als vollständig anzusehen. Ob der Kläger auch vor dem 1. März 2011 leistungsberechtigt nach dem SGB XII gewesen sei, könne dahinstehen, da eine rückwirkende Leistung von Sozialhilfe ausgeschlossen sei. Insoweit komme es auf den Kenntnisgrundsatz aus § 18 SGB XII an. Die richterlich entwickelten Voraussetzungen für eine ausnahmsweise rückwirkende Leistungsgewährung lägen nicht vor. Ein monatlicher Mehrbedarf könne grundsätzlich nicht für die Vergangenheit gezahlt werden.

Am 8. April 2013 hat das Sozialgericht einen Erörterungstermin durchgeführt, auf dessen Protokoll verwiesen wird. Die Beteiligten haben anschließend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erklärt. Mit Urteil vom 10. Juli 2015 hat das Sozialgericht die Beigeladene verpflichtet, dem Kläger für den Zeitraum vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010 monatlich Leistungen für einen Mehrbedarf gem. § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII (i.d.F. v. 20.4.2007) i.H.v. 17 % der monatlichen Regelleistung, mithin monatlich 61,03 Euro, zu gewähren und auszuzahlen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Berufung wurde zugelassen.

Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt: Die Klage sei nur zulässig, soweit der Kläger unter Anfechtung des Bescheides des Beklagten vom 3. Dezember 2009 und des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2010 weitere Leistungen für den Zeitraum vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010 begehre. Sie sei hingegen unzulässig, soweit sie auf die Gewährung weiterer Leistungen für den Zeitraum vom 30. Mai 2005 bis zum 31. Oktober 2009 sowie für die Zeit nach dem 30. April 2010 gerichtet sei. Es sei weder vorgetragen noch ersichtlich, dass Leistungsbescheide des Beklagten oder der Beigeladenen außerhalb des Zeitraums vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010 mit dem Widerspruch angefochten und ein entsprechendes Widerspruchsverfahren abgeschlossen bzw. entsprechende Widerspruchsbescheide dann zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens gemacht worden seien. Die Bescheide des Beklagten vom 23. September 2009 und 3. Dezember 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2010 könnten nicht auf Zeiträume vor dem 1. November 2009 oder nach dem 30. April 2010 erstreckt werden. Sei die Höhe der laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts streitig, komme einer Entscheidung des SGB II-Trägers wegen der in § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II vorgesehenen abschnittsweisen Bewilligung von Leistungen grundsätzlich keine Bindungswirkung für künftige Bewilligungsabschnitte zu. Selbst wenn sich der SGB II-Träger nicht ausdrücklich auf einen bestimmten Bewilligungsabschnitt beziehe, gelte seine Entscheidung, keine oder keine höheren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren, nur für solche Bewilligungsabschnitte, die im Zeitpunkt der Behördenentscheidung in der Vergangenheit bzw. der Gegenwart gelegen hätten (Verweis auf BSG, Urteil vom 24.2.2011 – B 14 AS 49/10 R). Die Widerspruchsentscheidung als letzte Behördenentscheidung sei am 12. Januar 2010 und damit während des Bewilligungsabschnitts vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010 getroffen worden. Es sei auch nicht ersichtlich, dass für andere Zeiträume ablehnende Überprüfungsbescheide i.S.d. § 44 SGB X ergangen seien, für die anschließend ein Widerspruchsverfahren abgeschlossen worden sei. Eine auf Gewährung weiterer Leistungen gerichtete echte Leistungsklage i.S.d. § 54 Abs. 5 SGG sei nicht statthaft.

Die Klage sei begründet, soweit die Verurteilung der Beigeladenen zur Erbringung eines Mehrbedarfs wegen dauerhafter Erwerbsminderung und Gehbehinderung für den Zeitraum vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010 beantragt sei. § 75 Abs. 5 SGG ermögliche die Verurteilung der Beigeladenen. Der Kläger sei im streitigen Zeitraum leistungsberechtigt für die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, insbesondere dauerhaft voll erwerbsgemindert i.S.d. § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) gewesen, was dem Bescheid der DRV Nord vom 6. September 2011 zu entnehmen sei. Der Kläger habe beim Beklagten den gem. § 44 Abs. 1 SGB XII erforderlichen Antrag am 21. September 2009 gestellt. Dieser Antrag wirke gem. § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I auch gegen die Beigeladene (Verweis auf LSG Niedersachen-Bremen, a.a.O.). § 44a Abs. 1 Satz 3 SGB II stehe der Beurteilung des Beklagten als unzuständig i.S.d. § 16 Abs. 2 SGB I nicht entgegen. Nach dem Meistbegünstigungsprinzip sei der Antrag des Klägers auch so zu verstehen gewesen, dass alle in Betracht kommenden Leistungen und damit auch der Mehrbedarf gem. § 30 Abs. 1 SGB XII beantragt werden sollten. Die Voraussetzungen für die Gewährung des Mehrbedarfs gem. § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII damaliger Fassung lägen vor, dies betreffe auch die Zeit vom 1. November 2009 bis zum 29. November 2009, also die Zeit vor dem Erlass des Feststellungsbescheides über die in das Jahr 2008 zurückwirkende Feststellung des Merkzeichens G durch das Versorgungsamt, da die Vorschrift im Gegensatz zu früheren Fassungen den "Besitz" eines entsprechenden Dokumentes nicht voraussetze. Die Feststellung des Merkzeichens könne durch einen Bescheid auch rückwirkend nachgewiesen werden. Der Verurteilung der Beigeladenen zur nachträglichen Erbringung der Leistungen für den Mehrbedarf stehe wegen der Garantie des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG das Gegenwärtigkeitsprinzip in der Sozialhilfe bereits deshalb nicht entgegen, weil der Kläger die betreffenden Verwaltungsentscheidungen – hier: des Beklagten – nicht habe bestandskräftig werden lassen. Über den Zeitraum vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010 habe der Beklagte nicht bestandskräftig i.S.d. Ablehnung der Leistungserbringung unter Berücksichtigung des Mehrbedarfs wegen Gehbehinderung entschieden. Es sei zwar zu berücksichtigen, dass bei Leistungsentscheidungen des Beklagten die Erbringung eines Mehrbedarfs regelmäßig nur ein Berechnungselement der Gesamtleistung sei. Vor diesem Hintergrund könnte der Antrag des Klägers vom 1. Dezember 2009 auf Berücksichtigung des Mehrbedarfs wegen Gehbehinderung als Antrag gem. § 44 SGB X oder § 48 SGB X auf Abänderung des zunächst bestandskräftig gewordenen Leistungsbescheides vom 23. September 2009 anzusehen sein. Allerdings bilde der "isolierte" Ablehnungsbescheid vom 3. Dezember 2009 in Gestalt des – während des gleichen Bewilligungszeitraums ergangenen – Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2010 eine rechtliche Einheit mit dem laufenden Bewilligungsbescheid. Insoweit sei mit dem isolierten Ablehnungsbescheid ein den Rechtsschutz neu eröffnender Zweitbescheid für den seinerzeit laufenden Bewilligungszeitraum vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010 erlassen worden. Eine Aufhebung oder Abänderung des Bewilligungsbescheides des Beklagten vom 23. September 2009 in der Fassung des Ablehnungsbescheides vom 3. Dezember 2009 und in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2010 sei indes nicht vorzunehmen gewesen. Soweit die Bescheide Leistungen gewährten, sei die Anfechtungsklage unzulässig. Sie wäre im Übrigen bezüglich der in der Vergangenheit gewährten Leistungen nach dem Rechtsgedanken des § 44 Abs. 1 Abs. 3 SGB II damaliger Fassung auch unbegründet, da der Beklagte die Leistungen auch zu erbringen gehabt hätte, wenn eine Überprüfung der Erwerbsfähigkeit zur Ermittlung der Leistungszuständigkeit veranlasst, aber noch nicht abgeschlossen gewesen wäre. Soweit die Bescheide des Beklagten die Gewährung weitergehender Leistungen, insbesondere die Gewährung eines Mehrbedarfs, ablehnten, seien sie rechtmäßig. Die Erbringung weiterer Leistungen durch den Beklagten komme nicht in Betracht, weil nunmehr geklärt sei, dass (für den gesamten Streitzeitraum) die Voraussetzung der Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 8 SGB II nicht vorgelegen habe. Der Mehrbedarf gem. § 21 Abs. 4 SGB II, dessen weitere Voraussetzungen i.Ü. nicht vorlägen, sei in Ermangelung der Erwerbsfähigkeit ausgeschlossen. Dies gelte auch für einen Mehrbedarf wegen eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs, der für den Zeitraum vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010 aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG auf Basis des Urteils des BVerfG vom 9. Februar 2010 (a.a.O.) zu prüfen gewesen wäre. Ebenso könne ein Mehrbedarf aus einer entsprechenden Anwendung des § 30 Abs. 1 SGB XII, ggf. i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG, bereits angesichts der zwischenzeitlich geklärten materiellen Unzuständigkeit des Beklagten nicht gewährt werden. Trotz der vollen Erwerbsminderung ergebe sich ein Anspruch auch nicht aus § 28 Abs. 1 Satz 1 bis 3 Nr. 4 SGB II (i.d.F. v. 2.3.2009). Der Kläger habe kein Sozialgeld nach dieser Vorschrift beziehen können, da er nicht mit erwerbsfähigen Angehörigen in Bedarfsgemeinschaft lebe. Der Kläger könne deshalb gegen den Beklagten auch keinen Anspruch auf weitergehende Leistungen aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch haben, da der Beklagte Mehrleistungen nicht rechtmäßig erbringen könnte.

Die Beigeladene und der Kläger haben gegen das ihnen am 23. Juli 2015 bzw. 22. Juli 2015 zugestellte Urteil jeweils am Montag, dem 24. August 2015 Berufung eingelegt.

Der Kläger hält an seiner erstinstanzlich vertretenen Rechtsauffassung fest, wonach ihm auch für frühere Zeiträume Leistungen zu gewähren seien, beschränkt sein Begehren aber auf die Zeit ab dem 28. April 2008, dem Zeitpunkt der Zuerkennung des Merkzeichens G durch das Versorgungsamt. Mit seinem Schreiben vom 1. Dezember 2009 habe er nicht nur einen Antrag auf Gewährung eines Mehrbedarfs für den aktuellen Bewilligungszeitraum, sondern zugleich einen Antrag auf Überprüfung der bisherigen Entscheidungen für die Zeit seit dem Wirksamwerden der beigefügten Entscheidung des Versorgungsamtes gestellt. Dabei sei bei der Auslegung seines Antrags zu berücksichtigen, dass er bereits zuvor immer wieder darauf hingewiesen habe, dass hinsichtlich des GdB und der Feststellung eines Merkzeichens eine Klage anhängig sei. Dies ergebe sich nicht erst aus dem Weiterbewilligungsantrag vom 21. September 2009, sondern mindestens auch schon aus dem für den vorhergehenden Leistungszeitraum gestellten Weiterbewilligungsantrag vom 22. März 2009. In diesem Zusammenhang dürfe dann auch die vom Beklagten am 3. Dezember 2009 getroffene Entscheidung, wonach das Merkzeichen G "leider nicht zu einer Veränderung der Bedarfe nach dem SGB II" führe, nicht nur auf den seinerzeit laufenden Bewilligungsabschnitt bezogen werden. Dementsprechend hätten sich sowohl der Widerspruch des Klägers vom 8. Dezember 2009 als auch der Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2010 auch auf die Ablehnung der Überprüfung bisheriger Bescheide bezogen. Auch im Rahmen eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X sei ein (pauschalierter) Mehrbedarf für die Vergangenheit zu erbringen, soweit die Hilfebedürftigkeit – wie vorliegend – nicht zwischenzeitlich entfallen sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 10. Juli 2015 abzuändern und die Beigeladene zu verpflichten, ihm auch für die Zeiträume vom 28. April 2008 bis zum 31. Oktober 2009 sowie vom 1. Mai 2010 bis zum 28. Februar 2011 Leistungen für einen Mehrbedarf nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII (in der Fassung vom 20. April 2007) in Höhe von 17 % der monatlichen Regelleistung zu gewähren.

Die Beigeladene beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 10. Juli 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie meint, das Sozialgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Antrag des Klägers auf Weiterbewilligung laufender Hilfe zum Lebensunterhalt vom 21. September 2009 ab dem 1. September 2009 gem. § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I gegen sie wirke. Die gegenteilige Auffassung der Beigeladenen zu dieser Frage könne sich auf die Urteile des BSG vom 7. November 2006 (B 7b AS 10/06 R) und vom 25. September 2014 (B 8 SO 6/13) stützen, wonach der SGB II-Leistungsträger bei einem Streit über die Erwerbsfähigkeit des Leistungsempfängers bis zur Entscheidung der gemeinsamen Einigungsstelle nach § 44a SGB II für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II zuständig sei. Nachdem die dauerhafte volle Erwerbsminderung des Klägers erst am 6. September 2011 von der DRV Nord festgestellt worden sei, bestehe kein Anspruch gegen die Beigeladene für den Zeitraum vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010.

Der Beklagte beantragt,

die Berufungen zurückzuweisen.

Er verteidigt das angegriffene Urteil des Sozialgerichts. Der Kläger sei unstreitig erwerbsunfähig. Die Nahtlosigkeitsregelung des § 44a SGB II greife nur dann, wenn der SGB II-Träger sich nicht für zuständig erachte oder zwischen den Leistungsträgern Uneinigkeit über die Frage der Erwerbsfähigkeit bestehe. Eine solche Konstellation liege hier aber nicht vor. Der Kläger sitze gerade nicht – bildhaft gesprochen – "zwischen zwei Stühlen".

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte und die Verwaltungsakten des Beklagten sowie der Beigeladenen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässigen Berufungen der Beigeladenen (I.) und des Klägers (II.) bleiben ohne Erfolg.

I. Die Berufung der Beigeladenen ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Beigeladene zu Recht verurteilt, dem Kläger für den Zeitraum vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010 monatlich Leistungen für einen Mehrbedarf nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII i.H.v. 17 % der monatlichen Regelleistung (61,03 Euro) zu gewähren. Insoweit war die Klage zulässig (1.) und begründet (2.).

1. Der Zulässigkeit der Klage vom 19. Februar 2010, die auch im Falle einer Verurteilung der Beigeladenen nach § 75 Abs. 5 SGG gegeben sein muss, steht nicht eine etwaige Versäumung der Klagefrist (§ 87 SGG) entgegen. Der an den Kläger persönlich adressierte und mit einfachem Brief versandte Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 12. Januar 2010 trägt einen "Ab-Vermerk" des Sachbearbeiters vom 13. Januar 2010. Nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Unter der Annahme einer Absendung am 13. Januar 2010 wäre die Bekanntgabe dem Kläger gegenüber am 16. Januar 2010 erfolgt, womit die Klagefrist am 16. Februar 2010 (einem Dienstag) abgelaufen wäre. Allerdings greift die Zugangsfiktion nur, wenn der Tag der Aufgabe zur Post in den Behördenakten vermerkt wurde (BSG, Urteil vom 28.11.2006 – B 2 U 33/05 R), was hier nicht geschehen ist. Der "Ab-Vermerk" einer Sachbearbeiterin dokumentiert regelmäßig nur die Zuleitung des Widerspruchsbescheides an die Poststelle des Beklagten, nicht aber eine von der Poststelle zu veranlassende Aufgabe zur Post.

2. In der Sache scheitert eine Verurteilung der Beigeladenen nicht an einer etwa vorrangigen Leistungsverpflichtung des Beklagten.

Eine Verurteilung nach § 75 Abs. 5 SGG darf nur erfolgen, wenn bzw. soweit der Antrag gegen den Beklagten keinen Erfolg haben kann (Wechselwirkung der Ansprüche oder sog. Ausschließlichkeitsverhältnis, s. dazu LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.3.2017 – L 7 AY 5085/15; vgl. auch Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 75 Rn. 18), was jedoch nicht ausschließt, dass ein Kläger, nachdem die Zuständigkeit des Beigeladenen feststeht, sich – wie hier – auf Anträge gegenüber dem Beigeladenen beschränkt (vgl. Straßfeld, in: Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 75 Rn. 293).

Das Sozialgericht hat einen Anspruch des Klägers gegen den Beklagten zu Recht abgelehnt. Der Beklagte ist nicht leistungspflichtig, weil der Kläger im Zeitraum vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010 voll erwerbsgemindert und daher nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II war (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 8 SGB II), sondern für die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gem. § 41 Abs. 1 und 3 SGB XII, die gegenüber dem Sozialgeld nach dem SGB II vorrangig sind. Darüber hinaus lagen aber auch die Voraussetzungen der denkbaren Anspruchsgrundlagen für einen Mehrbedarf nach dem SGB II nicht vor. Denn § 23 Nr. 4 SGB II bzw. die Vorgängervorschrift des § 28 Nr. 4 SGB II (i.d.F. v. 2.3.2009) sieht einen § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII entsprechenden Mehrbedarf nur für Sozialgeldbezieher vor (vgl. dazu BSG, Urteil vom 15.12.2010 – B 14 AS 44/09 R), und § 21 Abs. 4 SGB II setzt für den dort vorgesehenen Mehrbedarf für erwerbsfähige behinderte Menschen tatbestandlich voraus, dass der Berechtigte Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder (das Arbeitsleben betreffende) Eingliederungshilfe erhält, woran es vorliegend fehlt.

Der Anspruch des Klägers auf Bewilligung eines behinderungsbedingten Mehrbedarfs, bei dem es sich prozessual um einen eigenen Streitgegenstand handeln kann (BSG, Urteil vom 26.8.2008 – B 8/9b SO 10/06 R), richtet sich daher nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII.

Nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII (i.d.F. d. G. v. 20.4.2007, BGBl. I S. 554) wird für Personen, die die Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 SGB XII noch nicht erreicht haben und voll erwerbsgemindert nach dem SGB VI sind und durch einen Bescheid der nach § 69 Abs. 4 SGB IX zuständigen Behörde oder einen Ausweis nach § 69 Abs. 5 SGB IX die Feststellung des Merkzeichens G nachweisen, ein Mehrbedarf von 17 vom Hundert des maßgebenden Regelsatzes anerkannt, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht.

Der Kläger hatte die Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 SGB XII noch nicht erreicht und ist ausweislich des Bescheides der DRV vom 6. September 2011 seit dem 30. Mai 2005 dauerhaft voll erwerbsgemindert i.S.v. § 43 Abs. 2 SGB VI. Bei ihm ist außerdem mit Wirkung ab dem 28. April 2008 das Merkzeichen G durch Bescheid des Versorgungsamtes vom 30. November 2009 anerkannt worden. Diese rückwirkende Merkzeichen-Feststellung genügt auch; insoweit wird verwiesen auf die zutreffenden Erwägungen des Sozialgerichts im angefochtenen Urteil.

Auch vermag § 44a SGB II, auf den die Beigeladene ihre Berufung stützt, nichts an der Bedeutung der rückwirkenden Feststellung der Erwerbsunfähigkeit zu ändern.

Der erkennende Senat hatte zu dieser Frage bereits im Urteil vom 21. September 2017 (L 4 AS 53/17) ausgeführt:

"Über die fehlende Erwerbsfähigkeit des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum hilft auch nicht der Umstand hinweg, dass diese erst nachträglich festgestellt wurde und der Beklagte tatsächlich im gesamten streitgegenständlichen Zeitraum laufende Leistungen nach dem SGB II erbracht hat. Zwar können die Bewilligungen durch den Beklagten nicht aufgehoben werden, denn entsprechend dem Rechtsgedanken des § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II hat der Beklagte solange, wie die Erwerbsunfähigkeit nicht festgestellt war, rechtmäßig geleistet. § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II begründet eine Pflicht des Beklagten, bei Streit über die Erwerbs(un)fähigkeit Leistungen nach dem SGB II zu erbringen. Dabei handelt es sich auch nicht um eine lediglich vorläufige Leistungspflicht, vielmehr werden die Leistungen im Außenverhältnis zu dem Berechtigten endgültig erbracht (vgl. Knapp, jurisPK-SGB II, § 44a, Rn. 70). Dies muss auch in Fällen gelten, in denen – wie hier – der SGB II-Träger mangels Zweifel an der Erwerbsfähigkeit kein Feststellungsverfahren nach § 44a SGB II einleitet und in der irrigen Annahme seiner eigenen Zuständigkeit Leistungen erbringt. Aus dem Umstand, dass hier die vom Beklagten an den Kläger erbrachten Leistungen diesem endgültig zustehen und nicht wegen der fehlenden Erwerbsfähigkeit von diesem zurückgefordert werden können, folgt allerdings nicht, dass der Beklagte auch nach erfolgter Feststellung der Erwerbsunfähigkeit für die Gewährung von Leistungen für die Vergangenheit zuständig wäre. Vielmehr ist nunmehr die Beigeladene als eigentlich Leistungsverpflichtete auch zuständig für die Erfüllung eines etwaig höheren als des bereits gewährten Anspruchs (vgl. dazu auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 22.1.2014 – L 13 AS 190/12, juris Rn. 30)."

Nichts anderes gilt auch im vorliegenden Fall. Der Hinweis der Beigeladenen auf Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 7.11.2006 und vom 25.9.2014, a.a.O.) verfängt daher nicht. Aufgabe des § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II ist es, zur Gewährung der Nahtlosigkeit bei ungeklärter Erwerbsfähigkeit die Erwerbsfähigkeit zu fingieren. Dadurch soll verhindert werden, dass die Hilfebedürftigen infolge eines negativen Kompetenzkonflikts zwischen den Leistungsträgern keine Leistungen erhalten (Knapp, in: jurisPK-SGB II, Stand: 08/2016, § 44a Rn. 69). Die Vorschrift ist zur Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen SGB II- und SGB XII-Träger geschaffen worden und rechtfertigt es nicht, denjenigen, welcher materiell einen Mehrbedarfsanspruch hatte, zu seinem Nachteil so zu behandeln, als wäre er erwerbsfähig gewesen. Denn es handelt sich bei der "Feststellung" der Erwerbsfähigkeit nach § 44a Abs. 1 Satz 1 SGB II nur um die Festlegung zu einer Vorfrage zur Gewährung von Leistungen, und Gleiches muss gelten, wenn die Leistungserbringung ohne Durchführung eines Feststellungsverfahrens wegen nicht erkannter Erwerbsunfähigkeit durch den SGB-II-Träger erfolgt, während tatsächlich der Sozialhilfeträger leistungszuständig gewesen wäre (LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.).

Der Kläger hat auch den nach § 44 Abs. 1 SGB XII erforderlichen Antrag gestellt. Dieser liegt in dem am 21. September 2009 gestellten Weiterbewilligungsantrag und wirkt gem. § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I auch gegen die Beigeladene. Diese Vorschrift greift auch dann ein, wenn ein Antrag nicht bei einer unzuständigen Stelle, sondern bei einem SGB II-Träger eingeht, der entweder aufgrund der Regelung des § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II zuständig ist oder sich fälschlich für leistungszuständig gehalten hat, aber aufgrund späterer Erkenntnis, dass der Antragsteller erwerbsunfähig ist, tatsächlich nicht zuständig war (Urteil des Senats vom 21.9.2017, a.a.O.; LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.). Dies entspricht dem Sinn und Zweck des § 16 Abs. 2 SGB I, wonach der Einzelne mit seinem Begehren nach Sozialleistungen gerade nicht an den Zuständigkeitsabgrenzungen innerhalb der gegliederten Sozialverwaltung scheitern soll (BSG, Urteil vom 26.8.2008 – B 8/9b SO 18/07 R).

Der Weiterbewilligungsantrag vom 21. September 2009 ist nach dem Meistbegünstigungsprinzip auch so zu verstehen, dass alle in Betracht kommenden Leistungen beantragt werden sollten, sodass auch der Mehrbedarf nach § 30 Abs. 1 SGB XII als mitbeantragt gelten muss. Der Umstand, dass das Versorgungsamt beim Kläger im Zeitpunkt des Weiterbewilligungsantrags das Merkzeichen G noch nicht anerkannt hatte, hindert diese Auslegung als Antrag auch auf Gewährung eines behinderungsbedingten Mehrbedarfs nicht. Der Senat teilt die Auffassung des Sozialgerichts, wonach es sich bei dem Ablehnungsbescheid vom 3. Dezember 2009, der auf den Antrag des Klägers vom 1. Dezember erging, um einen den Rechtsschutz neu eröffnenden Zweitbescheid für den seinerzeit laufenden Bewilligungszeitraum vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010 handelte.

Der Verurteilung der Beigeladenen steht auch nicht der Grundsatz "keine Hilfe für die Vergangenheit" entgegen. Zweck der Sozialhilfe ist es zwar, Hilfe in einer gegenwärtigen Notlage bereitzustellen. Aus Gründen effektiven Rechtsschutzes ist eine nachträgliche Hilfeleistung aber u.a. dann nicht ausgeschlossen, wenn Leistungen rechtswidrig abgelehnt worden waren und der Hilfesuchende die Hilfegewährung erst im Rechtsbehelfsverfahren erstreiten musste (dazu grundlegend BSG, Urteil vom 29.9.2009 – B 8 SO 16/08 R).

II. Auch die Berufung des Klägers ist unbegründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Leistungen nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII für die Zeiträume vom 28. April 2008 bis zum 31. Oktober 2009 sowie vom 1. Mai 2010 bis zum 28. Februar 2011.

Dies folgt bereits daraus, dass sich die gegen den Beklagten gerichtete Klage auf den im Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung laufenden, mit Leistungsbescheid vom 23. September 2009 geregelten Bewilligungsabschnitt (1.11.2009 bis 30.4.2010) beschränkte (vgl. BSG, Urteil vom 24.2.2011 – B 14 AS 49/10 R). Zutreffend und mit überzeugender Begründung, auf die Bezug genommen wird, hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass die Bescheide des Beklagten vom 23. September 2009 und 3. Dezember 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2010 nicht auf Zeiträume vor dem 1. November 2009 oder nach dem 30. April 2010 erstreckt werden können.

Anders als der Kläger meint, ist sein Schreiben an den Beklagten vom 1. Dezember 2009 auch nicht als Antrag nach § 44 SGB X auf Überprüfung sämtlicher bestandskräftiger Bescheide für die Zeit ab der Zuerkennung des Merkzeichens G durch das Versorgungsamt, dem 28. April 2008, zu qualifizieren.

Erfolgt die Überprüfung aufgrund eines Antrags des Leistungsberechtigten, muss aus dem Antrag – ggf. nach Auslegung – erkennbar sein, dass der Antragsteller die Überprüfung eines bestandskräftigen Bescheides wünscht, auch wenn sein Begehren in erster Linie auf ein anderes Ziele gerichtet sein sollte (Schütze, in: v. Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 44 Rn. 38). Der Antrag löst grundsätzlich eine Prüfpflicht des Leistungsträgers aus, bestimmt jedoch zugleich auch den Umfang des Prüfauftrags der Verwaltung im Hinblick darauf, ob bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden ist (BSG, Urteil vom 23.2.2017 – B 4 AS 57/15 R). Dazu muss der Antrag konkretisierbar sein, d.h. entweder aus dem Antrag selbst oder aus einer Antwort des Leistungsberechtigten aufgrund konkreter Nachfrage des Sozialleistungsträgers muss der Umfang des Prüfauftrags für die Verwaltung bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens erkennbar werden (BSG, Urteil vom 13.2.2014 – B 4 AS 22/13 R).

Vorliegend war aus dem Schreiben des Klägers vom 1. Dezember 2009 auch nach einer am Rechtsgedanken des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch orientierten Auslegung, wonach nicht am Wortlaut der Erklärung zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen ist, objektiv nicht erkennbar, dass der Kläger bereits bestandskräftige Bewilligungsbescheide des Beklagten zur Überprüfung stellen wollte. Weder benannte der Kläger zu überprüfende Leistungsbescheide noch bezeichnete er einen von ihnen erfassten Zeitraum. Auch behauptete der Kläger in seinem Schreiben keine fehlerhafte Rechtsanwendung, sondern bat um eine "Neuberechnung des Mehrbedarfs". Durch die Bezugnahme auf das dem Schreiben beigefügte Anerkenntnis des Versorgungsamtes über die Feststellung des Merkzeichens G konnte der Antrag des Klägers für den Beklagten nur dahingehend verstanden werden, dass er diesen neu eingetretenen Umstand nunmehr berücksichtigen möge. Dies gilt umso mehr, als dem Schriftsatz des Versorgungsamtes vom 20. November 2009 nicht zu entnehmen war, dass die Zuerkennung des Merkzeichens G bereits mit Wirkung ab dem 28. April 2008 erfolgen sollte.

Die damit auf den Bewilligungsabschnitts vom 1. November 2009 bis zum 30. April 2010 begrenzte Anfechtung steht aber auch einer in zeitlicher Hinsicht weitergehenden Verurteilung der Beigeladenen zur Gewährung des Mehrbedarfs entgegen. § 75 Abs. 5 SGG soll der Prozessökonomie dienen und sich widersprechende Entscheidungen verhindern. Es soll für den Kläger ein neuer Prozess vermieden werden, wenn er den richtigen Anspruchsgegner verkannt hat; entsprechend wird den Gerichten (nur) die Befugnis eingeräumt, über einen in die Zuständigkeit eines anderen Leistungsträgers fallenden Anspruch in der Sache zu entscheiden. Die Verpflichtung des Beigeladenen kommt nur subsidiär in Betracht; sie darf erst stattfinden, wenn bzw. soweit der Antrag gegen den Beklagten keinen Erfolg haben kann (BSG, Urteil vom 15.11.1979 – 11 RA 9/79). An dieser von § 75 Abs. 5 SGG vorausgesetzten Wechselwirkung fehlt es aber bei Ansprüchen für unterschiedliche Zeiträume (Schmidt, a.a.O.), weil in diesem Fall nicht die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen besteht. Diese drohten vielmehr gerade dann, wenn man den Streitgegenstand auf weitere Bewilligungszeiträume ausdehnen wollte. Da SGB II-Bescheide über verschiedene Bewilligungszeiträume nämlich nicht unter § 96 SGG fallen, wären vorliegend auch weitere Klagen über die nachfolgenden Zeiträume – ab 1. Mai 2010 – denkbar gewesen, in denen folgerichtig erneut der SGB XII-Träger hätte beigeladen werden müssen. Wollte man nun im jeweiligen Klageverfahren eine Verurteilung der Beigeladenen über den streitgegenständlichen SGB II-Zeitraum hinaus für möglich halten, würde gerade dies die Gefahr divergierender Entscheidungen bergen. Auch dies zeigt, dass der Anspruch gegen die Beigeladene nicht losgelöst vom streitgegenständlichen SGB II-Bewilligungszeitraum beurteilt werden kann, insoweit also ein Gleichlauf in zeitlicher Hinsicht stattfinden muss. Da ein Anspruch gegen den Beklagten hier nur für die Zeit vom 1. November 2009 bis 30. April 2010 in Betracht kam, können mithin die begehrten Mehrbedarfsleistungen für weitere Zeiträume auch nicht mit Erfolg über § 75 Abs. 5 SGG gegenüber der Beigeladenen geltend gemacht werden.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Hauptsache.

IV. Ein Grund, gem. § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, ist nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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