L 6 R 223/12 B ER

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Mainz (RPF)
Aktenzeichen
S 1 R 241/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 6 R 223/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Keine Schätzungsbefugnis des Rentenversicherungsträgers bei fehlendem Nachweis der Aufzeichnungspflichtverletzung des Arbeitgebers
2. Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz bei fehlender Vorlage des Zahlenwerks zur Berechnung der geforderten Beitragshöhe.
3. Zeitpunkt des Eintritts der Verjährung, Vorsatz zur Vorenthaltung von Beiträgen.
1. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Mainz vom 24.4.2012 - S 1 R 241/12 ER - wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Antragsgegnerin.
3. Der Streitwert wird auf 64.243,60 EUR festgesetzt.

Gründe:
I.
Die Antragsgegnerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Mainz vom 24.4.2012 - S 1 R 241/12 ER -, mit dem das SG die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 10.4.2012 gegen den Bescheid vom 16.3.2012 angeordnet hat.
Die Antragstellerin betreibt in der Rechtsform einer GmbH ein Unternehmen im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung und verfügt über eine Erlaubnis nach § 1 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG). In den Arbeitsverträgen der von ihr beschäftigten Leiharbeitnehmer wurde auf Tarifverträge zwischen dem Arbeitgeberverband M e.V. (AMP) und der Tarifgemeinschaft der sogenannten C für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP) verwiesen. Auf Basis der dort vorgesehenen Vergütung wurden die Sozialversicherungsbeiträge für die beschäftigten Leiharbeitnehmer gezahlt sowie Meldungen und Beitragsnachweise erbracht.
Im Zeitraum vom 27.12.2011 bis zum 16.2.2012 führte die Antragsgegnerin an 6 Tagen bei der Antragstellerin eine Betriebsprüfung betreffend den Zeitraum vom 1.12.2005 bis zum 31.12.2009 durch. Anlass war eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 14.12.2010 (1 ABR 19/10), in der die Feststellung der Vorinstanzen bestätigt wurde, wonach die CGZP nicht tariffähig im Sinne des § 2 Abs. 1 bis 3 Tarifvertragsgesetz (TVG) sei.
Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 16.3.2012 stellte sie eine Beitragsnachforderung i.H.v. 128.427,19 EUR für den Zeitraum vom 1.12.2005 bis 31.12.2009 fest. Diese Nachforderung begründete die Antragsgegnerin mit höheren Beitragsansprüchen aufgrund der Unwirksamkeit des angewandten Tarifvertrages (§ 10 Abs 4, AÜG i.V.m. § 22 Viertes Buch Sozialgesetzbuch, SGB IV). Dies sei Folge der Tarifunfähigkeit der CGZP, so dass Leihunternehmer gemäß § 10 Abs 4 AÜG nach dem Grundsatz des "Equal pay" denjenigen Lohn beanspruchen könnten, der Stammarbeitnehmern für vergleichbare Arbeit gezahlt werde. Beitragsbemessungsgrundlage für die Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge sei der einem vergleichbaren Stammarbeitnehmer geschuldete Arbeitsentgeltanspruch. Aufgrund des in § 22 Abs. 1 Satz 1 des SGB IV enthaltenen Entstehungsprinzips komme es für die Beitragsansprüche nicht darauf an, ob die Arbeitnehmer den höheren Lohn auch tatsächlich geltend machten. Der Beitragsanspruch entstehe insoweit automatisch mit dem arbeitsrechtlichen Vergütungsanspruch. Nach § 28 f Abs. 2 Satz 3 SGB IV habe der prüfende Rentenversicherungsträger die Höhe der Arbeitsentgelte zu schätzen, wenn diese nicht oder nicht ohne unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand ermittelt werden könnten. Vorliegend sei die personenbezogene Ermittlung der geschuldeten Arbeitsentgelte aufgrund der großen Anzahl der zu prüfenden Beschäftigungsverhältnisse - wenn überhaupt - nur mit unverhältnismäßig großem Aufwand möglich. Im Prüfungszeitraum hätten 549 Beschäftigungsverhältnisse vorgelegen. Mit Schreiben vom 30.12.2010 und vom 26.10.2011 habe die Antragstellerin der Antragsgegnerin auf Nachfrage mitgeteilt, dass es nicht möglich gewesen sei, Entgeltdaten vergleichbarer Arbeitnehmer zu erhalten, da die Entleiher teilweise nicht mehr existieren würden bzw. nicht zur Mitarbeit bereit wären. Nach ihren Ermittlungen betrage die durchschnittliche Lohndifferenz zwischen Leiharbeitnehmer und vergleichbaren Stammarbeitnehmern in Entleihbetrieben 24 %. Dieser Prozentwert gründe sich im Wesentlichen auf die Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung "Lohndifferenzial Zeitarbeit" vom 14.4.2011. Für den Betrieb der Antragstellerin sei sie von einer durchschnittlichen Differenz in Höhe von 3,02 % ausgegangen. Denn es sei zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin ihren Beschäftigten höhere Arbeitsentgelte gezahlt habe als dies im CGZP-Tarifvertrag vorgesehen gewesen sei. Im Rahmen der Betriebsprüfung habe eine mündliche Anhörung der Antragsstellerin zur beabsichtigten Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen stattgefunden. Zur Berechnungsgrundlage seien keine Einwendungen erfolgt. Dem Bescheid war eine 4-seitige "Anlage Berechnung der Beiträge" beigefügt.
Die Antragstellerin machte mit ihrem Widerspruch vom 10.4.2012 und mit ihrem am gleichen Tag beim SG eingereichten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Bescheides vom 16.3.2011 Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides geltend. Sie führte aus, zum einen komme der Entscheidung des BAG vom 14.12.2010 keine Rückwirkung zu. Gegen eine solche "echte Rückwirkung" bestünden auch verfassungsrechtliche Bedenken. Zum anderen könne sie Vertrauensschutz für sich in Anspruch nehmen, da auch andere Stellen, etwa die Bundesagentur für Arbeit, von der Wirksamkeit der geschlossenen Tarifverträge ausgegangen seien. Des Weiteren erhebe sie die Einrede der Verjährung, weil ihr wegen der Komplexität der Materie vorsätzliches Verhalten nicht vorgeworfen werden könne. Darüber hinaus werde eine vorhergehende Betriebsprüfung nicht ausreichend berücksichtigt. Schließlich bestimmten die Vorschriften der §§ 3, 9 AÜG, dass Ermittlungen des Equal pay nur für vergleichbare Arbeitnehmer des Entleihers durchgeführt werden könnten. Eine Sachverhaltsermittlung von Amts wegen sei unterblieben, stattdessen sei eine vage Schätzung vorgenommen und mit Pauschalen gearbeitet worden. Die von ihr zu leistenden Beitragsnachweiskorrekturen seien mit einem unverhältnismäßigen Arbeitsaufwand verbunden. Außerdem ergebe sich aus der Forderung eine außerordentliche finanzielle Belastung.
Mit Beschluss vom 24.4.2012 - S 1 R 241/12 ER - hat das SG Mainz die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 10.4.2012 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 16.3.2012 angeordnet. Zur Begründung hat das SG im Wesentlichen ausgeführt, es bestünden Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides, und zwar hinsichtlich der Höhe der geltend gemachten Nachforderung, da sich die Forderung auf einen Zeitraum beziehe, der über die Vierjahresfrist des § 25 Abs. 1 S. 2 SGB IV hinausgehe. Soweit die Antragsgegnerin davon ausgehe, dass die Antragstellerin schon damals billigend in Kauf genommen habe, dass höhere Beiträge zu zahlen seien, sei nach Auffassung der Kammer rückschauend und objektiv betrachtet für einen verständigen Arbeitgeber nicht vorhersehbar gewesen, dass das BAG die Tariffähigkeit der Gewerkschaft verneinen würde. Daher könne von bedingtem Vorsatz gemäß § 25 Abs. 1 S. 2 SGB IV nicht ausgegangen werden. Eine Herausrechnung des Zeitraums bzw. der Summe, die noch innerhalb der normalen Verjährungsvorschriften gefordert werden könne sei nach Aktenlage nur schwerlich möglich und nicht Aufgabe des Gerichts, weshalb der Vollzug des Bescheides insgesamt auszusetzen und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen sei.
Gegen den ihr am 24.4.2012 zugestellten Beschluss hat die Antragsgegnerin am 14.5.2012 Beschwerde erhoben.
Zur Begründung trägt die Antragsgegnerin vor, die Beiträge seien entgegen der Auffassung des SG noch nicht verjährt. Denn die Antragstellerin habe seit der BAG-Entscheidung vom 14.12.2010 Kenntnis über rückwirkend höhere Lohn- und Beitragsansprüche erlangt, so dass ab diesem Zeitpunkt mindestens bedingter Vorsatz im Sinne des § 25 Abs 1 Satz 2 SGB IV vorliege.
Die Antragsgegnerin beantragt,
unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Mainz vom 24.4.2012 - S 1 R 241/12 ER - den Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 16.3.2012 abzulehnen.
Die Antragstellerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Antragstellerin wiederholt und vertieft ihre Rechtsauffassung und weist ergänzend darauf hin, dass die Antragsgegnerin den Sachverhalt entgegen § 20 Zehntes Sozialgesetzbuch (SGB X) nur unzureichend ermittelt habe. Die Grundlagen für eine Schätzung seien nicht gegeben. Sie habe keine Aufzeichnungspflichten verletzt. Auch das LSG Schleswig - Holstein (Beschluss vom 20.4.2012 - L 5 KR 9/12 B ER) habe ausgeführt, dass einem Nachforderungsbescheid eine auf den einzelnen Arbeitnehmer bezogene Nachberechnung zu entnehmen sein müsse.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen; dieser ist Gegenstand der Entscheidungsfindung durch den Senat gewesen.

II.
Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des SG Mainz vom 24.4.2012 ist zulässig, jedoch unbegründet.
Das SG hat zu Recht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 10.4.2012 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 16.3.2012 angeordnet.
Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage – wie hier – keine aufschiebende Wirkung haben, diese ganz oder teilweise anordnen. Insoweit ist hier nämlich festzustellen, dass gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG die ansonsten nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG eintretende aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten entfällt.
Bei der nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG zu treffenden Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist eine Abwägung des Aussetzungsinteresses der Antragstellerin und des von der Antragsgegnerin ggf. zur Begründung des von ihr angeordneten Sofortvollzuges deutlich gewordenen öffentlichen Interesses an einem Sofortvollzug der Entziehung vorzunehmen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG Kommentar, 10. Aufl. 2012, § 86 b Rn. 12). Maßgebliches Kriterium bei dieser Abwägung sind zum einen die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs. Insoweit besteht Einigkeit, dass bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit die aufschiebende Wirkung anzuordnen ist, bzw. bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit des Rechtsbehelfes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen ist. Dabei ist grundsätzlich eine dynamische Betrachtung geboten, d.h. die Anforderungen sind tendenziell umso geringer anzusetzen, je schwerer die auferlegte Belastung ist und je mehr sie Unabänderliches bewirkt (Keller a.a.O., § 86b Rn. 12e). Zum anderen sind aber auch die Folgen eines Sofortvollzugs für den Betroffenen bzw. aufgrund eines Aufschubs für den Sozialleistungsträger einzubeziehen (Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 1. Aufl. 2005, Rn. 186 ff.; Keller a.a.O., § 86 b Rn. 12 e bis 12 h).
Unter Berücksichtigung der vorgenannten Erwägungen hat das SG dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu Recht stattgegeben. Nach der im sozialgerichtlichen Eilverfahren gebotenen summarischen Überprüfung des hier angefochtenen Bescheides vom 16.3.2012 erweist sich dieser als offensichtlich rechtswidrig, so dass - wie geschehen - die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 10.4.2012 anzuordnen war.
Rechtsgrundlage für den Erlass des angefochtenen Beitragsbescheides ist § 28 p Abs. 1 SGB IV. Danach prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV erfüllen und erlassen im Rahmen dessen Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht und zur Beitragshöhe in den einzelnen Sozialversicherungszweigen.
Für die Beiträge abhängig Beschäftigter ist in der Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung jeweils das Arbeitsentgelt des Beschäftigten Bemessungsgrundlage für die Festsetzung der Beiträge (§ 226 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), § 57 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) i.V.m. § 226 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, § 162 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI), § 342 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III). Als Arbeitsentgelt gelten gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IV alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Die Beitragsansprüche der Versicherungsträger entstehen, sobald ihre im Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen (§ 22 Abs.1 Satz 1 SGB IV). Daher ist die Bemessungsgrundlage für den Beitragsanspruch nicht das vom Arbeitgeber tatsächlich gezahlte, sondern das von ihm geschuldete Arbeitsentgelt, unabhängig von seiner arbeitsrechtlichen Durchsetzbarkeit oder Durchsetzung.
Nach § 10 Abs. 4 des AÜG ist der Verleiher verpflichtet, dem Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung an den Entleiher die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgeltes zu gewähren. Soweit ein auf das Arbeitsverhältnis anzuwendender Tarifvertrag abweichende Regelungen trifft (§ 3 Abs. 1 Nr. 3, § 9 Nr. 2 AÜG), hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer die nach diesem Tarifvertrag geschuldeten Arbeitsbedingungen zu gewähren. Soweit ein solcher Tarifvertrag die festgesetzten Mindeststundenentgelte unterschreitet, hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer für jede Arbeitsstunde das im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers für eine Arbeitsstunde zu zahlende Arbeitsentgelt zu gewähren. Im Falle der Unwirksamkeit der Vereinbarung zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer nach § 9 Nr. 2 AÜG hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren. Soweit ein anzuwendender Tarifvertrag abweichende Regelungen trifft (§ 3 Abs. 1 Nr. 3, § 9 Nr. 2 AÜG), hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer die nach diesem Tarifvertrag geschuldeten Arbeitsbedingungen zu gewähren. Im Falle der Unwirksamkeit der Vereinbarung zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer nach § 9 Nr. 2 AÜG hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgeltes zu gewähren (so genanntes equal-pay Prinzip).
Im vorliegenden Fall ist zwar davon auszugehen, dass der von der Antragstellerin bei der Entgeltberechung zugrunde gelegte Tarifvertrag der CGZP mit dem AMP in dem maßgeblichen Prüfzeitraum materiell-rechtlich nicht anwendbar war, weil die CGZP nicht tariffähig war. Wegen fehlender Tarifvertragsfähigkeit der CGZP auch in der Vergangenheit (vgl. dazu BAG, Beschluss vom 23.05.2012 - 1 AZB 58/11 - , zit. nach Juris Rn. 12; vgl. auch Hessisches LSG, Beschluss vom 23.04.2012 - L 1 KR 95/12 B ER, Juris) ist des Weiteren davon auszugehen, dass die CGZP auch in der Vergangenheit nicht in der Lage war, wirksam Tarifverträge in der Zeitarbeitsbranche abzuschließen.
Ob die Antragsgegnerin bei der Ermittlung der equal-pay-Ansprüche eine Schätzung der Einkünfte bzw. der (theoretisch bestehenden) Lohnansprüche auf der Grundlage von § 28 f Abs. 2 Satz 3 SGB IV vornehmen durfte, lässt sich allerdings nicht abschließend beurteilen. Die Antragsgegnerin begründet diese Vorgehensweise damit, dass vorliegend die personenbezogenen Ermittlungen der jeweils geschuldeten Arbeitsentgelte – wenn überhaupt – nur mit unverhältnismäßig großem Aufwand möglich sei. Grund sei die hohe Anzahl der Beschäftigungsverhältnisse (549). Grundvoraussetzung eines Vorgehens nach § 28f Abs. 2 SGB IV ist jedoch, dass der Arbeitgeber seine Aufzeichnungspflicht nicht ordnungsgemäß erfüllt hat und dadurch die Versicherungs- oder Beitragspflicht oder die Beitragshöhe nicht festgestellt werden kann. Diese Voraussetzung der Verletzung der Aufzeichnungspflicht gilt nicht nur für den in Satz 1 der Vorschrift geregelten so genannten Lohnsummenbescheid, sondern ist auch Voraussetzung für die Schätzungsbefugnis des Satzes 3 (LSG Schleswig - Holstein, Beschluss vom 20.4.2012 - L 5 KR 9/12 B ER m.w.N.). Diese Schätzungsbefugnis soll die Pflichtverletzung des Arbeitgebers kompensieren, der entgegen § 28f Abs. 1 SGB IV keine ordnungsgemäßen Aufzeichnungen geführt hat. Hat also der Arbeitgeber ordnungsgemäße Aufzeichnungen geführt, fehlt es an der grundlegenden Voraussetzung eines Vorgehens nach § 28f Abs. 2 SGB IV. Da die Antragstellerin eine Verletzung ihrer Aufzeichnungspflicht ausdrücklich bestreitet und sich der hierzu geführte Schriftwechsel (angeblich Schreiben der Antragstellerin vom 30.12.2010 und 26.10.2011) nicht in der dem Senat vorliegenden Verwaltungsakte befindet, kann nicht überprüft werden, ob die Antragsgegnerin zu dieser Vorgehensweise überhaupt berechtigt gewesen ist.
Aber selbst wenn vorliegend eine Schätzung der Bemessungsgrundlage für die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge im Sinne von § 28 f Abs 2 Satz 3 SGB IV möglich gewesen sein sollte, erweist sich der Bescheid als rechtswidrig, weil er gegen den Bestimmtheitsgrundsatz in § 33 Abs. 1 SGB X verstößt (vgl dazu auch den Beschluss des erkennenden Senats vom 21.6.2012 - L 6 R 172/12 B ER). Denn es ist nicht nachvollziehbar, auf welchen Tatsachengrundlagen die Berechnungen der Nachforderungsbetrages in Höhe von 128.487,19 Euro beruhen und welche Berechnungen überhaupt angestellt wurden. Die Antragsgegnerin hat im Bescheidtext lediglich die theoretischen Grundlagen ihrer Schätzung dargestellt, jedoch nicht näher erläutert, wieso sie im Betrieb der Antragstellerin - abweichend von der in der erwähnten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung "Lohndifferenzial Zeitarbeit" vom 14.4.2011- ausgerechnet von einer durchschnittlichen Lohndifferenz von "3,02 %" ausgegangen ist. Außerdem lässt sich für die Antragstellerin und für den Senat nicht nachvollziehen, welches Zahlenwerk der jeweils den Einzugsstellen zugeordneten Summen zugrunde liegt, die sich insgesamt zu einem Betrag von 128.487,19 Euro aufaddieren. Die Anlage "Berechnung der Beiträge" listet lediglich die Gesamtsummen der Einzugstellen auf, ohne dass ein Zahlenwerk zu deren Zusammensetzung im Einzelnen beigefügt wäre.
Außerdem bestehen ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides auch deshalb, weil Beitragsansprüche teilweise verjährt sein könnten. Hinsichtlich der Frage der Verjährung von Beitragsforderungen unterscheidet § 25 Abs. 1 SGB IV zwischen einer kurzen vierjährigen Verjährungsfrist und einer langen 30-jährigen Verjährungsfrist. Nach Satz 1 des § 25 Abs. 1 SGB IV verjähren Ansprüche auf Beiträge in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie fällig geworden sind. Vorsätzlich vorenthaltene Beiträge verjähren dagegen nach Satz 2 der Vorschrift in 30 Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie fällig geworden sind. Die 30-jährige Verjährungsfrist des § 25 Abs 1 Satz 2 SGB IV Vorschrift kommt auch dann zum Tragen, wenn der Vorsatz zur Vorenthaltung der Beiträge bei ihrer Fälligkeit noch nicht vorlag, jedoch bis zum Ablauf der vierjährigen Verjährungsfrist eingetreten ist (BSG, Urteil vom 30.3.2000, B 12 KR 14/99 R, SozR 3-2400 § 25 Nr. 7), wobei bedingter Vorsatz ausreicht (BSG, Urteil v. 26.1.2005, B 12 KR 3/04 R, SozR 4-2400 § 14 Nr. 7). Ob allein der Umstand, dass der Beschluss des BAG am 14.12.2010 verkündet worden ist, insoweit ausreicht, ist streitig. Das LSG Essen (Beschlüsse vom 10.5.2012 - L 8 R 164/12 B ER und vom 25.6.2012 - L 68 R 382/12 B ER) verlangt insoweit einzelfallbezogene Feststellungen, während andere Gerichte auf den Zeitpunkt der Verkündung (LSG Darmstadt, Beschluss vom 23.4.2012 - L 1 KR 95/12 B ER - m.w.N.) und wieder andere auf die Bekanntgabe der Entscheidungsgründe (LSG Schleswig, a.a.O.) abstellen. Im vorliegenden Fall hat die Antragsstellerin in der Antragsschrift ein - sich nicht in der Verwaltungsakte befindliches - Schreiben der Antragsgegnerin vom 28.12.2010 erwähnt. Ob jenes Schreiben die notwendigen Informationen über die rückwirkende Beitragspflicht enthielt und ob aus diesem (einzelfallbezogenen) Umstand spätestens ab Zugang dieses Schreibens zu schließen ist, dass der Beitragspflichtige die Beiträge mit bedingtem Vorsatz vorenthalten hat, weil er die Nichtabführung der Beiträge billigend in Kauf genommen hat, was wiederum den Eintritt der Verjährung ausschließend würde, ist offen. Daher erscheint angesichts der insoweit streitigen Problematik eine teilweise Verjährung der Beiträge bei summarischer Prüfung nicht ausgeschlossen.
Nach alledem ist die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des SG Mainz vom 24.4.2012 zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs.1 S. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 4 Gerichtskostengesetz (GKG) und berücksichtigt, dass angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung des Verfahrens für die Antragstellerin der Streitwert die Hälfte des Streitwertes der Hauptsache beträgt.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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