L 5 KR 57/09

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 14 KR 1056/07
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 57/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Enthält ein Verwaltungsakt sowohl begünstigende als auch belastende Regelungen, so entscheidet sich die Frage, ob er ein begünstigender Verwaltungsakt i. S. d. § 45 SGB X ist, aus der subjektiven Sicht des Betroffenen.

§ 49 SGB X greift im Falle der Anfechtung eines Verwaltungsakts durch einen Dritten nur dann ein, wenn dieser während des laufenden Vor- oder Gerichtsverfahrens aufgehoben wird. Dies ist bei einem Anerkenntnis oder Vergleich im Sinne des § 101 SGG, die die Erledigung des Rechtsstreits mit dem Dritten zur Folge haben, nicht gegeben.
&8195; Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 16. Juli 2009 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat der Klägerin und der Beigeladenen zu 4) auch die außergerichtlichen Kosten des zweiten Rechtszuges zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin seit dem 1. Mai 1999 eine selbstständige Tätigkeit ausübt.

Die 1947 geborene Klägerin ist Gesellschafterin mit einem Anteil von 25 v. H. an der Beigeladenen zu 4). Der Gesellschaftsanteil wurde ihr von deren Geschäftsführer und weiterem Gesellschafter, ihrem Ehemann J. H., am 5. Mai 1999 übertragen. Zwischen der Beigeladenen zu 4) und der Klägerin besteht ein Arbeitsvertrag vom 1. Mai 1999, demzufolge das Arbeitsverhältnis unbefristet abgeschlossen ist und als Tätigkeiten die Angebots- und Auftragsbearbeitung, Kundenpflege, Festlegung der Geschäftsziele, Planung und Ausführung von Investitionen beinhalten sollte. Die Vergütung war monatlich auf 2.450,00 EUR zuzüglich 230,00 EUR Sachbezug für Pkw vereinbart worden (Ziffer 3). Die Klägerin kann die Dauer der täglichen Arbeitszeit und ihren Arbeitsort frei wählen und unterliegt keinem Weisungsrecht (Ziffer 4). Ihre Arbeit umfasst sämtliche Arbeitsbereiche und Arbeitsaufträge. Sie entscheidet selbst, in welcher Art und Weise und mit welchen Arbeitsmitteln sie ihre Arbeitsgebiete bearbeitet bzw. die Arbeitsaufträge ausführt (Ziffer 5). Es besteht kein Urlaubsanspruch, Ortsabwesenheit braucht vom Arbeitgeber nicht genehmigt zu werden (Ziffer 6). Überstunden können nicht geltend gemacht werden (Ziffer 7). Es ist ein Anspruch auf Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall vereinbart, deren Dauer nicht festgelegt ist (Ziffer 8). Die Gesellschafterversammlung beschloss am 29. September 2005 als Versorgung der Klägerin eine Direktversicherung bei der H.-M. Lebensversicherungs-AG.

Mit notariellem Vertrag vom 18. September 2008 wurde der Gesellschaftsanteil der Klägerin an der Beigeladenen zu 4) auf 50 v.H. erhöht.

Die Klägerin ist bei der Beklagten gegen Krankheit versichert. Diese nahm eine Überprüfung des Versicherungsverhältnisses vor und stellte mit Bescheiden vom 21. und 30. November 2005 fest, dass die Klägerin bei der Beigeladenen zu 4) nicht beschäftigt, sondern selbstständig tätig sei. Als Gesellschafter-Ge-schäftsführerin verfolge sie aufgrund ihrer Gesellschafterstellung unternehmerische Ziele und sei nicht in einem fremden Unternehmen tätig. Sie trage einen erheblichen Anteil am Unternehmerrisiko und sei vom Selbstkontrahierungsverbot gemäß § 181 BGB befreit. Sie sei damit nicht persönlich oder wirtschaftlich von der Beigeladenen zu 4) abhängig. Die Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung seien zu Unrecht entrichtet worden. Sie – die Beklagte – werde die Klägerin ab 1. Mai 1999 als hauptberuflich selbstständige Unternehmerin in die Versicherungsklasse F11 000 (ohne Krankengeldanspruch) einstufen. Die Beigeladene zu 3) erhielt eigenen Angaben zufolge den Bescheid vom 30. November 2005 am 12. April 2006 zur Kenntnis. Sie äußerte nach mehrfachem Schriftwechsel Bedenken hinsichtlich der Selbstständigkeit der Klägerin und forderte die Beklagte erstmalig mit Schreiben vom 5. Oktober 2006 auf, die Versicherungspflicht der Klägerin in der Rentenversicherung festzustellen. Diesen Anspruch machte sie am 28. März 2007 beim Sozialgericht Berlin geltend (S 84 KR 1039/07). Die Beklagte erkannte den Klaganspruch an.

Mit Bescheid vom 19. Juni 2007 stellte sie fest, dass die Klägerin bei der Beigeladenen zu 4) beschäftigt sei. Sie nahm den Bescheid vom 30. November 2005 in Ausführung des Anerkenntnisses vor dem Sozialgericht Berlin zurück. Zur Begründung führte sie aus, als mitarbeitende Minderheitsgesellschafterin sei die Klägerin nicht in der Lage, ihr nicht genehme Weisungen ihres Ehemannes als Geschäftsführer zu verhindern. Dagegen legte die Klägerin am 10. Juli 2007 Widerspruch ein. Sie machte einen Vertrauensschutz geltend und stützte sich auf den Bescheid vom 21. November 2005, der bestandskräftig geworden sei. Die Rückzahlung der Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung seit 1. Mai 1999 sei darin ausdrücklich geregelt. Seit Dezember 2005 habe sie sich freiwillig krankenversichert und es seien keine Beiträge zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung entrichtet worden. Im Vertrauen darauf habe sie Vermögensverfügungen vorgenommen, die durch den Wegfall der Sozialversicherungen zwingend erforderlich gewesen seien. Sie habe eine private Altersvorsorge gebildet, deren monatliche Beiträge sie nicht zusätzlich zur gesetzlichen Rentenversicherung zahlen könne. In dem Rechtsstreit zwischen der Beklagten und der Beigeladenen zu 3) sei sie nicht beigeladen gewesen. Im Übrigen sei sie selbstständig tätig. Neben ihrem Ehemann sei sie alleinige Gesellschafterin der Beigeladenen zu 4), bei der sie mitarbeite. Sie könne Gesellschafterbeschlüsse herbeiführen oder verhindern und sei neben ihrem Ehemann gleichberechtigt. Sie unterliege keinem Direktionsrecht und verfüge frei über die Gestaltung ihrer Tätigkeit. Es bestehe keine Weisungsgebundenheit. Urlaub müsse sie sich nicht genehmigen lassen und sie unterliege nicht dem Kündigungsrecht oder Kündigungsfristen. Der Arbeitsvertrag sei nachträglich ausgedruckt worden; der Ausdruck weise daher die Eurobeträge auf. Sie und ihr Ehemann hingen beide finanziell vom wirtschaftlichen Erfolg der Beigeladenen zu 4) ab. Daher habe sie ein existenzielles Interesse an deren Erfolg. Die Leitung des Betriebes habe sie sich mit ihrem Ehemann aufgeteilt; sie übernehme die kaufmännischen Arbeiten, ihr Ehemann die technischen Angelegenheiten. Sie sei am Gewinn der Beigeladenen zu 4) beteiligt. Mit Widerspruchsbescheid vom 12. September 2007 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Gegen die Entscheidung hat die Klägerin am 16. Oktober 2007 Klage bei dem Sozialgericht Lübeck erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, der Bescheid vom 21. November 2005 sei nach wie vor bestandskräftig, da er nicht aufgehoben worden sei. Die Regelung des § 49 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), nach dem ein Verwaltungsakt unter bestimmten Voraussetzungen aufgehoben werden könne, wenn er von einem Dritten angefochten worden sei, sei nicht anwendbar. Denn die Beklagte handele im Auftrag der Beigeladenen zu 3). Sie trete als Berechtigte zur "Überprüfung des Versicherungsverhältnisses in der Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung" auf. Sie gehe ferner auf die Beitragszahlungen der Rentenversicherung ein und bestätige, dass diese zu Unrecht gezahlt worden seien. In dem Bescheid fehle jeglicher Hinweis darauf, dass die Feststellung hinsichtlich der Selbstständigkeit für die Rentenversicherung nicht bindend sein solle. Dies bestätige die Beigeladene zu 3) in ihrem Schreiben vom 26. November 2006. Sie habe auf die Bestandskraft der Bescheide vertraut und eine private Rentenversicherung abgeschlossen, in die sie monatlich 1.250,17 EUR einzahle. Den Vertrag könne sie nicht mehr auflösen, sondern er sei für zehn Jahre verbindlich abgeschlossen worden. Daneben könne sie nicht noch gesetzliche Sozialversicherungsbeiträge abführen. Ferner liege ein Fall unzulässiger Rechtsausübung vor; da die Beigeladene zu 3) kein Dritter im Sinne des Gesetzes sei, sei die Rechtsmittelfrist anzuwenden. Es gelte daher nicht die Jahresfrist für die Klage seit Zustellung der Bescheide. Sie sei in den Schriftverkehr zwischen der Beklagten und der Beigeladenen zu 3) nicht einbezogen worden. Schließlich sei sie selbstständig tätig. Hierzu hat die Klägerin ihren Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren vertieft und ergänzend ausgeführt, sie habe Vollmachten über die Geschäftskonten der Beigeladenen zu 4). Ferner habe die Beklagte das ihr zustehende Ermessen nicht ausgeübt und sie nicht vor Erlass des Bescheides angehört.

Die Klägerin hat nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 19. Juni 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2007 aufzuheben und festzustellen, dass die Ausgangsbescheide der Beklagten vom 21. und 30. No¬vember 2005 wirksam sind und sie seit dem 1. Mai 1999 eine selbstständige Tätigkeit ausübt.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat ausgeführt, ein Vertrauensschutz für die Klägerin habe nicht entstehen können, solange die Beigeladene zu 3) nicht mit einer Stellungnahme befasst gewesen sei. Sobald die Klägerin – wie angekündigt – einen Anteil von 50 v. H. des Gesellschafterkapitals halte, könne sich eine andere Beurteilung ergeben.

Die Beigeladene zu 3) hat ausgeführt, der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig. Die Regelung des § 49 SGB X sei nur solange anwendbar, wie der angefochtene Bescheid nicht allen Beteiligten gegenüber bestandskräftig geworden sei. Dies sei jedoch der Fall; mit dem abgegebenen Anerkenntnis vor dem Sozialgericht Berlin sei jenes Verfahren abschließend beendet und der Bescheid vom 30. November 2005 infolgedessen unanfechtbar geworden. Ab diesem Zeitpunkt habe die Klägerin auf die Bestandskraft des Bescheides vertrauen können. Die Voraussetzungen des § 45 SGB X für eine Aufhebung lägen nicht vor, denn die Klägerin sei nicht zuvor angehört und es sei das Ermessen nicht ausgeübt und keine Vertrauensschutzprüfung durchgeführt worden.

Im Einverständnis der Beteiligten hat das Sozialgericht ohne mündliche Verhandlung entschieden und mit Urteil vom 16. Juli 2009 den Bescheid vom 19. Juni 2007 sowie den Widerspruchsbescheid vom 12. September 2007 aufgehoben. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, hinsichtlich des Begehrens, die selbstständige Tätigkeit seit dem 1. Mai 1999 festzustellen, fehle es an einem Feststellungsinteresse der Klägerin. Die Feststellung sei nicht notwendig, da das Anfechtungsbegehren ausreiche, um den Rechtsschutz der Klägerin zu gewährleisten. Nach der seit Oktober 2008 bestehenden Aufteilung der Geschäftsanteile von je 50 v. H. hätten die Beklagte und die Beigeladene zu 3) erkennen lassen, dass sie für die Zukunft eine selbstständige Tätigkeit der Klägerin anerkennen würden. Im Übrigen seien der Bescheid vom 19. Juni 2007 und der Widerspruchsbescheid rechtswidrig. Der Bescheid vom 30. November 2005 sei mit der Annahme des Anerkenntnisses durch die Beigeladene zu 3) bestandskräftig geworden, nachdem das Anerkenntnis den Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Berlin am 21. Mai 2007 erledigt habe. Die Rücknahme des Feststellungsbescheides durch die Beklagte sei jedoch erst mit Bescheid vom 19. Juni 2007 erfolgt. Der Bescheid vom 30. November 2005 könne nicht mehr aufgehoben werden, da die Klägerin einen Vertrauensschutz geltend machen könne. Sie habe im Hinblick auf die Feststellung der selbstständigen Tätigkeit Vermögensdispositionen getroffen. Ferner habe die Beklagte kein Ermessen ausgeübt.

Gegen die ihr am 22. Juli 2009 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung der Beklagten, die am 29. Juli 2009 beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangen ist. Die Beklagte ist weiterhin der Auffassung, der Klägerin stehe kein Vertrauensschutz zu.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 16. Juli 2009 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf ihren erstinstanzlichen Vortrag und führt ergänzend aus, sie sei selbstständig tätig.

Die Beigeladene zu 3) stellt keinen Sachantrag. Sie führt aus, die Aufhebung des Bescheides vom 30. November 2005 richte sich allein nach den Rücknahmevoraussetzungen, die einen Vertrauensschutz erforderten. Denn die Regelung des § 49 SGB X sei infolge der Bestandskraft des Bescheides vom 30. November 2005 nicht anwendbar. Dieser sei infolge des angenommenen Anerkenntnisses bestandskräftig geworden. Im Rahmen des § 45 SGB X seien jedoch kein Anhörungsverfahren und keine Ermessensprüfung vorgenommen worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Verfahrensakte Bezug genommen, die dem Senat vorgelegen haben.

&8195;

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 16. Juli 2009 ist zulässig aber nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist nicht zu beanstanden. Das Sozialgericht hat zutreffend den Bescheid der Beklagten vom 19. Juni 2007 und den Widerspruchsbescheid vom 12. September 2007 aufgehoben, denn diese waren rechtswidrig. Die Beklagte hat fehlerhaft die Entscheidung vom 30. November 2005 aufgehoben und in dem angefochtenen Bescheid festgestellt, dass die Klägerin sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist.

Allerdings hatte die Beklagte in dem Bescheid vom 19. Juni 2007 den Bescheid vom 21. November 2005 nicht genannt, in dem eine dem Bescheid vom 30. November 2005 gleichgeartete Feststellung der Versicherungsfreiheit enthalten war. Dies ist jedoch unmaßgeblich, da infolge des Bescheides vom 30. November 2005, der ein Zweitbescheid ist, der Bescheid vom 21. November 2005 seine Erledigung gefunden hatte.

Als Eingriffsgrundlage für den Bescheid vom 19. Juni 2007, mit dem die Beklagte den Bescheid vom 30. November 2005 zurückgenommen hat, kommt lediglich § 45 SGB X in Betracht. Die Rücknahme ist der actus contrarius zur Vornahme des Verwaltungsakts. Die Feststellung der Versicherungsfreiheit im Bescheid vom 30. November 2005 stellte für die Kläge¬rin eine Begünstigung im Sinne des § 45 SGB X dar, denn die Versicherungspflicht wäre eine Belastung gewesen, da sie mit der Beitragspflicht und weiteren Nebenpflichten der Klägerin einhergegangen wäre. Zwar enthält die Feststellung über die Versicherungspflicht sowohl begünstigende Elemente, insbesondere die Leistungsansprüche, die aus der Pflichtversicherung fließen, jedoch sind mit der Pflicht auch Belastungen verbunden, da Beiträge zu zahlen sind und andere Nebenpflichten bestehen. Dies gilt für einen Bescheid, der die Versicherungsfreiheit ausspricht in umgekehrter Weise. Ob ein solcher Bescheid mit sowohl begünstigendem als auch belastendem Inhalt insgesamt ein begünstigender oder belastender Verwaltungsakt ist, richtet sich nach der gegenwärtigen subjektiven Sicht des Betroffenen (BSG v. 28.9.1999 – B 2 U 32/98 R, SozR 3-2200 § 605 Nr.1; LSG Baden-Württemberg v. 23.3.2006 – L 10 U 585/04, HVBG-Info 2006 Nr. 7, 806). Indem der Bescheid vom 30. Novem¬ber 2005 die Feststellung getroffen hatte, dass die Klägerin diesen Belastungen nicht unterlag, war er für sie begünstigend, da sie, wie sich aus dem Rechtstreit ergibt, an dieser Feststellung festhalten will. Die Rücknahme des Bescheides vom 30. November 2005 kam insbesondere nur dann in Betracht, wenn dieser begünstigende Verwaltungsakt rechtswidrig war und die weiteren Voraussetzungen für eine Rücknahme nach § 45 SGB X vorlagen.

Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Be-günstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Inte¬resse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (Satz 1). Das So¬zialge¬richt hat zutreffend ausgeführt, dass es sich hierbei um eine Eingriffsgrundlage handelt, die der Behörde einen Ermessensspielraum eröffnet (Waschull in LPK-SGB X § 45 Rz. 57). Das folgt bereits aus dem Wortlaut und der Formulierung "darf" der Vorschrift, ferner aus der Tatsache, dass die Behörde das öffentliche Interesse mit dem privaten Interesse des Betroffe¬nen abwägen muss. Der Abwägungsvorgang verlangt einen Entscheidungsspielraum der Behörde, der regelmäßig in eine Ermessensbetätigung einmünden muss. Die Beklagte hat das Ermessen nicht ausgeübt, jedenfalls lässt der Bescheid vom 19. Juni 2007 dies nicht erkennen. Das wäre jedoch erforderlich, denn nach § 35 Abs. 1 SGB X ist ein schriftlicher Verwaltungsakt mit einer Begründung zu versehen, die die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe für die Entscheidung beinhalten muss. Eine Ermessensentscheidung muss darüber hinaus die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei einer Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Dies ist bei dem Bescheid vom 19. Juni 2007 nicht der Fall, sodass der Bescheid an einem Verfahrensfehler leidet. Eine Heilung des Verfahrensfehlers gemäß § 41 Abs. 1 SGB X ist nicht erfolgt. Nach dieser Vorschrift ist eine Verletzung von Verfahrensvorschriften, die nicht den Verwaltungsakt nach § 40 SGB X nichtig macht, u. a. unbeachtlich, wenn die erforderliche Anhörung eines Beteilig¬ten nachgeholt wird. Es kann hier dahinstehen, ob diese Heilungsregelung auch auf Ermessensentscheidungen anwendbar ist (ablehnend Littmann in Hauck/Noftz, SGB X § 41 Rz. 9). Denn tatsächlich ist die Begründung nicht nachgeholt worden.

Darüber hinaus wäre es auch notwendig gewesen, dass vor Erlass des belastenden Bescheides die Klägerin angehört worden wäre. Nach § 24 SGB X ist es erforderlich, vor Erlass eines Verwaltungsakts, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Auch dies war nicht der Fall, ohne dass einer von den Fällen, in denen eine Anhörung unterbleiben kann (Abs. 2 der Vorschrift), vorliegt. Nach § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X kann zwar auch die erforderliche Anhörung eines Beteiligten zur Heilung des Verfahrensfehlers nachgeholt werden, gemäß Abs. 2 der Vorschrift jedoch auch dies nur bis zum Ende der letzten Tatsacheninstanz eines sozialgerichtlichen Verfahrens.

Die Verfahrensvoraussetzungen des § 45 waren daher nicht erfüllt, sodass die Voraussetzungen für die Rücknahme des Bescheides vom 30. November 2005 nicht vorlagen.

Von den Voraussetzungen des § 45 SGB X kann auch nicht nach § 49 SGB X abgesehen werden. Nach dieser Vorschrift gelten u. a. die Regelungen des § 45 Abs. 1 bis 4 nicht, wenn ein begünstigender Verwaltungsakt, der von einem Dritten angefochten worden ist, während des Vorverfahrens oder während des sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufgehoben wird, soweit dadurch dem Widerspruch abgeholfen oder der Klage stattgegeben wird. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Wie auch das Sozialgericht ist der Senat der Auffassung, dass die Rücknahme des Bescheides während des laufenden Verfahrens erfolgen muss (ebenso Waschull a.a.O., § 49 Rz. 10; Merten in Hauck/Noftz, § 49 Rz. 11; offengelassen in BSG vom 25. Februar 2010, B 13 R 147/08 R, - juris; im Urteil vom 9. Juni 1999 - B 6 KA 76/97 R, SozR 3-5520 § 44 Nr. 1 hat das BSG auf die Möglichkeit der Anfechtbarkeit des aufzuhebenden Bescheides abgestellt). Allein diese Auslegung entspricht dem Wortlaut des § 49 SGB X ("während des Verfahrens"), der eine Ausnahme von den Vertrauensschutzregelungen der §§ 45 ff. SGB X darstellt. Diese Ausnahmeregelung ist eng zu fassen, da sie in die Rechte des Betroffenen des Verwaltungsakts ein¬greift und der Vertrauensschutz eine zentrale Funktion bei der Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten hat. Anderen¬falls wäre es möglich, noch über langandauernde Zeiträume hinaus als Dritter eine Entscheidung anzufechten, sodass ein Bestandsschutz des Verwaltungsaktes sehr fraglich würde.

Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben. Die Beigeladene zu 3), die im Rahmen des Verfahrens vor dem Sozialgericht Berlin (S 84 KR 1039/07) den Bescheid vom 30. November 2005 angefochten hatte, ist zwar Dritter im Sinne des § 49 SGB X. Jedoch war infolge des angenommenen Anerkenntnisses gemäß § 101 Abs. 2 SGG das Sozialgerichtsverfahren S 84 KR 1039/07 in Berlin erledigt worden. Infolge der Beendigung des Verfahrens war der Bescheid vom 30. November 2005 bestandskräftig und konnte nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X zurückgenommen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor, da der Senat eine am Wortlaut orientierte Interpretation des § 49 SGB X vorgenommen hat und entgegenstehende Rechtsprechung des BSG nicht vorliegt.
Rechtskraft
Aus
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