Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Kiel (SHS)
Aktenzeichen
S 5 U 122/09
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 8 U 69/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1) Die Voraussetzungen für einen Rückzahlungsanspruch der Beklagten, die die Kosten für Medikamente und medizinische Behandlungen des Klägers getragen hat, gemäß § 50 Abs. 2 SGB X i.V.m. § 45 Abs. 2 und 4 SGB X sind hier nicht erfüllt.
2) Der geltend gemachte Rechtsanspruch der Beklagten scheitert - selbst wenn man die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X als erfüllt einstufen wollte - auf jeden Fall daran, dass die entsprechend § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X anzuwendende Jahresfrist nicht eingehalten worden ist.
3) Die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X beginnt regelmäßig erst nach der gemäß § 24 SGB X durchgeführten Anhörung des Betroffenen zu laufen.
2) Der geltend gemachte Rechtsanspruch der Beklagten scheitert - selbst wenn man die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X als erfüllt einstufen wollte - auf jeden Fall daran, dass die entsprechend § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X anzuwendende Jahresfrist nicht eingehalten worden ist.
3) Die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X beginnt regelmäßig erst nach der gemäß § 24 SGB X durchgeführten Anhörung des Betroffenen zu laufen.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 22. März 2012 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger auch dessen außergerichtliche Kosten im Berufungsverfahren zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Verpflichtung zur Zahlung von 9.677,77 EUR für Medikamente und ärztliche Verordnungen, deren Kosten die Beklagte getragen hat.
Der im 1933 geborene Kläger ist von Beruf Arzt. Am 26. August 1986 zeigte er der Beklagten an, dass er sich bei der Behandlung eines an offener Lungentuberkulose erkrankten Patienten angesteckt habe und an einer Urogenitaltuberkulose erkrankt sei. Die Beklagte lehnte die Gewährung einer Entschädigung mit Bescheid vom 18. März 1987 ab. Zwar sei eine beruflich bedingte Infektionsgefährdung nachgewiesen worden, diese habe jedoch nicht zu einer Infektion geführt. Das dagegen eingeleitete Klageverfahren verlief beim Sozialgericht wie auch beim Landessozialgericht und beim Bundessozialgericht erfolglos.
Im März 1997 stellte der Kläger einen Überprüfungsantrag gemäß § 44 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X). Die Beklagte holte ein Gutachten des Arztes für Urologie Prof. Dr. L ein, der die Voraussetzungen einer Berufskrankheit bejahte. Gleichwohl lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit mit Bescheid vom 3. Juli 1998 und Widerspruchsbescheid vom 22. Oktober 1998 ab. Hiergegen erhob der Kläger am 10. November 1998 Klage (S 2 U 179/98).
Nach Einholung mehrerer Gutachten auf urologischem Fachgebiet im Klageverfahren schlossen die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung am 22. Januar 2003 einen Vergleich. Auf dieser Grundlage erkannte die Beklagte mit Ausführungsbescheid vom 25. März 2003 die beim Kläger vorliegende Urogenitaltuberkulose als Berufskrankheit der Nr. 3101 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) an. Als Folgen der Berufskrankheit wurden chronisch-rezidivierende Erkrankungen im Urogenitalbereich und eine erektile Dysfunktion nach jetzt inaktiver, nicht behandlungsbedürftiger Urogenitaltuberkulose anerkannt. Alle anderen aufgetretenen Gesundheitsstörungen seien nicht Folge der Berufskrankheit. Behandlungskosten würden übernommen, sofern die Behandlung von einem Urologen durchgeführt werde und im Zusammenhang mit den Folgen der anerkannten Urogenitaltuberkulose stehe. Auch die Kosten für evtl. notwendig werdende Medikamente würden übernommen, sofern sie von dem behandelnden Urologen verordnet würden. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 24. April 2003 Widerspruch ein. Im Verlaufe des Widerspruchsverfahrens beantragte der Kläger die Übernahme der Kosten für diverse Medikamente. Es folgte eine schriftliche Auseinandersetzung insbesondere hinsichtlich der Kostenübernahme für das Medikament Viagra. Nach erfolglosem Vorverfahren erhob der Kläger im November 2004 Klage beim Sozialgericht Kiel (S 2 U 147/04), die letztlich durch gerichtlichen Vergleich beendet wurde. Darin verpflichtete sich die Beklagte, gutachterlich untersuchen zu lassen, ob das Medikament Viagra beim Kläger im Rahmen einer On-demand-Therapie wirksam ist oder ob es einer intermittierenden Dauertherapie bedarf, und entsprechend ihr Ermessen hinsichtlich des Umfangs der Behandlung auszuüben. Bislang ist jener Vergleich nicht ausgeführt worden.
Mit Schreiben an den behandelnden Urologen Dr. K vom 9. Dezember 2004 wies die Beklagte darauf hin, dass eine Verordnung von Medikamenten gegen Muskelkrämpfe, Viren verursachte Feigwarzen im Genitalbereich, Bluthochdruck sowie Antidepressiva nicht zu Lasten der Berufsgenossenschaft verordnet werden könnten, da die zu Grunde liegenden Gesundheitsstörungen nicht Folge der anerkannten Berufskrankheit seien.
Mit Bescheid vom 28. Februar 2005 lehnte die Beklagte die Übernahme der Kosten für Erkrankungen, die nicht im Zusammenhang mit den anerkannten Folgen der Berufskrankheit stehen, ab. Das dagegen eingeleitete Klageverfahren (S 2 U 64/05), in dem weitere urologische und internistische Sachverständigen-Gutachten eingeholt worden waren, verlief erfolglos. Seine Berufung gegen das klagabweisende Urteil des Sozialgerichts nahm der Kläger im Januar 2009 zurück. Bereits während jenes Klageverfahrens hatte die Beklagte mit Schreiben vom 13. November 2006 den Kläger darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, die Kosten für zu Unrecht gezahlte Medikamente und Behandlungen vom Kläger zurückzufordern. Ein schutzwürdiges Vertrauen bestehe nicht, da der Kläger mehrfach darauf hingewiesen worden sei, dass die Kosten für die genannten Medikamente nicht übernommen werden könnten. Dem Kläger wurde Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 1. Dezember 2006 gegeben.
Der Kläger hatte die Kostenerstattung abgelehnt. Im Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 22. November 2006 hieß es dazu u. a.:
" Ihr Schreiben vom 13.11.2006 liegt mir vor.
Die in dem oben erwähnten Schreiben von Ihnen angesprochenen Behandlungskosten sind Gegenstand des laufenden Rechtsstreits vor dem Sozialgericht Kiel, Aktenzeichen S 2 U 64/05. Aus diesen Gründen sieht mein Mandant keinen Anlass, irgendwelche Beträge an Sie zurückzuzahlen.
Sollten Sie einen Bescheid erlassen wollen, bitte ich um Zustellung unter meiner Anschrift.".
Nach Beendigung des Berufungsverfahrens bezüglich der Übernahme von Kosten für Medikamente/Behandlungen Ende Januar 2009 wies die Beklagte mit Anhörungsschreiben vom 7. April 2009 darauf hin, dass die dem Kläger in der Zeit von April 2003 bis November 2006 verordneten Medikamente und Behandlungskostenrechnungen nicht wegen der Folgen der als Berufskrankheit anerkannten Urogenitaltuberkulose ausgestellt worden seien. Es sei beabsichtigt, die zu Lasten der Berufsgenossenschaft eingereichten Medikamente und Behandlungskosten in Höhe von insgesamt 9.677,77 EUR gemäß § 50 Abs. 2 SGB X zurückzufordern. Es wurde auf die als Anlage beigefügten Rezepte und Behandlungskostenrezepte verwiesen; dem Kläger wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Der Kläger trug daraufhin vor, die übereichten Rezepte würden zum großen Teil folgende Medikamente umfassen: Ciprobay, Prosca, Prostafink bzw. Prostafink Forte. Mit diesen Medikamenten würden genau diejenigen Beschwerden behandelt, die durch die Urogenitaltuberkulose im Bereich der Prostata verursacht worden seien. Er verwies insoweit auf die im Verfahren S 2 U 64/05 eingeholten Gutachten von Dr. S und Dr. La. Es handele sich um einen Betrag in Höhe von 3.248,42 EUR. Des Weiteren würden die Einrede der Verjährung und insbesondere der Einwand der Verwirkung erhoben. Die Beklagte habe in Kenntnis des Vergleichs vom 22. Januar 2003 über Jahre hinweg Zahlungen vorgenommen. Wenn nunmehr nach rund fünf Jahren Rückerstattungen gefordert würden, sei dies unter den Gesichtspunkten von Treu und Glauben und des Vertrauensschutzes nicht zulässig.
Mit Bescheid vom 27. Mai 2009 forderte die Beklagte den Betrag von 9.677,77 EUR zurück. Es bestehe kein schutzwürdiges Interesse, da der Kläger mehrfach darauf hingewiesen worden sei, dass die Kosten nicht zu Lasten der Berufsgenossenschaft übernommen werden könnten. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 10. Juni 2009 Widerspruch ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. August 2009, zugestellt am 12. September 2009, zurückwies. Daraufhin hat der Kläger am 1. Oktober 2010 Klage beim Sozialgericht Kiel erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, er habe unmittelbar nach Abschluss des gerichtlich protokollierten Vergleichs vom 22. Januar 2003 das Vergleichsprotokoll dem behandelnden Arzt Dr. K in Kopie überreicht. Sodann seien von Dr. K die Verordnungen getroffen und die Rezepte ausgestellt worden.
Bis zum Eingang des Bescheides vom 28. Februar 2005 habe er der festen Überzeugung sein können und müssen, dass die Beklagte die Kosten tragen würde. Andernfalls hätte die Beklagte schon im Februar 2003, also unmittelbar nach Abschluss des gerichtlich protokollierten Vergleichs vom 22. Januar 2003, die Kostenübernahme ablehnen müssen. Er – der Kläger – hätte dann seine private Krankenversicherung in Anspruch nehmen können und die Kosten wären von dieser anstandslos übernommen worden.
Der Kläger hat sich ausdrücklich auf das Rechtsinstitut der Verwirkung sowie auf Verjährung berufen.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 27. Mai 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. August 2009 aufzuheben.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat sich zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide berufen.
Das Sozialgericht Kiel hat der Klage durch Urteil vom 22. März 2012 stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der angefochtene Bescheid in der Fassung des Widerspruchsbescheides sei rechtswidrig. Der Kläger sei nicht verpflichtet, an die Beklagte 9.677,77 EUR für im Zeitraum April 2003 bis November 2006 zu Lasten der Beklagten verordnete Medikamente zu zahlen; denn die Voraussetzungen für einen Rückzahlungsanspruch seien nicht erfüllt. Maßgebliche Vorschrift für den geltend gemachten Rückzahlungsanspruch sei § 50 Abs. 2 SGB X. Nach dieser Vorschrift seien Leistungen zu erstatten, soweit sie ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden seien. Bei der Prüfung, ob ein entsprechender Rückforderungsanspruch bestehe, sei § 45 SGB X entsprechend anzuwenden (§ 50 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X dürfe eine Rückforderung nicht erfolgen, soweit der Begünstigte auf die Rechtmäßigkeit der Leistungsgewährung vertraut habe und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig sei.
Das Vertrauen sei hier schutzwürdig; denn der Kläger habe aufgrund der Verordnung zu Lasten der Beklagten auf die Geltendmachung von Ansprüchen gegen seine private Krankenversicherung verzichtet. Das Versäumnis der Beklagten, den Kläger zur Abtretung seiner Ansprüche gegen die private Krankenversicherung aufzufordern und dadurch einen Anspruch gegen die Krankenversicherung zu erwirken, könne nicht zu Lasten des Klägers gehen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten liege auch keine der in § 50 Abs. 2 i.V.m. § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X aufgeführten Voraussetzungen vor.
Insbesondere könne die Beklagte einen Rückforderungsanspruch nicht auf den Vorwurf der Kenntnis oder fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der Leistung stützen; denn es sei nicht Aufgabe eines Versicherten zu überprüfen, ob die Entscheidung des behandelnden Arztes, ein Medikament zu Lasten des Unfallversicherungsträgers und nicht zu Lasten der Krankenversicherung zu verordnen, korrekt sei.
Die angefochtenen Bescheide seien darüber hinaus auch deshalb rechtswidrig, weil zwar eine Vertrauensschutzprüfung vorgenommen worden sei, aber eine Ermessensausübung fehle, die auch im Falle der Rückforderung für die Vergangenheit erforderlich sei.
Schließlich scheitere eine Rückforderung auch daran, dass die in § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X normierte Jahresfrist nicht eingehalten worden sei. Der Beklagten sei bereits im Dezember 2004 bekannt gewesen, dass Dr. K zu Unrecht Verordnungen zu ihren Lasten vornehme. Von da an habe die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X zu laufen begonnen. Der Rückforderungsbescheid sei jedoch erst am 27. Mai 2009 und damit nicht fristgemäß ergangen. Selbst wenn man bei der Bestimmung des Fristbeginns hingegen erst auf die mit Schreiben der Beklagten vom 13. November 2006 erfolgte Anhörung abstellen würde, wäre die Jahresfrist nicht eingehalten worden.
Gegen das der Beklagten am 22. August 2012 zugestellte Urteil hat sie am 6. Sep-tember 2012 Berufung eingelegt. Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers in die zu Unrecht erfolgten Verordnungen liege nicht vor. Soweit das Sozialgericht ausführe, der Kläger habe aufgrund der Verordnung zu Lasten der Beklagten darauf verzichtet, Ansprüche gegen seine private Krankenversicherung geltend zu machen; sie – die Beklagte – hätte den Kläger auffordern müssen, dessen Ansprüche an die private Krankenversicherung an sie abzutreten, so greife dieser Ansatz nicht durch. Sie – die Beklagte – unterhalte als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung keinerlei Vertragsbeziehungen zu privaten Krankenversicherungen; es bestehe daher im Gegensatz zu dem Verhältnis zu gesetzlichen Krankenversicherungen kein Erstattungsanspruch, der geltend gemacht werden könnte. Das vom Sozialgericht Kiel zitierte Urteil des Sozialgerichts Berlin sei mit dem vorliegenden Fall nicht zu vergleichen.
Soweit das Sozialgericht meine, sie – die Beklagte – könne sich mit ihrem Rückforderungsanspruch nicht auf den Vorwurf der Kenntnis oder fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der Leistung im Sinne der §§ 50 Abs. 2 i. V. m. 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X stützen, sei dem entgegenzuhalten, dass der Kläger selbst Arzt sei. Aus dem vor dem Sozialgericht Kiel geschlossenen Vergleich und spätestens dem in Ausführung jenes Vergleichs getroffenen Verwaltungsakt sei eindeutig hervorgegangen, dass Kosten für Medikamente lediglich erstattet würden, soweit sie im Zusammenhang mit der anerkannten Berufskrankheit stünden. Dieses habe der Kläger – wie sich aus seinen Ausführungen im Widerspruchsverfahren ergebe – auch verstanden. Ihm als Arzt sei durchaus klar gewesen, welche Medikamente ihm wegen welcher Gesundheitsstörungen verordnet worden seien und welche nicht im Zusammenhang mit der anerkannten Berufskrankheit stünden. Spätestens aber mit dem Anruf des Klägers vom 14. Januar 2005 und dem Verwaltungsakt vom 28. Februar 2005, durch den die Erstattung der Kosten für jene Medikamente abgelehnt worden sei, könne von einer Gutgläubigkeit bei Inanspruchnahme der Leistungen nicht mehr ausgegangen werden.
Soweit das Gericht meine, es fehle in den angefochtenen Bescheiden an einer Ermessensausübung, die auch im Falle der Rückforderung für die Vergangenheit erforderlich sei, greife auch dieser Einwand nicht durch. Wenn, wie im vorliegenden Fall, der Vertrauensschutz zu versagen sei und für eine Ermessensausübung keine Gesichtspunkte vorlägen, sei das Ermessen auf Null reduziert. Dann sei die Leistung zurückzunehmen.
Die Jahresfrist beginne erst ab Kenntnis gemäß § 45 Satz 2 SGB X zu laufen, wenn die erforderliche Tatsachenkenntnis vorläge. Hier seien die maßgeblichen Tatsachen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Ablehnung der Erstattung der Medikamente frühestens nach Rechtskraft des Urteils des Sozialgerichts Kiel in dieser Frage bekannt geworden; denn aus den weiteren Gutachten hätten sich neue Aspekte ergeben können. Daneben gehörten zu den maßgeblichen Tatsachen aber auch jene subjektiven Tatsachen, die § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X voraussetze; denn nur unter diesen Voraussetzungen sei die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit zulässig. Diese subjektiven Tatsachen lägen regelmäßig erst vor, wenn die Anhörung des Betroffenen durchgeführt worden sei. Zwar sei hier eine erste Anhörung bereits am 13. November 2006 durchgeführt worden, der Kläger habe aber geantwortet, dass er sich dazu erst nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über die dem Rückforderungsbescheid zugrundeliegende Ablehnung der Erstattung der Kosten der streitbefangenen Medikamente äußern werde. Die Antwort auf die Anhörung habe also weiter ausgestanden, so dass sie – die Beklagte – über die subjektiven Voraussetzungen einer Rückforderung keine Kenntnis gehabt habe. Daher habe die Jahresfrist erst am 11. Mai 2009, d. h., mit dem Eingang der Antwort auf die Anhörung, zu laufen begonnen. Die Jahresfrist sei somit mit der Rückforderung vom 27. Mai 2009 gewahrt worden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 22. März 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung weist er zunächst darauf hin, dass ein Großteil der Verordnungen nicht zu Unrecht erfolgt sei, sondern die durch die Urogenitaltuberkulose im Bereich der Prostata verursachten Beschwerden betroffen habe. Es handele sich dabei um einen Betrag von 3.248,52 EUR, der anhand der einzelnen Rezepte herausgerech¬net worden sei. Dieser Aspekt sei auch bereits erstinstanzlich vorgetragen worden.
Zutreffend habe das Sozialgericht Kiel ihm - dem Kläger - Vertrauensschutz zugebilligt; denn er sei davon überzeugt gewesen und vor allem durch den behandelnden Arzt Dr. K darin bestärkt worden, dass die Beklagte zur Übernahme sämtlicher Kosten verpflichtet sei. Diese Bestärkung sei insbesondere auch dadurch erfolgt, dass die Beklagte schließlich sämtliche Kosten weiterhin gezahlt habe. Hätte sie die Übernahme der Kosten verweigert und dieses in einem Schreiben mitgeteilt, wäre von ihm – dem Kläger – sofort seine private Krankenversicherung in Anspruch genommen worden. Nach dem Versicherungsvertrag mit seiner privaten Krankenversicherung gälte für Ansprüche gegen die Versicherung die allgemeine dreijährige Verjährungsfrist, die nach dem geltenden VVG für alle Versicherungsverträge Gültigkeit habe. Nach Ablauf jener Frist hätten hier ohnehin keine Ansprüche mehr geltend gemacht werden können.
Ebenfalls zutreffend habe das Sozialgericht entschieden, dass die Beklagte ihren Rückforderungsanspruch auch nicht auf den Vorwurf der Kenntnis oder der fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der Leistung stützen könne. Es gehe hier um den Vorwurf der positiven Kenntnis oder der groben fahrlässigen Unkenntnis, wobei sich die grobe Fahrlässigkeit auf die Rechtswidrigkeit beziehen müsse und nicht auf die Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die die Rechtswidrigkeit herbeiführten. Hier seien die medizinischen Fragen derart komplex gewesen, dass in dem abgeschlossenen Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Kiel zum Aktenzeichen S 2 U 64/05 mehrere medizinische Gutachten hätten eingeholt werden müssen, um diese Fragen abschließend klären zu können. Er – der Kläger – sei davon ausgegangen und davon überzeugt gewesen, dass die verordneten Medikamente im Zusammenhang mit der anerkannten Berufserkrankung gestanden hätten. Sonst wäre der Prozess zum Aktenzeichen S 2 U 64/05 gar nicht geführt worden.
Richtigerweise habe das Sozialgericht darauf abgestellt, dass die Jahresfrist gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht eingehalten worden sei. Die Beklagte habe bereits im Dezember 2004 Kenntnis von sämtlichen Tatsachen gehabt, auf die sie ihre Rückforderung stützen wolle. Das allein sei ausreichend gewesen, die Jahresfrist in Gang zu setzen. Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang auf Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts und des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Branden-burg verweise, beträfen jene Entscheidungen gänzlich andere Fälle. In jenen Fällen sei die Behörde darauf angewiesen gewesen, die Kenntnis über die zugrundeliegenden Tatsachen durch die Anhörung des Betroffenen zu ergänzen. Das sei hier nicht so gewesen. Vielmehr sei die Tatsachengrundlage geklärt und bekannt gewesen.
Selbst wenn man auf die erste Anhörung gemäß Schreiben der Beklagten vom 13. November 2006 abstellen wolle, wäre die Jahresfrist abgelaufen. Das Vorbringen der Beklagten, er – der Kläger – habe angekündigt, sich erst nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über die dem Rückforderungsbescheid zugrundeliegende Ablehnung der Erstattung der Kosten der streitbefangenen Medikamente äußern zu wollen, sei nicht zutreffend. In dem – von seinem Prozessbevollmächtigten gefertigten – Schreiben vom 22. November 2006 sei keineswegs eine Stellungnahme in Aussicht gestellt worden, sondern in aller Deutlichkeit und Klarheit die Forderung der Beklagten zurückgewiesen worden. Zumindest seit jenem Zeitpunkt habe festgestanden, dass die Beklagte mit weiteren Erkenntnissen von seiner Seite – der des Klägers – nicht habe rechnen können. Auf das zweite Anhörungsschreiben der Beklagten vom 7. April 2009, auf das er – der Kläger – mit Schreiben vom 8. Mai 2009 geantwortet habe, komme es deshalb nicht an.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen; diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 27. Mai 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 6. August 2009 als rechtswidrig eingestuft und ausgeführt, der Kläger sei nicht verpflichtet, an die Beklagte 9.677,77 EUR für im Zeitraum April 2003 bis November 2006 zu Lasten der Beklagten verordnete Medikamente zu zahlen; denn die Voraussetzungen für einen Rückzahlungsanspruch gemäß § 50 Abs. 2 i.V.m. der entsprechenden Anwendung von § 45 Abs. 2 und 4 SGB X seien nicht erfüllt.
Mit dem Sozialgericht dürfte davon auszugehen sein, dass hier – auch wenn der Kläger selbst Arzt ist –, anders als von der Beklagten angeführt, kein Wegfall des Vertrauensschutzes entsprechend § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X anzunehmen ist. Dieser Komplex wie auch die Frage einer fehlenden Ermessensausübung der Beklagten brauchen aber nicht weiter vertieft zu werden, da der geltend gemachte Rechtsanspruch der Beklagten – selbst wenn man die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X als erfüllt einstufen wollte - auf jeden Fall daran scheitert, dass die entsprechend § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X maßgebliche Jahresfrist nicht eingehalten worden ist. Ob dabei eine hinreichende Kenntnis der Beklagten – mit dem Sozialgericht – bereits für Dezember 2004 angenommen werden kann, scheint zweifelhaft, braucht aber letztlich nicht entschieden zu werden. Jedenfalls, wenn bei der Bestimmung des Fristbeginns für den Lauf der Jahresfrist auf die mit Schreiben vom 13. November 2006 erfolgte Anhörung des Klägers – mit Stellungnahmefrist bis zum 1. Dezember 2006 – abgestellt wird, ist die Jahresfrist für den Rückforderungsbescheid, der hier erst am 27. Mai 2009 ergangen ist, aus den bereits vom Sozialgericht dargelegten Gründen, auf die gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verwiesen ist, nicht eingehalten. Dieses Ergebnis wird gestützt durch die nach der Rechtsprechung und Literatur maßgeblichen Vorgaben.
Danach unterliegt die Rücknahme eines Verwaltungsakts für die Vergangenheit strengeren Regeln als diejenige für die Zukunft. Hier reicht es nicht, dass der Begünstigte nicht auf den Bestand vertraut hat, sondern eine Rücknahme kann nur erfolgen, wenn die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO vorliegen, § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Das bedeutet, dass bei einer angestrebten Rücknahme für die Vergangenheit (wie sie hier gegeben ist) eine Prüfung von § 45 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB X nicht notwendig ist (Padé in: jurisPK-SGB X, § 45 SGB X, Rdn. 105). Ob eine Rücknahme für die Vergangenheit oder für die Zukunft erfolgt, richtet sich nach dem Rücknahmebe¬scheid. Alles, was bei seinem Erlass, d. h., bei seiner Bekanntgabe, schon vorbei ist, kann nur nach den Voraussetzungen des § 45 Abs. 4, 2 Satz 3 bzw. 3 Satz 2 SGB X zurückgenommen werden; für danach liegende Zeiträume müssen die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB X erfüllt sein. Das gilt auch, wenn die bewilligten Leistungen noch nicht ausgezahlt bzw. in Anspruch genommen sind (Padé, a.a.O., Rdn. 106). Insofern dürfte hier wohl entgegen dem Sozialgericht auch bezüglich der Kenntnis der Tatsachen, die eine Rücknahme rechtfertigen, nicht auf den Zeitpunkt Dezember 2004 abzustellen sein; denn der streitbefangene Betrag von knapp 9.700,00 EUR resultiert aus verordneten Medikamenten und Behandlungen aus der Zeit von April 2003 bis November 2006, geht also weit über den Zeitraum Dezember 2004 hinaus.
Darüber hinaus zieht § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X eine zeitliche Grenze in Form der Jahresfrist ein. Die zuständige Behörde muss die Rücknahme innerhalb von einem Jahr nach Kenntnis der Tatsachen verfügen, die zur Rücknahme berechtigen. Diese Vorschrift liest sich als Rückausnahme zu § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X. Auch Personen, die eigentlich keinen Vertrauensschutz genießen, weil sie schuldhaft im Sinne dieser Vorschrift gehandelt haben, erwerben den Vertrauensschutz ein Jahr nach Kenntnis der zuständigen Behörde. Sie müssen also mehr als ein Jahr, nachdem die Behörde von allen maßgeblichen Tatsachen Kenntnis erlangt hat, nicht mehr mit einer Rücknahme der Begünstigung rechnen. Diese zeitliche Begrenzung der Rück-nahmebefugnis dient der Rechtssicherheit (Padé, a.a.O., Rdn. 107). Sie gilt im Gegensatz zur Jahresfrist in § 48 Abs. 4 VwVfG selbst in Fällen der Drohung oder der arglistigen Täuschung und betrifft damit gerade Fallgestaltungen, in denen eine Verwirkung nur im Hinblick auf den Zeitablauf, nicht aber wegen des Verhaltens des Begünstigten in Betracht kommen kann (Merten in: Hauck/Noftz, SGB X K § 45, Rdn. 144). Nach Ablauf der Frist kann der begünstigende Verwaltungsakt nicht mehr zurückgenommen werden. Die Frist ist eine Ausschlussfrist und kann nicht verlängert werden. Eine Wiedereinsetzung in die Frist kommt nicht in Betracht. Ist sie abgelaufen, kann der Verwaltungsakt nicht mehr mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden; es kommt nur noch eine Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft in Betracht (Padé, a.a.O., Rdn. 113). Die Jahresfrist ist nach alledem als Entscheidungsfrist konzipiert, nicht hingegen als Bearbeitungsfrist. Sie verpflichtet die aufhebende Behörde nicht, innerhalb eines Jahres die für die Rücknahme erforderlichen Tatsachen zu ermitteln, sondern beginnt erst zu laufen, wenn diese Ermittlungen abgeschlossen sind und eine "Entscheidungsreife" gegeben ist oder die Behörde jedenfalls subjektiv hiervon ausgeht. Die Frist beginnt zu laufen, wenn alle Umstände, deren Kenntnis es der Behörde objektiv ermöglicht, ohne weitere Sachaufklärung unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme zu entscheiden, bekannt sind (Merten, a.a.O., Rdn. 155 m.w.N. aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts).
Die Ausschlussregelung des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X hat abschließenden Charakter. Insbesondere die Vorschriften des BGB über Hemmung, Ablaufhemmung und Neubeginn der Verjährung sind nicht (analog) anwendbar. Dies zeigt auch ein Vergleich mit § 50 Abs. 4 Satz 2 SGB X, der im Gegensatz zu § 45 SGB X die entsprechenden BGB-Vorschriften ausdrücklich für anwendbar erklärt (Merten, a.a.O., Rdn. 146 unter Bezug auf Entscheidungen des BSG).
Die Jahresfrist beginnt erst zu laufen, wenn der Behörde alle Tatsachen bekannt sind, die zur Aufhebung nach § 45 SGB X berechtigen. Da diese Vorschrift neben objektiven auch subjektive Tatbestandsmerkmale (Vorsatz, grobe Fahrlässigkeit) enthält, muss die Behörde z. B. auch von der Bösgläubigkeit des Betroffenen Kenntnis haben. Wann dies der Fall ist, ist weder ausschließlich nach der subjektiven Einschätzung der Behörde noch anhand objektiver Kriterien zu beantworten. Die den Beginn der Jahresfrist bestimmende Kenntnis ist dann anzunehmen, wenn mangels vernünftiger, objektiv gerechtfertigter Zweifel eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen besteht. Hierbei ist hinsichtlich der erforderlichen Gewissheit über Art und Umfang der entscheidungserheblichen Tatsachen in erster Linie auf den Standpunkt der Behörde abzustellen, es sei denn, deren sichere Kenntnis liegt bei objektiver Betrachtung bereits zu einem früheren Zeitpunkt vor (Padé, a.a.O., Rdn. 108).
Da die Rechtsprechung regelmäßig eine Anhörung vor Erlass eines Aufhebungsbescheids nach § 45 SGB X verlangt, um die Voraussetzungen des subjektiven Tatbestands aufzuklären, beginnt die Jahresfrist regelmäßig erst nach erfolgter Anhörung des Betroffenen, es sei denn, die Behörde verfügt mangels vernünftiger, objektiv gerechtfertigter Zweifel bereits zuvor über hinreichend sichere Kenntnis der Bösgläubigkeit. Maßgeblich ist der Ablauf der für die Anhörung gesetzten Frist (BSG, Urteil vom 8. Februar 1996 – 13 RJ 35/94 – BSGE 77, 295 ff., Rdn. 33 bei juris; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. Juni 2012 – OVG 6 M 116.13; Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 15. Juli 2010 – L 9 AL 107/08, recherchiert jeweils bei juris; Padé, a.a.O., Rdn. 109; Merten, a.a.O., Rdn. 152 m.w.N. zur Rechtsprechung des BSG). Bisher ist in der Rechtsprechung ungeklärt, ob – wie der Kläger meint – neben der Kenntnis aller relevanten Tatsachen auch die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit des begünstigenden Bescheids vorliegen muss. Das Bundesverwaltungsgericht nimmt diese Notwendigkeit im Rahmen des § 48 VwVfG an. Allerdings weicht der Wortlaut des § 45 Abs. 4 SGB X insofern von demjenigen des § 48 VwVfG ab. Dagegen spricht auch, dass die Rechtswidrigkeit des Bescheids keine Tatsache, sondern eine rechtliche Würdigung ist, die vom Wortlaut des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht erfasst ist. Auch das Bundesverwaltungsgericht ist allerdings insofern der Auffassung, dass Rechtsirrtümer, die der Behörde trotz umfassender Tatsachenkenntnis unterlaufen, zu Lasten der Rücknahmebehörde gehen (Padé, a.a.O., Rdn. 111 m.w.N. aus der Rechtsprechung).
Gemessen an diesen Kriterien war für die Beklagte spätestens mit Eingang der Stellungnahme des Prozessbevollmächtigten des Klägers am 24. November 2006 "Ent scheidungsreife" (Begriff nach dem Urteil des BSG vom 8. Februar 1996 – 13 RJ 35/94 = BSGE 77, 295) gegeben; davon ist die Beklagte auch subjektiv ausgegangen. Mithin waren alle Umstände bekannt, deren Kenntnis es der Behörde objektiv ermöglichte, ohne weitere Sachaufklärung unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme zu entscheiden. Das zeigt sich ganz deutlich aus dem Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten. In dem dortigen hausinternen Vermerk vom 3. November 2006 (Bl. 751) ist ausdrücklich nach Darlegung des bisherigen Geschehensablaufs und unter Bezugnahme auf die bislang zurückgestellte Rückforderung der Kosten für zu Unrecht verordneter Medikamente vorgeschlagen worden, die Kosten sollten nunmehr von dem Versicherten zurückgefordert werden. Diesem Vorschlag hat die Bevollmächtigte der Beklagten seinerzeit ausdrücklich zugestimmt (Bl. 752). Dementsprechend ist sodann das Anhörungsschreiben vom 13. No¬vember 2006 verfasst worden (Bl. 753). Innerhalb der darin gesetzten Frist (bis zum 1. Dezember 2006) ist die Stellungnahme des Prozessbevollmächtigten des Klägers erfolgt (Bl. 756), in der in der Tat – wie in der Berufungserwiderung angeführt – eindeutig dargelegt worden ist, dass der Kläger keine Beträge an die Beklagte zurückzahlen wolle. Zudem ist schon vorsorglich von Seiten des Klägers im Hinblick auf einen ggf. zu erlassenden Bescheid um Zustellung an seinen Prozessbevollmächtigten gebeten worden. Dazu ist es dann aber erst (nach nochmaliger Anhörung des Klägers) mit Bescheid vom 27. Mai 2009 gekommen, also rd. 2 1/2 Jahre später.
Die Beklagte kann sich insoweit nicht mit Erfolg darauf berufen, sie habe die Stellungnahme des Klägers vom 22. November 2006 – wie in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht erläutert – entgegen dem dortigen Wortlaut dahingehend verstanden, dass der Kläger sich erst nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens S 2 U 64/05 über die Ablehnung der Erstattung der Kosten der streitbefangenen Medikamente zur Frage einer Rückzahlung äußern werde. Diese irrige Annahme ist allein der Sphäre der Beklagten zuzurechnen und kann nicht dem Kläger angelastet werden. Die Beklagte kann sich für ihre Rechtsauffassung zum Beginn der Jahresfrist auch nicht mit Erfolg auf die von ihr benannten Entscheidungen des Bayerischen Landessozialgerichts (zum Arbeitslosengeld) vom 15. Juli 2010 – L 9 AL 107/07 – und vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (zur Ausbildungsförderung) vom 29. Juni 2012 – OVG 6 M 116.12 – (jeweils recherchiert bei juris) stützen, in denen jeweils das Erfordernis einer Anhörung vor Erlass eines Rückforderungsbescheides betont worden ist. Zum einen war hier eine Anhörung bereits im November 2006 durchgeführt worden. Zum anderen hat der Kläger zutreffend darauf hingewiesen, dass in jenen vorgenannten gerichtlichen Entscheidungen die Behörde darauf angewiesen gewesen sei, die Kenntnis über die zugrundeliegenden Tatsachen durch die Anhörung des jeweils Betroffenen zu ergänzen. Im Übrigen ist in jenen Entscheidungen ausdrücklich betont worden, dass maßgeblich für den Fristbeginn auf den Eingang der Stellungnahme/das Ergebnis der Anhörung abzustellen sei. Ein solches Ergebnis lag hier aber bereits mit Eingang der Stellungnahme vom 22. November 2006 am 24. November 2006 vor. Darin hatte der Kläger deutlich gemacht, dass er aus seiner Sicht davon ausgegangen und davon überzeugt gewesen sei, dass die verordneten Medikamente im Zusammenhang mit der anerkannten Berufserkrankung gestanden hätten; sonst wäre der Prozess vor dem Sozialgericht Kiel unter dem Aktenzeichen S 2 U 64/05 gar nicht geführt worden. Eindeutig stand für die Beklagte danach auch fest, dass der Kläger aufgrund dieser subjektiven Einschätzung nicht gewillt war, irgendwelche Beträge zurückzuzahlen. Die spätere (nochmalige) Anhörung im April 2009 ändert nichts am Beginn des Laufs der Jahresfrist bei analoger Anwendung von § 45 Abs. 4 SGB X ab Ende November 2006.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision durch den Senat gemäß § 160 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG zuzulassen, sind nicht ersichtlich.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Verpflichtung zur Zahlung von 9.677,77 EUR für Medikamente und ärztliche Verordnungen, deren Kosten die Beklagte getragen hat.
Der im 1933 geborene Kläger ist von Beruf Arzt. Am 26. August 1986 zeigte er der Beklagten an, dass er sich bei der Behandlung eines an offener Lungentuberkulose erkrankten Patienten angesteckt habe und an einer Urogenitaltuberkulose erkrankt sei. Die Beklagte lehnte die Gewährung einer Entschädigung mit Bescheid vom 18. März 1987 ab. Zwar sei eine beruflich bedingte Infektionsgefährdung nachgewiesen worden, diese habe jedoch nicht zu einer Infektion geführt. Das dagegen eingeleitete Klageverfahren verlief beim Sozialgericht wie auch beim Landessozialgericht und beim Bundessozialgericht erfolglos.
Im März 1997 stellte der Kläger einen Überprüfungsantrag gemäß § 44 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X). Die Beklagte holte ein Gutachten des Arztes für Urologie Prof. Dr. L ein, der die Voraussetzungen einer Berufskrankheit bejahte. Gleichwohl lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit mit Bescheid vom 3. Juli 1998 und Widerspruchsbescheid vom 22. Oktober 1998 ab. Hiergegen erhob der Kläger am 10. November 1998 Klage (S 2 U 179/98).
Nach Einholung mehrerer Gutachten auf urologischem Fachgebiet im Klageverfahren schlossen die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung am 22. Januar 2003 einen Vergleich. Auf dieser Grundlage erkannte die Beklagte mit Ausführungsbescheid vom 25. März 2003 die beim Kläger vorliegende Urogenitaltuberkulose als Berufskrankheit der Nr. 3101 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) an. Als Folgen der Berufskrankheit wurden chronisch-rezidivierende Erkrankungen im Urogenitalbereich und eine erektile Dysfunktion nach jetzt inaktiver, nicht behandlungsbedürftiger Urogenitaltuberkulose anerkannt. Alle anderen aufgetretenen Gesundheitsstörungen seien nicht Folge der Berufskrankheit. Behandlungskosten würden übernommen, sofern die Behandlung von einem Urologen durchgeführt werde und im Zusammenhang mit den Folgen der anerkannten Urogenitaltuberkulose stehe. Auch die Kosten für evtl. notwendig werdende Medikamente würden übernommen, sofern sie von dem behandelnden Urologen verordnet würden. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 24. April 2003 Widerspruch ein. Im Verlaufe des Widerspruchsverfahrens beantragte der Kläger die Übernahme der Kosten für diverse Medikamente. Es folgte eine schriftliche Auseinandersetzung insbesondere hinsichtlich der Kostenübernahme für das Medikament Viagra. Nach erfolglosem Vorverfahren erhob der Kläger im November 2004 Klage beim Sozialgericht Kiel (S 2 U 147/04), die letztlich durch gerichtlichen Vergleich beendet wurde. Darin verpflichtete sich die Beklagte, gutachterlich untersuchen zu lassen, ob das Medikament Viagra beim Kläger im Rahmen einer On-demand-Therapie wirksam ist oder ob es einer intermittierenden Dauertherapie bedarf, und entsprechend ihr Ermessen hinsichtlich des Umfangs der Behandlung auszuüben. Bislang ist jener Vergleich nicht ausgeführt worden.
Mit Schreiben an den behandelnden Urologen Dr. K vom 9. Dezember 2004 wies die Beklagte darauf hin, dass eine Verordnung von Medikamenten gegen Muskelkrämpfe, Viren verursachte Feigwarzen im Genitalbereich, Bluthochdruck sowie Antidepressiva nicht zu Lasten der Berufsgenossenschaft verordnet werden könnten, da die zu Grunde liegenden Gesundheitsstörungen nicht Folge der anerkannten Berufskrankheit seien.
Mit Bescheid vom 28. Februar 2005 lehnte die Beklagte die Übernahme der Kosten für Erkrankungen, die nicht im Zusammenhang mit den anerkannten Folgen der Berufskrankheit stehen, ab. Das dagegen eingeleitete Klageverfahren (S 2 U 64/05), in dem weitere urologische und internistische Sachverständigen-Gutachten eingeholt worden waren, verlief erfolglos. Seine Berufung gegen das klagabweisende Urteil des Sozialgerichts nahm der Kläger im Januar 2009 zurück. Bereits während jenes Klageverfahrens hatte die Beklagte mit Schreiben vom 13. November 2006 den Kläger darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, die Kosten für zu Unrecht gezahlte Medikamente und Behandlungen vom Kläger zurückzufordern. Ein schutzwürdiges Vertrauen bestehe nicht, da der Kläger mehrfach darauf hingewiesen worden sei, dass die Kosten für die genannten Medikamente nicht übernommen werden könnten. Dem Kläger wurde Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 1. Dezember 2006 gegeben.
Der Kläger hatte die Kostenerstattung abgelehnt. Im Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 22. November 2006 hieß es dazu u. a.:
" Ihr Schreiben vom 13.11.2006 liegt mir vor.
Die in dem oben erwähnten Schreiben von Ihnen angesprochenen Behandlungskosten sind Gegenstand des laufenden Rechtsstreits vor dem Sozialgericht Kiel, Aktenzeichen S 2 U 64/05. Aus diesen Gründen sieht mein Mandant keinen Anlass, irgendwelche Beträge an Sie zurückzuzahlen.
Sollten Sie einen Bescheid erlassen wollen, bitte ich um Zustellung unter meiner Anschrift.".
Nach Beendigung des Berufungsverfahrens bezüglich der Übernahme von Kosten für Medikamente/Behandlungen Ende Januar 2009 wies die Beklagte mit Anhörungsschreiben vom 7. April 2009 darauf hin, dass die dem Kläger in der Zeit von April 2003 bis November 2006 verordneten Medikamente und Behandlungskostenrechnungen nicht wegen der Folgen der als Berufskrankheit anerkannten Urogenitaltuberkulose ausgestellt worden seien. Es sei beabsichtigt, die zu Lasten der Berufsgenossenschaft eingereichten Medikamente und Behandlungskosten in Höhe von insgesamt 9.677,77 EUR gemäß § 50 Abs. 2 SGB X zurückzufordern. Es wurde auf die als Anlage beigefügten Rezepte und Behandlungskostenrezepte verwiesen; dem Kläger wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Der Kläger trug daraufhin vor, die übereichten Rezepte würden zum großen Teil folgende Medikamente umfassen: Ciprobay, Prosca, Prostafink bzw. Prostafink Forte. Mit diesen Medikamenten würden genau diejenigen Beschwerden behandelt, die durch die Urogenitaltuberkulose im Bereich der Prostata verursacht worden seien. Er verwies insoweit auf die im Verfahren S 2 U 64/05 eingeholten Gutachten von Dr. S und Dr. La. Es handele sich um einen Betrag in Höhe von 3.248,42 EUR. Des Weiteren würden die Einrede der Verjährung und insbesondere der Einwand der Verwirkung erhoben. Die Beklagte habe in Kenntnis des Vergleichs vom 22. Januar 2003 über Jahre hinweg Zahlungen vorgenommen. Wenn nunmehr nach rund fünf Jahren Rückerstattungen gefordert würden, sei dies unter den Gesichtspunkten von Treu und Glauben und des Vertrauensschutzes nicht zulässig.
Mit Bescheid vom 27. Mai 2009 forderte die Beklagte den Betrag von 9.677,77 EUR zurück. Es bestehe kein schutzwürdiges Interesse, da der Kläger mehrfach darauf hingewiesen worden sei, dass die Kosten nicht zu Lasten der Berufsgenossenschaft übernommen werden könnten. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 10. Juni 2009 Widerspruch ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. August 2009, zugestellt am 12. September 2009, zurückwies. Daraufhin hat der Kläger am 1. Oktober 2010 Klage beim Sozialgericht Kiel erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, er habe unmittelbar nach Abschluss des gerichtlich protokollierten Vergleichs vom 22. Januar 2003 das Vergleichsprotokoll dem behandelnden Arzt Dr. K in Kopie überreicht. Sodann seien von Dr. K die Verordnungen getroffen und die Rezepte ausgestellt worden.
Bis zum Eingang des Bescheides vom 28. Februar 2005 habe er der festen Überzeugung sein können und müssen, dass die Beklagte die Kosten tragen würde. Andernfalls hätte die Beklagte schon im Februar 2003, also unmittelbar nach Abschluss des gerichtlich protokollierten Vergleichs vom 22. Januar 2003, die Kostenübernahme ablehnen müssen. Er – der Kläger – hätte dann seine private Krankenversicherung in Anspruch nehmen können und die Kosten wären von dieser anstandslos übernommen worden.
Der Kläger hat sich ausdrücklich auf das Rechtsinstitut der Verwirkung sowie auf Verjährung berufen.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 27. Mai 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. August 2009 aufzuheben.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat sich zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide berufen.
Das Sozialgericht Kiel hat der Klage durch Urteil vom 22. März 2012 stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der angefochtene Bescheid in der Fassung des Widerspruchsbescheides sei rechtswidrig. Der Kläger sei nicht verpflichtet, an die Beklagte 9.677,77 EUR für im Zeitraum April 2003 bis November 2006 zu Lasten der Beklagten verordnete Medikamente zu zahlen; denn die Voraussetzungen für einen Rückzahlungsanspruch seien nicht erfüllt. Maßgebliche Vorschrift für den geltend gemachten Rückzahlungsanspruch sei § 50 Abs. 2 SGB X. Nach dieser Vorschrift seien Leistungen zu erstatten, soweit sie ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden seien. Bei der Prüfung, ob ein entsprechender Rückforderungsanspruch bestehe, sei § 45 SGB X entsprechend anzuwenden (§ 50 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X dürfe eine Rückforderung nicht erfolgen, soweit der Begünstigte auf die Rechtmäßigkeit der Leistungsgewährung vertraut habe und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig sei.
Das Vertrauen sei hier schutzwürdig; denn der Kläger habe aufgrund der Verordnung zu Lasten der Beklagten auf die Geltendmachung von Ansprüchen gegen seine private Krankenversicherung verzichtet. Das Versäumnis der Beklagten, den Kläger zur Abtretung seiner Ansprüche gegen die private Krankenversicherung aufzufordern und dadurch einen Anspruch gegen die Krankenversicherung zu erwirken, könne nicht zu Lasten des Klägers gehen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten liege auch keine der in § 50 Abs. 2 i.V.m. § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X aufgeführten Voraussetzungen vor.
Insbesondere könne die Beklagte einen Rückforderungsanspruch nicht auf den Vorwurf der Kenntnis oder fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der Leistung stützen; denn es sei nicht Aufgabe eines Versicherten zu überprüfen, ob die Entscheidung des behandelnden Arztes, ein Medikament zu Lasten des Unfallversicherungsträgers und nicht zu Lasten der Krankenversicherung zu verordnen, korrekt sei.
Die angefochtenen Bescheide seien darüber hinaus auch deshalb rechtswidrig, weil zwar eine Vertrauensschutzprüfung vorgenommen worden sei, aber eine Ermessensausübung fehle, die auch im Falle der Rückforderung für die Vergangenheit erforderlich sei.
Schließlich scheitere eine Rückforderung auch daran, dass die in § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X normierte Jahresfrist nicht eingehalten worden sei. Der Beklagten sei bereits im Dezember 2004 bekannt gewesen, dass Dr. K zu Unrecht Verordnungen zu ihren Lasten vornehme. Von da an habe die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X zu laufen begonnen. Der Rückforderungsbescheid sei jedoch erst am 27. Mai 2009 und damit nicht fristgemäß ergangen. Selbst wenn man bei der Bestimmung des Fristbeginns hingegen erst auf die mit Schreiben der Beklagten vom 13. November 2006 erfolgte Anhörung abstellen würde, wäre die Jahresfrist nicht eingehalten worden.
Gegen das der Beklagten am 22. August 2012 zugestellte Urteil hat sie am 6. Sep-tember 2012 Berufung eingelegt. Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers in die zu Unrecht erfolgten Verordnungen liege nicht vor. Soweit das Sozialgericht ausführe, der Kläger habe aufgrund der Verordnung zu Lasten der Beklagten darauf verzichtet, Ansprüche gegen seine private Krankenversicherung geltend zu machen; sie – die Beklagte – hätte den Kläger auffordern müssen, dessen Ansprüche an die private Krankenversicherung an sie abzutreten, so greife dieser Ansatz nicht durch. Sie – die Beklagte – unterhalte als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung keinerlei Vertragsbeziehungen zu privaten Krankenversicherungen; es bestehe daher im Gegensatz zu dem Verhältnis zu gesetzlichen Krankenversicherungen kein Erstattungsanspruch, der geltend gemacht werden könnte. Das vom Sozialgericht Kiel zitierte Urteil des Sozialgerichts Berlin sei mit dem vorliegenden Fall nicht zu vergleichen.
Soweit das Sozialgericht meine, sie – die Beklagte – könne sich mit ihrem Rückforderungsanspruch nicht auf den Vorwurf der Kenntnis oder fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der Leistung im Sinne der §§ 50 Abs. 2 i. V. m. 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X stützen, sei dem entgegenzuhalten, dass der Kläger selbst Arzt sei. Aus dem vor dem Sozialgericht Kiel geschlossenen Vergleich und spätestens dem in Ausführung jenes Vergleichs getroffenen Verwaltungsakt sei eindeutig hervorgegangen, dass Kosten für Medikamente lediglich erstattet würden, soweit sie im Zusammenhang mit der anerkannten Berufskrankheit stünden. Dieses habe der Kläger – wie sich aus seinen Ausführungen im Widerspruchsverfahren ergebe – auch verstanden. Ihm als Arzt sei durchaus klar gewesen, welche Medikamente ihm wegen welcher Gesundheitsstörungen verordnet worden seien und welche nicht im Zusammenhang mit der anerkannten Berufskrankheit stünden. Spätestens aber mit dem Anruf des Klägers vom 14. Januar 2005 und dem Verwaltungsakt vom 28. Februar 2005, durch den die Erstattung der Kosten für jene Medikamente abgelehnt worden sei, könne von einer Gutgläubigkeit bei Inanspruchnahme der Leistungen nicht mehr ausgegangen werden.
Soweit das Gericht meine, es fehle in den angefochtenen Bescheiden an einer Ermessensausübung, die auch im Falle der Rückforderung für die Vergangenheit erforderlich sei, greife auch dieser Einwand nicht durch. Wenn, wie im vorliegenden Fall, der Vertrauensschutz zu versagen sei und für eine Ermessensausübung keine Gesichtspunkte vorlägen, sei das Ermessen auf Null reduziert. Dann sei die Leistung zurückzunehmen.
Die Jahresfrist beginne erst ab Kenntnis gemäß § 45 Satz 2 SGB X zu laufen, wenn die erforderliche Tatsachenkenntnis vorläge. Hier seien die maßgeblichen Tatsachen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Ablehnung der Erstattung der Medikamente frühestens nach Rechtskraft des Urteils des Sozialgerichts Kiel in dieser Frage bekannt geworden; denn aus den weiteren Gutachten hätten sich neue Aspekte ergeben können. Daneben gehörten zu den maßgeblichen Tatsachen aber auch jene subjektiven Tatsachen, die § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X voraussetze; denn nur unter diesen Voraussetzungen sei die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit zulässig. Diese subjektiven Tatsachen lägen regelmäßig erst vor, wenn die Anhörung des Betroffenen durchgeführt worden sei. Zwar sei hier eine erste Anhörung bereits am 13. November 2006 durchgeführt worden, der Kläger habe aber geantwortet, dass er sich dazu erst nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über die dem Rückforderungsbescheid zugrundeliegende Ablehnung der Erstattung der Kosten der streitbefangenen Medikamente äußern werde. Die Antwort auf die Anhörung habe also weiter ausgestanden, so dass sie – die Beklagte – über die subjektiven Voraussetzungen einer Rückforderung keine Kenntnis gehabt habe. Daher habe die Jahresfrist erst am 11. Mai 2009, d. h., mit dem Eingang der Antwort auf die Anhörung, zu laufen begonnen. Die Jahresfrist sei somit mit der Rückforderung vom 27. Mai 2009 gewahrt worden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 22. März 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung weist er zunächst darauf hin, dass ein Großteil der Verordnungen nicht zu Unrecht erfolgt sei, sondern die durch die Urogenitaltuberkulose im Bereich der Prostata verursachten Beschwerden betroffen habe. Es handele sich dabei um einen Betrag von 3.248,52 EUR, der anhand der einzelnen Rezepte herausgerech¬net worden sei. Dieser Aspekt sei auch bereits erstinstanzlich vorgetragen worden.
Zutreffend habe das Sozialgericht Kiel ihm - dem Kläger - Vertrauensschutz zugebilligt; denn er sei davon überzeugt gewesen und vor allem durch den behandelnden Arzt Dr. K darin bestärkt worden, dass die Beklagte zur Übernahme sämtlicher Kosten verpflichtet sei. Diese Bestärkung sei insbesondere auch dadurch erfolgt, dass die Beklagte schließlich sämtliche Kosten weiterhin gezahlt habe. Hätte sie die Übernahme der Kosten verweigert und dieses in einem Schreiben mitgeteilt, wäre von ihm – dem Kläger – sofort seine private Krankenversicherung in Anspruch genommen worden. Nach dem Versicherungsvertrag mit seiner privaten Krankenversicherung gälte für Ansprüche gegen die Versicherung die allgemeine dreijährige Verjährungsfrist, die nach dem geltenden VVG für alle Versicherungsverträge Gültigkeit habe. Nach Ablauf jener Frist hätten hier ohnehin keine Ansprüche mehr geltend gemacht werden können.
Ebenfalls zutreffend habe das Sozialgericht entschieden, dass die Beklagte ihren Rückforderungsanspruch auch nicht auf den Vorwurf der Kenntnis oder der fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der Leistung stützen könne. Es gehe hier um den Vorwurf der positiven Kenntnis oder der groben fahrlässigen Unkenntnis, wobei sich die grobe Fahrlässigkeit auf die Rechtswidrigkeit beziehen müsse und nicht auf die Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die die Rechtswidrigkeit herbeiführten. Hier seien die medizinischen Fragen derart komplex gewesen, dass in dem abgeschlossenen Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Kiel zum Aktenzeichen S 2 U 64/05 mehrere medizinische Gutachten hätten eingeholt werden müssen, um diese Fragen abschließend klären zu können. Er – der Kläger – sei davon ausgegangen und davon überzeugt gewesen, dass die verordneten Medikamente im Zusammenhang mit der anerkannten Berufserkrankung gestanden hätten. Sonst wäre der Prozess zum Aktenzeichen S 2 U 64/05 gar nicht geführt worden.
Richtigerweise habe das Sozialgericht darauf abgestellt, dass die Jahresfrist gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht eingehalten worden sei. Die Beklagte habe bereits im Dezember 2004 Kenntnis von sämtlichen Tatsachen gehabt, auf die sie ihre Rückforderung stützen wolle. Das allein sei ausreichend gewesen, die Jahresfrist in Gang zu setzen. Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang auf Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts und des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Branden-burg verweise, beträfen jene Entscheidungen gänzlich andere Fälle. In jenen Fällen sei die Behörde darauf angewiesen gewesen, die Kenntnis über die zugrundeliegenden Tatsachen durch die Anhörung des Betroffenen zu ergänzen. Das sei hier nicht so gewesen. Vielmehr sei die Tatsachengrundlage geklärt und bekannt gewesen.
Selbst wenn man auf die erste Anhörung gemäß Schreiben der Beklagten vom 13. November 2006 abstellen wolle, wäre die Jahresfrist abgelaufen. Das Vorbringen der Beklagten, er – der Kläger – habe angekündigt, sich erst nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über die dem Rückforderungsbescheid zugrundeliegende Ablehnung der Erstattung der Kosten der streitbefangenen Medikamente äußern zu wollen, sei nicht zutreffend. In dem – von seinem Prozessbevollmächtigten gefertigten – Schreiben vom 22. November 2006 sei keineswegs eine Stellungnahme in Aussicht gestellt worden, sondern in aller Deutlichkeit und Klarheit die Forderung der Beklagten zurückgewiesen worden. Zumindest seit jenem Zeitpunkt habe festgestanden, dass die Beklagte mit weiteren Erkenntnissen von seiner Seite – der des Klägers – nicht habe rechnen können. Auf das zweite Anhörungsschreiben der Beklagten vom 7. April 2009, auf das er – der Kläger – mit Schreiben vom 8. Mai 2009 geantwortet habe, komme es deshalb nicht an.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen; diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 27. Mai 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 6. August 2009 als rechtswidrig eingestuft und ausgeführt, der Kläger sei nicht verpflichtet, an die Beklagte 9.677,77 EUR für im Zeitraum April 2003 bis November 2006 zu Lasten der Beklagten verordnete Medikamente zu zahlen; denn die Voraussetzungen für einen Rückzahlungsanspruch gemäß § 50 Abs. 2 i.V.m. der entsprechenden Anwendung von § 45 Abs. 2 und 4 SGB X seien nicht erfüllt.
Mit dem Sozialgericht dürfte davon auszugehen sein, dass hier – auch wenn der Kläger selbst Arzt ist –, anders als von der Beklagten angeführt, kein Wegfall des Vertrauensschutzes entsprechend § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X anzunehmen ist. Dieser Komplex wie auch die Frage einer fehlenden Ermessensausübung der Beklagten brauchen aber nicht weiter vertieft zu werden, da der geltend gemachte Rechtsanspruch der Beklagten – selbst wenn man die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X als erfüllt einstufen wollte - auf jeden Fall daran scheitert, dass die entsprechend § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X maßgebliche Jahresfrist nicht eingehalten worden ist. Ob dabei eine hinreichende Kenntnis der Beklagten – mit dem Sozialgericht – bereits für Dezember 2004 angenommen werden kann, scheint zweifelhaft, braucht aber letztlich nicht entschieden zu werden. Jedenfalls, wenn bei der Bestimmung des Fristbeginns für den Lauf der Jahresfrist auf die mit Schreiben vom 13. November 2006 erfolgte Anhörung des Klägers – mit Stellungnahmefrist bis zum 1. Dezember 2006 – abgestellt wird, ist die Jahresfrist für den Rückforderungsbescheid, der hier erst am 27. Mai 2009 ergangen ist, aus den bereits vom Sozialgericht dargelegten Gründen, auf die gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verwiesen ist, nicht eingehalten. Dieses Ergebnis wird gestützt durch die nach der Rechtsprechung und Literatur maßgeblichen Vorgaben.
Danach unterliegt die Rücknahme eines Verwaltungsakts für die Vergangenheit strengeren Regeln als diejenige für die Zukunft. Hier reicht es nicht, dass der Begünstigte nicht auf den Bestand vertraut hat, sondern eine Rücknahme kann nur erfolgen, wenn die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO vorliegen, § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Das bedeutet, dass bei einer angestrebten Rücknahme für die Vergangenheit (wie sie hier gegeben ist) eine Prüfung von § 45 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB X nicht notwendig ist (Padé in: jurisPK-SGB X, § 45 SGB X, Rdn. 105). Ob eine Rücknahme für die Vergangenheit oder für die Zukunft erfolgt, richtet sich nach dem Rücknahmebe¬scheid. Alles, was bei seinem Erlass, d. h., bei seiner Bekanntgabe, schon vorbei ist, kann nur nach den Voraussetzungen des § 45 Abs. 4, 2 Satz 3 bzw. 3 Satz 2 SGB X zurückgenommen werden; für danach liegende Zeiträume müssen die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB X erfüllt sein. Das gilt auch, wenn die bewilligten Leistungen noch nicht ausgezahlt bzw. in Anspruch genommen sind (Padé, a.a.O., Rdn. 106). Insofern dürfte hier wohl entgegen dem Sozialgericht auch bezüglich der Kenntnis der Tatsachen, die eine Rücknahme rechtfertigen, nicht auf den Zeitpunkt Dezember 2004 abzustellen sein; denn der streitbefangene Betrag von knapp 9.700,00 EUR resultiert aus verordneten Medikamenten und Behandlungen aus der Zeit von April 2003 bis November 2006, geht also weit über den Zeitraum Dezember 2004 hinaus.
Darüber hinaus zieht § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X eine zeitliche Grenze in Form der Jahresfrist ein. Die zuständige Behörde muss die Rücknahme innerhalb von einem Jahr nach Kenntnis der Tatsachen verfügen, die zur Rücknahme berechtigen. Diese Vorschrift liest sich als Rückausnahme zu § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X. Auch Personen, die eigentlich keinen Vertrauensschutz genießen, weil sie schuldhaft im Sinne dieser Vorschrift gehandelt haben, erwerben den Vertrauensschutz ein Jahr nach Kenntnis der zuständigen Behörde. Sie müssen also mehr als ein Jahr, nachdem die Behörde von allen maßgeblichen Tatsachen Kenntnis erlangt hat, nicht mehr mit einer Rücknahme der Begünstigung rechnen. Diese zeitliche Begrenzung der Rück-nahmebefugnis dient der Rechtssicherheit (Padé, a.a.O., Rdn. 107). Sie gilt im Gegensatz zur Jahresfrist in § 48 Abs. 4 VwVfG selbst in Fällen der Drohung oder der arglistigen Täuschung und betrifft damit gerade Fallgestaltungen, in denen eine Verwirkung nur im Hinblick auf den Zeitablauf, nicht aber wegen des Verhaltens des Begünstigten in Betracht kommen kann (Merten in: Hauck/Noftz, SGB X K § 45, Rdn. 144). Nach Ablauf der Frist kann der begünstigende Verwaltungsakt nicht mehr zurückgenommen werden. Die Frist ist eine Ausschlussfrist und kann nicht verlängert werden. Eine Wiedereinsetzung in die Frist kommt nicht in Betracht. Ist sie abgelaufen, kann der Verwaltungsakt nicht mehr mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden; es kommt nur noch eine Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft in Betracht (Padé, a.a.O., Rdn. 113). Die Jahresfrist ist nach alledem als Entscheidungsfrist konzipiert, nicht hingegen als Bearbeitungsfrist. Sie verpflichtet die aufhebende Behörde nicht, innerhalb eines Jahres die für die Rücknahme erforderlichen Tatsachen zu ermitteln, sondern beginnt erst zu laufen, wenn diese Ermittlungen abgeschlossen sind und eine "Entscheidungsreife" gegeben ist oder die Behörde jedenfalls subjektiv hiervon ausgeht. Die Frist beginnt zu laufen, wenn alle Umstände, deren Kenntnis es der Behörde objektiv ermöglicht, ohne weitere Sachaufklärung unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme zu entscheiden, bekannt sind (Merten, a.a.O., Rdn. 155 m.w.N. aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts).
Die Ausschlussregelung des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X hat abschließenden Charakter. Insbesondere die Vorschriften des BGB über Hemmung, Ablaufhemmung und Neubeginn der Verjährung sind nicht (analog) anwendbar. Dies zeigt auch ein Vergleich mit § 50 Abs. 4 Satz 2 SGB X, der im Gegensatz zu § 45 SGB X die entsprechenden BGB-Vorschriften ausdrücklich für anwendbar erklärt (Merten, a.a.O., Rdn. 146 unter Bezug auf Entscheidungen des BSG).
Die Jahresfrist beginnt erst zu laufen, wenn der Behörde alle Tatsachen bekannt sind, die zur Aufhebung nach § 45 SGB X berechtigen. Da diese Vorschrift neben objektiven auch subjektive Tatbestandsmerkmale (Vorsatz, grobe Fahrlässigkeit) enthält, muss die Behörde z. B. auch von der Bösgläubigkeit des Betroffenen Kenntnis haben. Wann dies der Fall ist, ist weder ausschließlich nach der subjektiven Einschätzung der Behörde noch anhand objektiver Kriterien zu beantworten. Die den Beginn der Jahresfrist bestimmende Kenntnis ist dann anzunehmen, wenn mangels vernünftiger, objektiv gerechtfertigter Zweifel eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen besteht. Hierbei ist hinsichtlich der erforderlichen Gewissheit über Art und Umfang der entscheidungserheblichen Tatsachen in erster Linie auf den Standpunkt der Behörde abzustellen, es sei denn, deren sichere Kenntnis liegt bei objektiver Betrachtung bereits zu einem früheren Zeitpunkt vor (Padé, a.a.O., Rdn. 108).
Da die Rechtsprechung regelmäßig eine Anhörung vor Erlass eines Aufhebungsbescheids nach § 45 SGB X verlangt, um die Voraussetzungen des subjektiven Tatbestands aufzuklären, beginnt die Jahresfrist regelmäßig erst nach erfolgter Anhörung des Betroffenen, es sei denn, die Behörde verfügt mangels vernünftiger, objektiv gerechtfertigter Zweifel bereits zuvor über hinreichend sichere Kenntnis der Bösgläubigkeit. Maßgeblich ist der Ablauf der für die Anhörung gesetzten Frist (BSG, Urteil vom 8. Februar 1996 – 13 RJ 35/94 – BSGE 77, 295 ff., Rdn. 33 bei juris; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. Juni 2012 – OVG 6 M 116.13; Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 15. Juli 2010 – L 9 AL 107/08, recherchiert jeweils bei juris; Padé, a.a.O., Rdn. 109; Merten, a.a.O., Rdn. 152 m.w.N. zur Rechtsprechung des BSG). Bisher ist in der Rechtsprechung ungeklärt, ob – wie der Kläger meint – neben der Kenntnis aller relevanten Tatsachen auch die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit des begünstigenden Bescheids vorliegen muss. Das Bundesverwaltungsgericht nimmt diese Notwendigkeit im Rahmen des § 48 VwVfG an. Allerdings weicht der Wortlaut des § 45 Abs. 4 SGB X insofern von demjenigen des § 48 VwVfG ab. Dagegen spricht auch, dass die Rechtswidrigkeit des Bescheids keine Tatsache, sondern eine rechtliche Würdigung ist, die vom Wortlaut des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht erfasst ist. Auch das Bundesverwaltungsgericht ist allerdings insofern der Auffassung, dass Rechtsirrtümer, die der Behörde trotz umfassender Tatsachenkenntnis unterlaufen, zu Lasten der Rücknahmebehörde gehen (Padé, a.a.O., Rdn. 111 m.w.N. aus der Rechtsprechung).
Gemessen an diesen Kriterien war für die Beklagte spätestens mit Eingang der Stellungnahme des Prozessbevollmächtigten des Klägers am 24. November 2006 "Ent scheidungsreife" (Begriff nach dem Urteil des BSG vom 8. Februar 1996 – 13 RJ 35/94 = BSGE 77, 295) gegeben; davon ist die Beklagte auch subjektiv ausgegangen. Mithin waren alle Umstände bekannt, deren Kenntnis es der Behörde objektiv ermöglichte, ohne weitere Sachaufklärung unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme zu entscheiden. Das zeigt sich ganz deutlich aus dem Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten. In dem dortigen hausinternen Vermerk vom 3. November 2006 (Bl. 751) ist ausdrücklich nach Darlegung des bisherigen Geschehensablaufs und unter Bezugnahme auf die bislang zurückgestellte Rückforderung der Kosten für zu Unrecht verordneter Medikamente vorgeschlagen worden, die Kosten sollten nunmehr von dem Versicherten zurückgefordert werden. Diesem Vorschlag hat die Bevollmächtigte der Beklagten seinerzeit ausdrücklich zugestimmt (Bl. 752). Dementsprechend ist sodann das Anhörungsschreiben vom 13. No¬vember 2006 verfasst worden (Bl. 753). Innerhalb der darin gesetzten Frist (bis zum 1. Dezember 2006) ist die Stellungnahme des Prozessbevollmächtigten des Klägers erfolgt (Bl. 756), in der in der Tat – wie in der Berufungserwiderung angeführt – eindeutig dargelegt worden ist, dass der Kläger keine Beträge an die Beklagte zurückzahlen wolle. Zudem ist schon vorsorglich von Seiten des Klägers im Hinblick auf einen ggf. zu erlassenden Bescheid um Zustellung an seinen Prozessbevollmächtigten gebeten worden. Dazu ist es dann aber erst (nach nochmaliger Anhörung des Klägers) mit Bescheid vom 27. Mai 2009 gekommen, also rd. 2 1/2 Jahre später.
Die Beklagte kann sich insoweit nicht mit Erfolg darauf berufen, sie habe die Stellungnahme des Klägers vom 22. November 2006 – wie in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht erläutert – entgegen dem dortigen Wortlaut dahingehend verstanden, dass der Kläger sich erst nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens S 2 U 64/05 über die Ablehnung der Erstattung der Kosten der streitbefangenen Medikamente zur Frage einer Rückzahlung äußern werde. Diese irrige Annahme ist allein der Sphäre der Beklagten zuzurechnen und kann nicht dem Kläger angelastet werden. Die Beklagte kann sich für ihre Rechtsauffassung zum Beginn der Jahresfrist auch nicht mit Erfolg auf die von ihr benannten Entscheidungen des Bayerischen Landessozialgerichts (zum Arbeitslosengeld) vom 15. Juli 2010 – L 9 AL 107/07 – und vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (zur Ausbildungsförderung) vom 29. Juni 2012 – OVG 6 M 116.12 – (jeweils recherchiert bei juris) stützen, in denen jeweils das Erfordernis einer Anhörung vor Erlass eines Rückforderungsbescheides betont worden ist. Zum einen war hier eine Anhörung bereits im November 2006 durchgeführt worden. Zum anderen hat der Kläger zutreffend darauf hingewiesen, dass in jenen vorgenannten gerichtlichen Entscheidungen die Behörde darauf angewiesen gewesen sei, die Kenntnis über die zugrundeliegenden Tatsachen durch die Anhörung des jeweils Betroffenen zu ergänzen. Im Übrigen ist in jenen Entscheidungen ausdrücklich betont worden, dass maßgeblich für den Fristbeginn auf den Eingang der Stellungnahme/das Ergebnis der Anhörung abzustellen sei. Ein solches Ergebnis lag hier aber bereits mit Eingang der Stellungnahme vom 22. November 2006 am 24. November 2006 vor. Darin hatte der Kläger deutlich gemacht, dass er aus seiner Sicht davon ausgegangen und davon überzeugt gewesen sei, dass die verordneten Medikamente im Zusammenhang mit der anerkannten Berufserkrankung gestanden hätten; sonst wäre der Prozess vor dem Sozialgericht Kiel unter dem Aktenzeichen S 2 U 64/05 gar nicht geführt worden. Eindeutig stand für die Beklagte danach auch fest, dass der Kläger aufgrund dieser subjektiven Einschätzung nicht gewillt war, irgendwelche Beträge zurückzuzahlen. Die spätere (nochmalige) Anhörung im April 2009 ändert nichts am Beginn des Laufs der Jahresfrist bei analoger Anwendung von § 45 Abs. 4 SGB X ab Ende November 2006.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision durch den Senat gemäß § 160 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG zuzulassen, sind nicht ersichtlich.
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