L 2 VG 68/14

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
2
1. Instanz
SG Itzehoe (SHS)
Aktenzeichen
S 26 VG 114/10
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 2 VG 68/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozial- gerichts Itzehoe vom 18. August 2014 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die 1996 geborene Klägerin begehrt die Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) unter Anerkennung von Schädigungsfolgen für in ihrer Kindheit durch den leiblichen Vater und einen Halbbruder erlittenen sexuellen Missbrauch und Misshandlungen.

Mit am 20. April 2006 bei dem Beklagten eingegangenen Antrag stellte die Stadt Neumünster, die seinerzeit das Sorgerecht für die Klägerin innehatte, für diese und ihren 2 Jahre älteren leiblichen Bruder einen Antrag nach dem OEG. Der Antrag wurde mit dem Verdacht auf sexuellen Missbrauch durch den Halbbruder M sowie den leiblichen Vater begründet.

Zur Aufklärung des Sachverhalts zog der Beklagte medizinische Unterlagen über die Klägerin bei, unter anderem Behandlungsberichte aus dem Kinderzentrum P sowie ein Gutachten des MDK zur Pflegebedürftigkeit vom 3. Dezember 2005. Ferner zog der Beklagte Unterlagen aus der gerichtlichen Sorgerechtsangelegenheit sowie Unterlagen des Deutschen Kinderschutzbundes über einen begleiteten Umgang der Klägerin und ihres Bruders mit dem Kindsvater bei. In diesen Berichten wird über sexuell übergriffiges Verhalten des 1990 geborenen M gegenüber seinen beiden Halbgeschwistern in der damals noch gemeinsamen elterlichen Wohnung berichtet. So soll sich M auf die Klägerin gelegt, sich aggressiv an ihr gerieben und dabei koitale Bewegungen ausgeführt haben. Ferner soll er seinen Stiefbruder gezwungen haben, sein Glied anzufassen. In den Berichten über den begleiteten Umgang schildert die begleitende Diplom-Pädagogin K ein gleichgültiges, ambivalentes bis aggressives Verhalten des Kindsvaters gegenüber seinen Kindern und ängstlich unsicheres Verhalten der Klägerin. Im Bericht vom 10. Juni 2004 gelangte sie zu der Einschätzung, die Kinder seien jahrelang missbraucht, misshandelt und vernachlässigt worden.

In einem Bericht vom 7. Dezember 2006 berichtete Frau K ausgiebig über die zwischen 6. Juni 2002 und 27. November 2006 bei der Klägerin durchgeführte Kindertherapie und dabei aufgetretene Auffälligkeiten, die auf einen stattgehabten sexuellen Missbrauch hindeuteten.

So habe die Klägerin die Therapeutin gebeten bei einem Toilettenbesuch als Schutz vor der Tür zu stehen. Dies zeige, wie angstbesetzt die Situation (heruntergezogene Hose) für sie sei. In Spielsituationen sei ein ablehnendes Verhalten gegenüber dem Vater und dem Halbbruder deutlich geworden. In einer anderen Spielsituation habe sie anatomische Puppen ausgezogen, und dem Mann und dem Jungen jeweils die Zunge herausgestreckt, dabei auf den Penis des Mannes gezeigt und gesagt: "Das ist eklig".

Die Pflegemutter, Frau N , habe in einem Telefonat vom August 2004 berichtet, die Klägerin habe in der Badewanne ihre Badepuppe ganz nackt ausgezogen, sich auf die Puppe gesetzt und zwischen ihren Beinen hin und her bewegt. Auf die Frage, woher sie dieses Spiel kenne, habe sie geäußert: "Das hat Papa mit uns gespielt".

In einem weiteren Telefonat vom September 2004 habe die Pflegemutter berichtet, die Klägerin habe geäußert, dass ihre leibliche Mutter sie geschlagen habe. Ferner habe die Pflegemutter in Telefonaten berichtet, die Klägerin sei beim Spielen und Toben mit dem Pflegevater plötzlich in einen hasserfüllten Zustand verfallen. Sie habe insoweit eine Verwechslung mit dem Kindsvater vermutet.

In einem Telefonat von November 2004 habe die Pflegemutter geäußert, die Klägerin habe Gewalterfahrungen mit dem Kindsvater nachgespielt. Dabei habe sie nackt auf einem Stuhl gefesselt gesessen und sei vom Kindsvater ins Gesicht geschlagen worden.

In einem Telefonat vom November 2006 habe die Pflegemutter berichtet, auf die Nachricht vom Tod ihres leiblichen Vaters habe die Klägerin geäußert: "Endlich ist das Schwein tot."

Die behandelnde Kieferorthopädin habe festgestellt, dass die Kiefergelenke der Klägerin völlig ausgehakt seien. Dies kenne sie von sexuell oral missbrauchten Kindern.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Eckernförde vom 3. Februar 2007 wurde die Pflegemutter der Klägerin zu deren Vormund bestellt.

Eine durch die Prozessbevollmächtigte der Klägerin gestellte Strafanzeige gegen den leiblichen Vater der Klägerin und ihren Halbbruder führte nicht zur Anklageerhebung. Im Hinblick auf den Tod des leiblichen Vaters im Juli 2006 sowie die fehlende Strafmündigkeit des Halbbruders im fraglichen Zeitraum wurden die Ermittlungsverfahren durch Beschluss der Staatsanwaltschaft Kiel vom 25. Oktober 2007 eingestellt. Auf die Beschwerde der Klägerbevollmächtigen bestätigte die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens.

Der Beklagte holte ferner eine schriftliche Auskunft der Pflegeeltern H vom 21. April 2008 ein. Darin berichteten diese, die Klägerin habe spielerisch immer wieder sexuelle Übergriffe nachgestellt. Im Januar 2006 habe sie ihnen auf einer Autofahrt direkt von regelmäßigen sexuellen Missbräuchen durch ihren leiblichen Vater berichtet. Beigefügt war auch ein schriftlicher Bericht der Pflegemutter an das Jugendamt über ein mit der leiblichen Mutter der Klägerin geführtes Telefonat. In diesem Telefonat habe die leibliche Mutter zugegeben, von den sexuellen Missbräuchen ihres Mannes, aber auch des Großvaters väterlicherseits gegen die Klägerin gewusst zu haben.

Ferner holte der Beklagte eine Auskunft der Stadt Neumünster vom 13. Mai 2008 ein.

Eine Befragung der Klägerin durch den Beklagten wurde von der Klägerbevollmächtigten nach Beratung mit dem behandelnden Kinder- und Jugendpsychotherapeuten L abgelehnt.

Mit Bescheid vom 19. Juni 2009 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin nach dem OEG ab und führte zur Begründung aus, ein rechtswidriger, tätlicher Angriff gegen die Klägerin sei weder erwiesen noch glaubhaft gemacht. Da eigene Angaben der Klägerin nicht zu erlangen seien und insbesondere die leibliche Mutter Angaben gegenüber dem Beklagten verweigert habe, seien weitere Ermittlungsansätze nicht ersichtlich.

Dagegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 24. Juli 2009. Dieser wurde mit Widerspruchsbescheid vom 1. März 2010 zurückgewiesen.

Mit ihrer am 6. April 2010 (Dienstag nach Ostern) erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt.

Zur Begründung hat sie vorgetragen, sie habe durch sexuellen Missbrauch in der Kindheit durch Personen in der engeren Familie sowie als Folge davon durch das Herauslösen aus dem Elternhaus eine erhebliche Anpassungsstörung erlitten. Es sei angezeigt ein psychologisches und kinderpsychiatrisches Sachverständigengutachten einzuholen. Die im Gerichtsverfahren eingeholten Berichte bestätigten das Bild, das sich bei den Pflegeeltern gezeichnet habe. Sie habe sich nach sehr langer Überlegung entschlossen, vor Gericht keine Aussage zu machen. Dies falle ihr schwer, sie könne es aber nicht anders leisten.

Die Klägerin hat beantragt

den Bescheid vom 19. Juni 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2010 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr unter Anerkennung von Schädigungsfolgen Versorgungsleistungen nach dem OEG zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht hat zur Aufklärung des Sachverhaltes einen Befundbericht des Kinderzentrums P , einen Befundbericht der Kinder- und Jugendmedizinerin F vom 29. Juni 2011 und einen Behandlungsbericht des Deutschen Kinderschutzbundes (behandelnde Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Frau K ) eingeholt.

Ferner hat das Sozialgericht die leibliche Mutter und den Bruder der Klägerin angeschrieben und gefragt, ob diese bereit wären, vor Gericht auszusagen. Die leibliche Mutter hat dem Gericht daraufhin mitgeteilt, dass sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen wolle. Die gesetzliche Betreuerin des Bruders der Klägerin teilte mit Schreiben vom 19. Juni 2014 mit, dieser wolle zwar nicht förmlich von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen, fühle sich aber zwischen Baum und Borke und wisse auch nicht, was er erzählen solle. Sie wies darauf hin, dass die Not in dessen Leben sehr groß sei. Er habe sich mit seinem eigenen Leid noch zu wenig bis gar nicht auseinandergesetzt.

Mit Gerichtsbescheid vom 18. August 2014 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Dabei führte es zur Begründung aus, die von der Klägerin geltend gemachten Missbrauchshandlungen seien nicht nachgewiesen. Weitere Erkenntnisquellen seien nicht ersichtlich. Die Vernehmung von Zeugen vom Hörensagen, komme schon deshalb nicht in Betracht, weil die Klägerin grundsätzlich über eigenes Wissen verfüge, das sie dem Gericht mitteilen könne. Die Mutter habe von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Die zeugenschaftliche Vernehmung des Bruders komme auch nicht in Betracht. Zum einen sei nach der eingeholten Auskunft nicht zu erwarten, dass er entgegen seiner Ankündigung über Erinnerungen an auch für ihn sehr belastende Erlebnisse verfügen könnte. Zum anderen erscheine es nicht vertretbar, den Zeugen einer solchen Situation auszusetzen, wenn die Klägerin (wenngleich aus nachvollziehbaren Gründen) für sich in Anspruch nehme, nicht zu den fraglichen Vorgängen aussagen zu wollen. Die Beweiserleichterungsregelung des § 15 Verwaltungsverfahrensgesetz - Kriegsopferversorgung (KOV- VfG) sei nicht anwendbar, denn der Nachweis fehle vorliegend nicht aufgrund fehlender Unterlagen, sondern weil die Klägerin selbst keinen ausreichenden Vortrag geleistet habe.

Gegen diesen ihrer Bevollmächtigten am 22. August 2014 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung der Klägerin vom 22. September 2014.

Zur Begründung trägt sie vor, es sei in der Zwischenzeit erneut versucht worden, Erklärungen zu erlangen, aus denen sich ergebe, dass es zu einem sexuellen Missbrauch gekommen sei. Der dringende Verdacht bestehe und sei auch bestätigt. Das familiäre System wolle sich aber zu ihren Lasten verschließen. Ihre leibliche Mutter habe gegenüber der Pflegemutter aber mehrfach den sexuellen Missbrauch eingeräumt. Unverständlich sei ihr, dass nachgewiesene körperliche Misshandlungen durch ihren mit ihrem Schutz beauftragten gesetzlichen Vertreter im Rahmen der Opferentschädigung keine Berücksichtigung gefunden hätten. Sie habe sich - nunmehr volljährig - entschieden an einer Sachverständigenbegutachtung mitzuwirken.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Itzehoe vom 18. August 2014 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 19. Juni 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2010 zu verurteilen, ihr unter Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Schädigungsfolge des in der Kindheit erlittenen sexuellen Missbrauchs und der erlittenen Misshandlungen Versorgungsleistungen nach dem OEG zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens der Sachverständigen Dr. Ha vom 16. Mai 2017. Während der Begutachtung gab die Klägerin an, sie habe wohl seinerzeit ihrer Pflegemutter von den sexuellen Übergriffen erzählt. An diese Gespräche könne sie sich aber jetzt nicht mehr erinnern. Für sie sei dies kein Thema. Ihre Pflegeeltern wollten ihr mit dem Verfahren helfen, für sie selbst sei dies nicht so wichtig. Sie beschäftige sich eher mit aktuellen Themen, wie dem Stress mit ihrem Freund. Seit Jahren habe sie mit ihrer Pflegefamilie und ihrer Anwältin die sexuellen Übergriffe nicht mehr thematisiert. Allerdings habe sie ihrem Freund davon erzählt. Auf die Frage woran sie sich konkret erinnern könne, gab sie an, sie könne sich an eine Situation erinnern, bei der sie angezogen auf dem Sofa gesessen habe, ihr Vater habe halbnackt in der Tür gestanden und masturbiert. Danach sei er zu ihr gekommen und habe sie berührt. Wo genau wisse sie nicht mehr. Dieses Bild, dass ihr Vater masturbiert habe, sei erst aktuell in der Exploration wiedergekommen. Sie könne sich nicht erinnern, seinen Penis anfassen oder in den Mund habe nehmen müssen. Auch mit ihrem Stiefbruder erinnere sie keine derartigen Situationen. Körperliche Gewalt habe sie durch die Großeltern väterlicherseits erfahren. Sie habe auch keine Erinnerung an ihre Einschulung mehr und könne nicht sagen, was ihre früheste Erinnerung sei. An die Situation, in der sich M auf sie gelegt haben soll, habe sie ebenfalls keine Erinnerung. Davon wisse sie nur, weil sie davon in einem Gutachten gelesen habe.

Die Sachverständige führte aus, die Klägerin sei durchaus aussagefähig. Nach in der Kindheit vorhandener Entwicklungsverzögerung bestehe bei ihr heute eine durchschnittliche kognitiv-intellektuelle Leistungsfähigkeit, was sich unter anderem im erreichten Realschulabschluss und der Aufnahme einer Ausbildung abbilde. Die jetzt geschilderten sexuellen Übergriffe seien nicht ausreichend detailliert um eine inhaltliche Analyse zu machen. Die von den Pflegeeltern notierten Äußerungen seien aus methodischen Gründen dazu ebenfalls nicht geeignet, zum einen weil es keine originären Angaben der Klägerin seien, zum anderen aufgrund möglicher suggestiver Prozesse. So zeigten die Beschreibungen der Therapeutin K , dass dort Verhaltensweisen der Klägerin oftmals in Richtung eines stattgehabten sexuellen Missbrauchs gedeutet worden seien, teilweise abstrus anmutend. Die Beschreibungen der Pflegemutter wiesen ebenfalls auf die ständige Präsenz des Verdachts sexuellen Missbrauchs hin. Dabei habe sich der Verdacht zunächst nur gegen den Bruder und erst in der Folgezeit gegen den Vater und andere Familienmitglieder gerichtet. Es sei nicht zu verkennen, dass die Klägerin nach der Herausnahme aus der Familie schwere Verhaltensauffälligkeiten gezeigt habe, die sicherlich auch ursächlich in der Herkunftsfamilie zu suchen seien. Möglicherweise erlebte gewalttätige Handlungen seien aber mit hoher Wahrscheinlichkeit überlagert durch die zeitweise Fokussierung des Umfeldes auf dieses Thema. Nach Abwägung verschiedener Entstehungsthesen für die vorgebrachten Gewalt- und Missbrauchsvorwürfe lasse sich zusammenfassend festhalten, dass aufgrund des geringen Aussageumfangs in der Begutachtung, des Fehlens vorheriger originaler Aussagen der Klägerin und der suggestiv belasteten Aussagegeschichte keine validen Feststellungen zum Realitätsgehalt der Anschuldigungen getroffen werden könnten. Der Beweismaßstab der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin über körperliche und sexuelle Gewalthandlungen in ihrer Primärfamilie werde nicht erreicht. Eine andere Beurteilung aufgrund weiterer Informationen bleibe vorbehalten.

Ergänzend wird hinsichtlich des Sach- und Streitstandes auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Gegen die Zulässigkeit der Berufung bestehen keine Bedenken. Insbesondere ist diese innerhalb der Jahresfrist des § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beim Landessozialgericht eingegangen. Einer gesonderten Zulassung der Berufung gemäß § 144 Abs. 1 SGG bedurfte es schon deshalb nicht, weil um laufende Leistungen für mehr als ein Kalenderjahr gestritten wird.

Die Berufung ist aber nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Itzehoe die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen erweisen sich als rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Diese hat keinen Anspruch auf Gewährung von Opferentschädigungsleistungen nach dem OEG, denn es ist weder erwiesen noch hinreichend glaubhaft gemacht, dass sie Opfer rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geworden ist.

Grundlage des klägerischen Anspruchs ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG, der für eine Person, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen sich selbst oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, die Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG vorsieht.

Das Bundessozialgericht hat sexuellen Missbrauch in der Kindheit, auch in Fällen, in denen er nicht mit Gewaltausübung im engeren Sinne einherging, als tatbestandsmäßig im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG qualifiziert (so etwa Urteile vom 17. April 2013, B 9 V 1/12 R und B 9 V 3/12 R).

In den zitierten Urteilen hat das BSG auch die Anwendbarkeit der Beweiserleichterung des § 15 KOV VFG auf Fälle sexuellen Missbrauchs in der Kindheit bestätigt und dabei klargestellt, dass das Bestreiten der Tat durch den vermeintlichen Täter wie hier der Beweisnot, die § 15 Satz 1 KOV VfG voraussetzt, nicht entgegensteht. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOV VfG kommt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und direkte Tatzeugen nicht vorhanden sind. In derartigen Sachverhaltskonstellationen ist neben anderen, je nach Fall in Betracht kommenden Erkenntnisquellen auch die Einholung aussagepsychologischer Gutachten durch das Tatgericht zu erwägen. Diese Ermittlungsmethode hat das BSG in den genannten Urteilen explizit für möglich erachtet, sie aber nicht als zwingend angesehen. Dabei hat es ausgeführt, dass die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen insbesondere dann geboten sein könne, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch die psychische Erkrankung des Betroffenen und deren Behandlung beeinflusst sein können. So liegt der Fall hier. Das BSG hat auch bestätigt, dass die vom Bundesgerichtshof in Strafsachen ermittelten Grundsätze für die Erstattung von Glaubhaftigkeitsgutachten, insbesondere die Methodik der Zugrundelegung einer Nullhypothese und der Prüfung deren Widerlegung durch eine Alternativhypothese, auch grundsätzlich im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts gelten. Im Hinblick auf den erleichterten Beweismaßstab des § 15 KOV VFG hat es aber klargestellt, dass dieser recht strenge Maßstab, der im Hinblick auf strafrechtliche Verurteilungen auch geboten erscheint, nicht ohne Weiteres geeignet ist, zur Entscheidungsfindung des Gerichtes beizutragen. Sofern sich ein Gericht bei Anwendung des § 15 Satz 1 KOV VFG eines aussagepsychologischen Gutachtens bedienen möchte, so habe es den Sachverständigen auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und ihn aufzufordern, das Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien zu erstatten. Hinsichtlich dieser Kriterien hat das BSG im Verfahren B 9 V 3/12 R ausgeführt, es reiche die gute Möglichkeit aus, d. h. es genüge, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten sei, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spreche. Ähnlich hat das BSG im Verfahren B 9 V 1/12 R formuliert: Danach sei Glaubhaftmachung das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Es genüge, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten sei. Dieser Rechtsprechung hat sich der erkennende Senat angeschlossen (vgl. Urteil vom 6. Dezember 2016 – L 2 VG 54/14; Urteil vom 18. Juni 2013 – L 2 VG 23/11 ZVW).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist zunächst festzustellen, dass nicht nachgewiesen ist, dass die Klägerin Opfer rechtswidriger, vorsätzlicher tätliche Angriffe durch sexuelle Übergriffe ihres Vaters oder ihres Halbbruders geworden ist, denn es gibt für die angeschuldigten Taten keine direkten Tatzeugen, und das Strafverfahren ist in Hinblick auf das Ableben des Vaters und die fehlende Strafmündigkeit des Halbbruders eingestellt worden.

Unter Berücksichtigung der oben genannten Maßstäbe ist es aber auch nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater oder ihren Halbbruder geworden ist.

Zwar ist nicht zu verkennen, dass die Klägerin zum Zeitpunkt des Beginns der Begleitung und Behandlung durch den Deutschen Kinderschutzbund sowie zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Pflegefamilie N stark entwicklungsverzögert und verhaltensauffällig war.

Die Verwaltungs- und Gerichtsakten enthalten auch etliche Berichte über Gegebenheiten, die auf einen sexuellen Missbrauch hindeuten, so etwa die Neigung der Klägerin sexuelle Übergriffe im Spiel darzustellen, ihre Ablehnung gegenüber ihrem Vater, ihre verstörte Reaktion auf tobendes Spielen mit ihrem Pflegevater und nicht zuletzt die gegenüber ihrer Pflegemutter gegebene Schilderung sexuellen Missbrauchs.

Auch die Angaben ihres Bruders Ma , der initial im Betreuungsprozess sexuelle Übergriffe des Halbbruders M auf ihn und auf die Klägerin benannt hat, sprechen für die Glaubhaftigkeit sexuellen Missbrauchs. Schließlich spricht auch der Inhalt der von der Pflegemutter wiedergegebenen Telefonate mit der leiblichen Mutter dafür, dass ein sexueller Missbrauch zulasten der Klägerin stattgefunden hat. Dies gilt auch für den berichteten Verdacht der Kieferorthopädin, die Gebiss- und Kiefer-auffälligkeiten der Klägerin könnten durch oralen, sexuellen Missbrauch verursacht worden sein.

Andererseits ist nicht zu verkennen, dass die auf einen sexuellen Missbrauch hinweisenden Verhaltensweisen der Klägerin, die von ihrer Pflegemutter und der betreuenden Pädagogin K dokumentiert worden sind, zumeist eine Interpretation ihres Verhaltens durch das Umfeld in diese Richtung voraussetzten. Da der Verdacht sexuellen Missbrauchs seit Beginn der Betreuung durch den Deutschen Kinderschutzbund prominent im Raum stand, ist es nicht auszuschließen, dass hier eine Überinterpretation kindlichen Verhaltens stattgefunden hat. Direkte Angaben zu sexuellen Übergriffen auf die Klägerin werden zudem meist über mehrere Mittelspersonen wiedergegeben. So berichtet Frau K über ein Telefonat mit Frau N , in dem diese wiederum über ein Telefonat mit der leiblichen Mutter der Klägerin berichtet. An anderer Stelle berichtet Frau N über ein Telefonat mit der leiblichen Mutter der Klägerin, in der diese wiederum über ein Telefonat mit dem Halbbruder M berichtet. Bei diesen Telefonaten spielen die Angaben der leiblichen Mutter eine bedeutende Rolle. Diese wirkt aber sehr labil, hat ihre Angaben z.T. auf Drängen der Pflegemutter gemacht und verhält sich in ihrem Aussageverhalten ambivalent. Lediglich über jeweils dritte Personen wiedergegebene Angaben der leiblichen Mutter der Klägerin sind aber zur Überzeugung des Senats nicht valide genug, um die spärlichen Angaben der Klägerin selbst glaubhaft erscheinen zu lassen.

Auffallend ist auch, dass zu Beginn der Betreuung der Klägerin durch den Kinderschutzbund der Bericht über einen sexuellen Übergriff des Halbbruders M stand, der in diesem Kontext gegenüber den anderen Anschuldigungen vergleichsweise harmlos erscheint. Dieser soll sich im angezogenen Zustand auf die Klägerin gelegt und dabei koitale Bewegungen simuliert haben. Der Vorwurf gegenüber dem Kindsvater bestand darin, dass dieser, obwohl in der elterlichen Wohnung anwesend, nicht eingegriffen habe, obwohl die Klägerin Schmerzen gehabt und um Hilfe geschrien habe. Im Laufe des Betreuungsprozesses ist bei dem betreuenden Umfeld (Kinderschutzbund, Pflegefamilie) dann die Gewissheit entstanden, dass sowohl die Klägerin als auch ihr Bruder Ma einem jahrelangen massiven sexuellen Missbrauch durch den leiblichen Vater und den Halbbruder ausgesetzt gewesen seien. Die Wachsamkeit gegenüber Verhaltensweisen, die auf sexuellen Missbrauch hindeuten, ist in Anbetracht der Sorge um das Wohl der Geschwister als auch des Entsetzens über den möglichen sexuellen Missbrauch zwar verständlich und angezeigt, jedoch erscheint es auch nicht ausgeschlossen, dass sich insoweit ein Verdacht verselbstständigt hat.

Gegen die Annahme eines jahrelangen schweren sexuellen Missbrauchs durch den Halbbruder und den Vater spricht auch der Umstand, dass die Klägerin ihrer leiblichen Mutter von dem Vorfall mit ihrem Bruder M (simulierter Geschlechtsverkehr) berichtet hat. Dies war Auslöser für den Betreuungsprozess. Wenn sich die Klägerin insoweit ihrer Mutter anvertraut hat, ist es nicht schlüssig, warum sie dies nicht auch bei den deutlich schwerwiegenderen Vorfällen getan hat, die durch das therapeutische Umfeld angenommen worden sind. Ein jahrelanger sexueller Missbrauch durch den Halbbruder erscheint schon in Hinblick auf dessen Lebensalter wenig wahrscheinlich. Der geschilderte Vorfall soll sich im Juli 2002 ereignet haben. Zu diesem Zeitpunkt war der Halbbruder der Klägerin erst knapp 12 Jahre alt.

Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht ausgeschlossen, wie die Sachverständige Dr. Ha nachvollziehbar ausgeführt hat, dass bei den Angaben zu sexuellen Missbräuchen, die die Klägerin im Kindesalter gegenüber ihren Pflegeeltern gemacht hat, fremdsuggestive Prozesse wirksam geworden sind. Dies gilt umso mehr, als die Pflegemutter direkte Schilderungen der Klägerin über sexuelle Handlungen des Vaters erst für den Januar 2006 angegeben hat, also zu einem Zeitpunkt, als die Kindertherapie, die vom Verdacht des sexuellen Missbrauchs geprägt war, zeitlich schon sehr fortgeschritten war. Dass die Klägerin die damals geschilderten Übergriffe und auch das Gespräch mit ihrer Pflegemutter heute nicht mehr erinnert, spricht dagegen, dass sie 2006 über tatsächlich stattgehabte Gewalterfahrungen aus der Zeit bis 2002 berichtet hat.

Um gleichwohl sexuellen Missbrauch als glaubhaft gemacht anzusehen, müssten konsistente und schlüssige Angaben der Klägerin zu erlittenen Übergriffen vorliegen. Aus dem nachvollziehbar, in sich widerspruchsfrei und schlüssig erstellten Gutachten der aussagepsychologischen Sachverständigen Dr. Ha ergibt sich aber, dass Angaben derartiger Qualität von der Klägerin nicht zu erhalten waren. Sie konnte lediglich ein einziges Ereignis reproduzieren. Die Schilderung der Klägerin anlässlich der Untersuchung, wonach ihr Vater in der Tür stehend masturbiert und sie anschließend angefasst habe, stimmt nicht mit den Schilderungen überein, die sie in ihrer Kindheit gegenüber ihrer Pflegemutter gemacht hat, oder den Annahmen, die das therapeutische Umfeld aufgrund von Verdachtsmomenten getroffen hat. Die Klägerin hat insoweit auch eingeräumt, dass diese Erinnerungen erst aktuell in der Exploration wiedergekommen seien. Nachvollziehbar hat die Sachverständige darauf hingewiesen, dass die in der Begutachtung gemachten Angaben nicht ausreichend detailliert sind, um eine inhaltliche, kriterienbezogene Analyse durchzuführen.

Insgesamt ist zu konzedieren, dass eine Reihe von Gesichtspunkten durchaus dafür sprechen, dass die Klägerin in ihrer Kindheit Opfer sexuellen Missbrauchs vor allem durch ihren Vater geworden ist und ein solcher durchaus möglich erscheint. Der Verdacht, dass ein solcher stattgefunden hat, kann keinesfalls als ausgeräumt angesehen werden. Das für eine Glaubhaftmachung nach § 15 S. 1 KOV-VfG erforderliche Ausmaß der relativen Wahrscheinlichkeit wird aber mangels konsistenter und detaillierter Angaben der Klägerin selbst nicht erreicht. Die von anderen Personen wiedergegebenen Beobachtungen und Deutungen sprechen zum Teil durchaus dafür, dass die Klägerin Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden ist, sie sind aber dennoch zu vage bzw. lassen andere Erklärungen zu, als dass allein aufgrund dieser Fremdbeobachtungen ein sexueller Missbrauch der Klägerin als glaubhaft gemacht angesehen werden kann. Dies gilt umso mehr, als diese Berichte nur zu einem geringen Teil direkte Angaben der Klägerin selbst wiedergeben. § 15 KOV-VfG verlangt als Mittel der Glaubhaftmachung aber Angaben des Geschädigten. Zwar hat der Senat mit Urteil vom 23. September 2014 (L 2 VG 25/12) entschieden, dass es nicht erforderlich ist, dass der Antragsteller die Angaben vor einer Verwaltungsbehörde bzw. einem Gericht macht. Er hat es aber für erforderlich gehalten, dass der Antragsteller Angaben aus eigenem Wissen oder jedenfalls überhaupt Angaben machen kann. Auch die durch Betreuungspersonen wiedergegebenen früheren Angaben der Klägerin sind aber äußerst spärlich und reichen für die Glaubhaftmachung nicht aus. Soweit die Klägerin ihren Anspruch auch auf rein körperliche Misshandlungen ohne sexuellen Missbrauch stützt, ergibt sich nichts anders. Nachgewiesen sind derartige Misshandlungen, anders als die Klägerbevollmächtigte vorgetragen hat, nicht. Aber auch die Angaben der Klägerin dazu reichen nach den gegebenen Umständen für eine Glaubhaftmachung nicht aus. Auch bezüglich nichtsexualisierter Angriffe sind die Angaben der Klägerin nämlich nur spärlich. Sie hat gegenüber der Sachverständigen aktuell lediglich angegeben körperliche Gewalt durch die Großeltern väterlicherseits zu erinnern und Erinnerungen an Schläge durch ihre Eltern oder andere Personen ausdrücklich verneint. Demgegenüber stehen Angaben der Pflegemutter, wonach die Klägerin angegeben habe, von ihrer leiblichen Mutter geschlagen worden zu sein. Insgesamt reichen die Angaben nicht aus, um nichtsexuelle Gewalthandlungen gegen die Klägerin, die geeignet wären dauerhafte Schädigungen hervorzurufen, als relativ wahrscheinlich erscheinen zu lassen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1, Abs. 4 SGG und folgt der Hauptsacheentscheidung.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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