S 2 KR 516/16

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 KR 516/16
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Eine „spezifische Nervenrehabilitation“ als nichtärztliche Leistung ist als neues Heilmittel iS von § 138 SGB V anzusehen und unterliegt daher einem Erlaubnisvorbehalt des Gemeinsamen Bundesausschusses.
2. Nachdem eine positive Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht vorliegt, kann ein Anspruch des Versicherten gegen die Krankenkasse u.a. in Betracht kommen, wenn die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 1 a SGB vorliegen.
3. Es liegt eine wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung iS von § 2 Abs. 1 a SGB vor, wenn die Gefahr besteht, dass der Versicherte auf einem Auge erblindet.
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 27. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. August 2016 verurteilt, dem Kläger für die Behandlung der spezifischen Nervenrehabilitation bei Herrn Dr. E. Kosten in Höhe von 8.878,00 Euro zu erstatten.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Streitig ist die Kostenerstattung für bereits durchgeführte Behandlungen der spezifischen Nervenrehabilitation in der Vergangenheit.

Der Kläger stellte bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer spezifischen Nerven-Reha. Der Antrag erfolgte über den behandelnden Therapeuten, Herrn Dr. E., und ging am 12.11.2015 bei der Beklagten ein. Der Antrag wurde damit begründet, dass der Kläger im September 2015 im Rahmen der operativen Entfernung eines Vestibularisschwannoms eine schwere Facialisparese rechts erlitten habe. Zur spezifischen Nerven-Reha sei der Kläger durch seinen Operateur an Herrn Dr. E. überwiesen worden. Die Praxis von Herrn Dr. E. sei spezialisiert auf die konservative Therapie schwerster peripherer Nervenverletzungen. Der Antrag auf Kostenübernahme müsse in dieser Form gestellt werden aufgrund der noch nicht bestehenden gesetzlichen Aufnahme in den Katalog der Vertragsleistungen der Krankenkasse. Mehrere Krankenkassen hätten jedoch insoweit schon eine positive leistungsrechtliche Beurteilung vorgenommen. Es handle sich um therapeutische und nicht um ärztliche Leistungen.

Mit Bescheid vom 27.11.2015 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Es handle sich um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode, der Bundesausschuss habe die von Herrn Dr. E. beantragte Methode zurzeit noch nicht bewertet. Es wurde eine Stellungnahme des MDK eingeholt. Dieser verwies auf die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Bei unzureichendem Lidschluss sei eine Therapieoption die Oberlidbeschwerung. Die Kosten einer spezifischen Nerven-Reha könnten nicht übernommen werden, da ein relevanter Nutzen gegenüber der primären konservativen Therapie nach ambulanter Heilmittelverordnung (Logopädie und andere Maßnahmen) nicht erkennbar sei.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Die Ausführungen des MDK seien unzutreffend, es handle sich nicht um eine idiopathische Facialisparese sondern um eine direkte Facialisparese. Da die Verletzung sehr schwer sei, sei der Kläger sofort an Herrn Dr. E. verwiesen worden, dieser habe sehr gute Erfahrungen bei derartig schweren Verletzungen gemacht. Es sei nicht nachvollziehbar, warum die Beklagte sich den tatsächlich falschen Aussagen des MDK anschließe und in keiner Weise den Aussagen des Operationsberichtes Glauben schenke. Sein Operateur und Herr Dr. E. hätten ihn persönlich untersucht im Gegensatz zum MDK. Andere Krankenkassen hätten in ähnlichen Fällen bereits Bewilligungen ausgesprochen. Außerdem erfolgte eine weitere Stellungnahme von Herrn Dr. E ... Auch dieser führte aus, dass es sich beim Kläger nicht um eine idiopathische Facialisparese handle, das MDK-Gutachten sei insoweit unzutreffend. Der Kläger habe sich an ihn gewandt, nachdem sich über ein Vierteljahr nach der Operation keinerlei Verbesserungen zeigten. Die Beklagte ließ eine weitere MDK-Begutachtung nach Aktenlage durchführen. Diese kam zum Ergebnis, dass ein Nachweis von Qualität und Wirksamkeit der beantragten spezifischen Nerven-Reha bisher nicht erbracht worden sei. Die Behandlung einer peripheren Facialisparese in Zusammenhang mit einer Tumoroperation bestehe zunächst in der regelmäßigen elektrophysiologischen Kontrolle zur Beurteilung des Spontanverlaufs. Bei fehlender Regeneration kämen operative Verfahren zum Einsatz, unterstützend könnten Heilmitteltherapien erfolgen. Es blieb daher bei der Ablehnung der Kostenübernahme.

Mit Widerspruchsbescheid vom 04.08.2016 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Die Nerven-Reha sei nicht zu Unrecht abgelehnt worden, sie sei nicht Gegenstand des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung.

Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürften nach § 135 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) in der vertragsärztlichen Versorgung nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) sie geprüft und in einer Richtlinie empfohlen hätte. Die hier streitige Therapie habe dieses Anerkennungsverfahren nicht durchlaufen, die Qualität und Wirksamkeit der Maßnahme sei nicht gewährleistet. Auch § 2 Abs. 1a SGB V sei nicht erfüllt, die Voraussetzungen hierfür würden nach dem MDK-Gutachten nicht vorliegen. Es müsste sich um eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung oder zumindest vergleichbare Erkrankung handeln. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Es handle sich nicht um eine Erkrankung mit einem Notstandscharakter.

Hiergegen erhob der Kläger Klage, die Behandlungen bei Herrn Dr. E. seien zur Erhaltung des Gesundheitszustandes dringend notwendig.

Auf Nachfrage des Gerichts teilte der Kläger mit, dass er sich am 09.10.2015 erstmals bei Herrn Dr. E. vorgestellt habe. Die Behandlung habe am 07.12.2015 begonnen. Das Sozialgericht zog Befunde der behandelnden Ärzte bei, außerdem einen Behandlungsbericht von Herrn Dr. E ... Dieser teilte in seinem Befundbericht mit, dass es sich bei den erbrachten Leistungen um derzeit noch nicht verordnungsfähige therapeutische Leistungen handle, die als spezifische Nerven-Reha von ihm entwickelt worden seien. Es handle sich um keine ärztliche Leistung. Er selbst sei kein Arzt sondern klinischer Linguist. Ein Arzt dürfte diese therapeutischen Leistungen nicht erbringen, da er hierfür keine Therapieberechtigung habe. Die Therapie werde formal der Sprachtherapie zugeordnet.

Mit Schreiben vom 04.12.2016 teilte der Kläger mit, dass die Behandlung bei Herrn Dr. E. noch nicht abgeschlossen sei. Die bisher entstandenen Kosten von 7.054 EUR seien bereits an Herrn Dr. E. bezahlt worden. Der Kläger übersandte hierzu die vorliegenden Rechnungen.

Die Beklagte machte geltend, dass sich keine Änderung der Beurteilung ergebe. Die Vor- aussetzungen nach dem SGB V würden nicht vorliegen. Es handle sich nicht um eine lebensbedrohliche Erkrankung, außerdem bestünden konservative Behandlungsmethoden. Eine Leistungspflicht bestehe auch nicht nach § 135 SGB V. Die fehlende Anerkennung einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode sei nicht darauf zurückzuführen, dass das Verfahren vor dem GBA trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen Voraussetzungen nicht oder noch nicht zeitnah durchgeführt wurde. Es fehle bereits an einem Antrag auf Versorgung zulasten der Krankenkasse. Selbst wenn ein Antrag vorliegen würde, würden keine evidenzbasierten Studien vorliegen, die den therapeutischen Nutzen der neuen Methode belegen würden.

Das Sozialgericht veranlasste v.A.w. nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eine Begutachtung auf neurochirurgischem Fachgebiet durch Herrn Dr. G., der den Kläger im April 2017 ambulant untersuchte und im Wesentlichen folgende Gesundheitsstörungen feststellte:

- Zustand nach operativer Komplettresektion eines Akustikusneurinoms rechts, - Anakusis rechts - Tinnitus rechts - inkomplette Gesichtslähmung unter vorwiegendem Befall des Stirnastes rechts als Folge der Operation - rezidivierende Zervikalgien infolge des operativen Zuganges

Herr Dr. G. kam außerdem zum Ergebnis, dass der Kläger zunächst an einer lebensbedrohlichen Erkrankung litt, nämlich einem Tumor im Bereich des kleinen Brückenwinkels. Dieser Tumor hätte vollständig entfernt werden können. Nach den bisher vorliegenden Informationen liege kein erneutes Tumorwachstum vor. Infolge der operativen Tumorentfernung sei es zu einer hochgradigen Schädigung im Sinne einer Verletzung bzw. Dehnung und Ischämie des Nervus facialis gekommen. Diese Verletzung habe zu einem hochgradigen Nutzungsausfall des Nervens geführt. Damit sei der ausreichende Augenlidschluss der rechten Seite unmittelbar nicht mehr gegeben. Ein solcher mangelnder Lidschluss führe zu einer Austrocknung und Zerstörung der Kornea, d.h. letztlich des vorderen Abschnittes des Auges und damit zum Verlust der Sehfähigkeit auf diesem Auge. Durch die Operation und die Tumorentfernung sei der Hörnerv vollständig zerstört. Dieser Hörnervverlust sei nicht reversibel. Für die Behandlung stehe keine allgemein anerkannte befriedigende Möglichkeit zur Verfügung. Beim Kläger handle es sich nicht um eine idiopathische Facialisparese, wie vom MDK angenommen, sondern um eine Nervenverletzung im Rahmen einer Operation. Eine operative Nervenrekonstruktion käme nicht infrage. In den maßgeblichen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie würden kognitive therapeutische Übungen im Rahmen einer Nerven-Reha sowie auch muskuläre Faszikulationen erwähnt und empfohlen. Genau dies werde auch in den therapeutischen Bemühungen von Herrn Dr. E. beschrieben. Außerdem sei festzustellen, dass die Behandlung beim Kläger zu einer Besserung des Lidschlusses und damit perspektivisch zum Erhalt des Augenlichts geführt habe und er darüber hinaus auch Verbesserungen im Mundwinkel- und Wangenbereich erzielen konnte. Es gebe natürlich keine Gegenprobe, um in diesem individuellen Fall herauszufinden, wie sich der Spontanverlauf ohne jedes therapeutische Eingreifen gestaltet hätte; deshalb bleibe es bei einer Beurteilung, die auf Indizien gestützt ist. Zusammenfassend kam Herr Dr. G. zum Ergebnis, dass die spezifische Nerven-Reha bei Herrn Dr. E. eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung bzw. eine spürbare Verbesserung hatte. Aus seiner Sicht sei die beantragte Nerven-Reha medizinisch indiziert und notwendig gewesen.

Der Kläger hat neue Befunde von Herrn Dr. E. vorgelegt vom Juni 2017, es sei eine weitere Nerven-Reha nötig, dabei gehe es um den Ausbau bereits vorhandener nervlicher Leistungen, es bestünde eine gute Prognose.

Die Beklagte teilte mit, dass dem Gutachten von Herrn Dr. G. nicht gefolgt werden könne. Bei Behandlung der Nervus-facialis-Parese handle es sich nicht um eine lebensbedrohliche Erkrankung. Der drohende Sehverlust des betroffenen Auges könne nicht als vergleichbare Erkrankung angesehen werden, es sei nur ein Auge betroffen. Es bestünden außerdem Behandlungsalternativen wie ein Uhrglasverband und das Befeuchten des Auges mit Salben und Tropfen. In der Fachliteratur sei die Qualität und Wirksamkeit der Maßnahme nicht belegt, ein Votum des GBA liege nicht vor. Es könne eine reguläre Heilmittelverordnung nach der Heilmittelrichtlinie erfolgen sowie gegebenenfalls ambulante Reha-Maßnahmen. Die Beklagte stützte sich insoweit erneut auf ein MDK-Gut- achten nach Aktenlage.

Der Kläger teilte auf Nachfrage des Gerichts mit, dass zu den bereits bekannten 7.054 EUR weitere Kosten in Höhe von 1.824 EUR entstanden seien. Die Gesamtkosten der Behandlung bei Herrn Dr. E. beliefen sich daher auf 8.878 EUR, die Behandlung bei diesem sei nun abgeschlossen.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2016 zu verurteilen, ihm für die Behandlung der spezifischen Nervenrehabilitation bei Herrn Dr. E. Kosten in Höhe von 8.878 EUR zu erstatten.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die vorliegenden Akten der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige und insbesondere form- und fristgerechte Klage ist begründet. Der Bescheid vom 27.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Kostenerstattung für die Behandlung der spezifischen Nervenrehabilitation bei Herrn Dr. E. in Höhe von 8.878 EUR. Vorliegend war nur noch die Kostenerstattung in Höhe dieses Betrages streitig, da die Behandlung bei Herrn Dr. E. laut Mitteilung des Klägers nun abgeschlossen ist. Über einen Sachleistungsanspruch für die Zukunft war daher nicht mehr zu entscheiden.

Vorliegend ist ein Kostenerstattungsanspruch in Höhe der geltend gemachten 8.878 EUR nach § 13 Abs. 3 SGB V gegeben. § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V lautet wie folgt:

Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.

Die Regelung hat daher zur Voraussetzung, dass der Versicherte einen Primäranspruch auf die entsprechende Dienst- oder Sachleistung hat. Im Fall des Klägers bestand ein solcher Primärleistungsanspruch bei grundrechtsorientierter Auslegung. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Nach §§ 27 Abs. 1, 32 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Heilmitteln. Bei der streitigen Therapie bei Herrn Dr. E. handelt es sich um ein Heilmittel. Der Anspruch umfasst nur solche Leistungen, die ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen, § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V. Insoweit ist vorliegend § 138 SGB V von Bedeutung, wonach neue Heilmittel nur verordnet werden dürfen, wenn der GBA zuvor ihren therapeutischen Nutzen anerkannt hat. Neu ist ein Heilmittel dann, wenn es bisher nicht Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung gewesen ist, was sich daran zeigt, ob es in den vom GBA erlassenen Heilmittel-Richtlinien aufgeführt ist oder nicht. Die Leistungspflicht der Krankenkasse setzt voraus, dass der GBA eine positive Entschei- dung über das streitige Hilfsmittel getroffen hat. Vorliegend handelt es sich um ein neues Heilmittel, für das eine solche positive Entscheidung des GBA nicht vorliegt.

Demnach käme eine Kostenerstattung für die hier durchgeführten Behandlungen der spezifischen Nervenrehabilitation nicht in Betracht. Die Rechtsprechung erkennt jedoch Ausnahmen zum Erfordernis der vorherigen Anerkennung durch den GBA an, u.a. dann, wenn es sich um eine notstandsähnliche Situation nach § 2 Abs. 1a SGB V handelt. Vorliegend ergibt sich daher ein Anspruch des Klägers auf Kostenerstattung aufgrund von § 2 Abs. 1a SGB V. Diese Regelung beruht auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- gerichts (BVerfG) zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung im Falle einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder einer vergleichbaren Erkrankung (BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005,1 BVR 347/98).

Mit dieser Regelung hat daher der Gesetzgeber den Anforderungen des BVerfG an eine grundrechtsorientierte Auslegung der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung im Falle einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen oder zumindest wertungsgemäß vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung stand, Rechnung getragen.

§ 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V lautet wie folgt: Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsgemäß vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, können auch eine von § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Auch nach der Rechtsprechung des BVerfG kann im Einzelfall ein Anspruch hinsichtlich einer neuen Behandlungsmethode bestehen unter folgenden Voraussetzungen:

Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor bzw. eine wertungsgemäß vergleichbare Erkrankung, bezüglich dieser Erkrankung steht eine allgemein anerkannte dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung und bezüglich der beim Versicherten angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode besteht eine auf Indizien gestützte nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.

Vorliegend sind diese Voraussetzungen erfüllt. § 2 Abs. 1a SGB V ist auch im Fall eines neuen Heilmittels nach § 138 SGB V zu prüfen. Der Kläger hatte an einem Tumor im Bereich des Kleinhirnbrückenwinkels gelitten, der unbehandelt bei weiterem Wachstum zu einer Kompression, d.h. Quetschung des Hirnstammes und damit des lebenswichtigen Atem- und Kreislaufzentrums geführt hätte. Dieser Tumor konnte vollständig entfernt werden. Im Rahmen der Operation kam es jedoch zu einer hochgradigen Schädigung im Sinne einer Verletzung/Dehnung/traumatischen Ischämie des Nervus facialis, wobei es zu einem hochgradigen Funktionsausfall des Nervens kam. Dies führte dazu, dass der ausreichende Augenlidschluss rechts unmittelbar nicht mehr gegeben war. Beim Kläger bestand als Folge der Operation daher kein ausreichender Lidschluss des rechten Auges mehr. Infolgedessen hätte es zu einem Verlust der Sehfähigkeit auf dem rechten Auge kommen können. Insoweit handelt es sich zwar nicht um eine lebensbedrohliche Erkrankung. Es liegt jedoch nach Auffassung des Gerichts eine wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V vor, nachdem die Gefahr bestanden hat, dass der Kläger auf einem Auge erblindet. Mit dem Anspruch des Versicherten auf sein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG) ist es nach Auffassung des Gerichts unvereinbar, wenn die Beklagte insoweit nicht von einer vergleichbaren Erkrankung ausgeht und auf die Sehfähigkeit des verbleibenden Auges verweist, wenn hier noch Aussichten bestanden, dass eine Heilung des betroffenen Auges eintreten kann. Insoweit lag daher eine wertungsgemäß vergleichbare Erkrankung im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V vor. Die Beklagte kann nicht darauf verweisen, dass nur ein Auge betroffen war und es nicht zu einem vollständigen beidseitigen Verlust der Sehkraft gekommen wäre.

Auch bestand bezüglich der Erkrankung des Klägers keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung. Herr Dr. G. hat nachvollziehbar dargelegt, dass rekonstruktive Möglichkeiten beispielsweise eines Nerventransfers von der Gegenseite oder vom Zungennerven sich nicht anboten. Eine operative Nervenrekonstruktion kam nicht infrage. Entscheidend ist, dass es sich beim Kläger nicht um eine idiopathische Facialisparese, sondern um eine Nervenverletzung im Rahmen einer Operation durch Dehnung, Minderdurchblutung und Nervenfaserdurchtrennung handelte. Insoweit sind hinsichtlich der Therapiemöglichkeiten die aktuellen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Handchirurgie, Neurologie, Neurochirurgie, Orthopädie und orthopädische Chirurgie, plastische rekonstruktive und ästhetische Chirurgie, Unfallchirurgie unter Beteiligung der Deutschen Gesellschaft für klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung, der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Handtherapie, des Deutschen Verbandes der Ergotherapeuten und des Deutschen Verbandes für Physiotherapie sowie der Physiotherapeuten und Krankengymnasten heran zu ziehen. Insoweit ist zwar zu berücksichtigen, dass in den Leitlinien der konkrete Fall des Klägers, d.h. des Nervus facialis bei einer Tumorchirurgie nicht erwähnt wird, es sind jedoch Therapieempfehlungen von Nervenverletzungen vorhanden, die auch nach Auffassung des Gerichts auf den Kläger übertragen werden können. Herr Dr. G. weist überzeugend darauf hin, dass in den Leitlinien kognitiv therapeutische Übungen im Rahmen einer Nervenrehabilitation sowie auch muskuläre Faszikulationen erwähnt und empfohlen werden. Die streitige Therapie, die bei Herrn Dr. E. durchgeführt wurde, entspricht diesen erwähnten therapeutischen Übungen. Zur Überzeugung des Gerichts steht aufgrund des schlüssigen Gutachtens von Herrn Dr. G. daher fest, dass die streitige Behandlung medizinisch indiziert und notwendig war und der Kläger nicht auf andere allgemein anerkannte und dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungen verwiesen werden konnte. Die Beklagte kann daher nicht lediglich darauf verweisen, dass Behandlungsalternativen wie ein Uhrglasverband und Befeuchten des Auges mit Salben und Tropfen ausreichend bzw. dass postoperativ eine reguläre Heilmitteltherapie nach der Heilmittelrichtlinie ausreichend gewesen wäre. Auch aus dem Befundbericht von Herrn Dr. E. ergibt sich nachvollziehbar, dass keine Behandlungsalternativen zur Verfügung standen.

Schließlich bestand bezüglich des vom Versicherten angewandten Heilmittels bei Herrn Dr. E. eine auf Indizien gestützte und nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Es bestand bei prognostischer Betrachtung eine auf Indizien gestützte Aussicht auf Erfolg, der voraussichtliche Nutzen überwog die möglichen Risiken. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass, je schwerwiegender die Erkrankung und hoffnungsloser die Situation ist, desto geringer die Anforderungen an die ernsthaften Hinweise auf einen nicht ganz entfernt liegenden Behandlungserfolg sind. Wie bereits ausgeführt, sind in den entsprechenden Leitlinien kognitiv therapeutische Übungen im Rahmen einer Nervenrehabilitation und auch muskulär erfasste Faszikulationen erwähnt; dies entspricht den Übungen, die auch von Herrn Dr. E. vorgenommen wurden. Insoweit bestand auch eine auf Indizien gestützte und nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung in dem Sinne, dass es zu einer Besserung des Lidschlusses und damit zu einem Erhalt des Augenlichts kommen könnte. Diese Prognose hat sich auch bestätigt, da es infolge der Behandlung bei Herrn Dr. E. zu einer Besserung des Lidschlusses und damit zum Erhalt des Augenlichts sowie darüber hinaus auch zu Verbesserungen im Mundwinkel- und Wangenbereich kam. Herr Dr. G. hat zwar darauf hingewiesen, dass zwar nicht festgestellt werden kann wie sich der Spontanverlauf ohne jedes therapeutisches Eingreifen gestaltet hätte. Dies ist jedoch nicht ausschlaggebend, da es darauf ankommt, ob es anhand der beantragten Therapie bei Herrn Dr. E. eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitszustand gab. Diese Aussicht war nach Auffassung des Gerichts vorliegend gegeben.

Insgesamt lag zur Überzeugung des Gerichts genau die Konstellation vor, für die auch das BVerfG im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Extremsituationen einer krankheitsbedingten Lebensgefahr oder wertungsgemäß vergleichbaren Erkrankung Alternativbehandlungen im Einzelfall zulassen wollte.

Insgesamt lag daher ein Primäranspruch des Klägers gegen die Beklagte vor.

Im vorliegenden Fall sind auch die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V erfüllt. Ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V ist nur gegeben, wenn entweder die Krankenkasse die Leistung zu Unrecht abgelehnt hat oder die Leistung unaufschiebbar war. Vorliegend handelte es sich um den Fall, dass die Krankenkasse die Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. Der Ablehnungsbescheid datiert vom 27.11.2015. Der Kläger hat erst nach dieser Ablehnung, d.h. am 07.12.2015 mit der Behandlung begonnen. Der Beschaffungsweg im Sinne von § 13 Abs. 3 SGB V ist daher eingehalten, der Kläger war nicht verpflichtet, auch noch das Widerspruchsverfahren abzuwarten (LSG Baden-Württemberg, 22.10.2013, L 13 R 2947/12). Insoweit sind sämtliche Voraussetzungen für den Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V erfüllt. Der Kläger hat entstandene Kosten für die Behandlung bei Herrn Dr. E. wegen der spezifischen Nervenrehabilitation in Höhe von 8.878 EUR anhand der vorgelegten Rechnungen nachgewiesen.

Insgesamt waren daher die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V in Höhe des geltend gemachten Betrages von 8.878 EUR gegeben. Die Beklagte hat dem Kläger diesen Betrag zu erstatten.

Nach alledem war die Klage begründet.

Folglich hat die Beklagte die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen, § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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