S 9 U 84/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 9 U 84/03
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 15 U 103/05
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1.Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 01.04.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.08.2003 verurteilt, dem Kläger wegen der bei ihm vorliegenden Berufskrankheit nach Ziffer 1303 BKV (Non-Hodgkin-Lymphom) Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. 2. Die Beklagte trägt die Kosten.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die chronisch-lymphatische-Leukämie (CLL) des Klägers als Berufskrankheit anzuerkennen ist.

Der am 00.00.1947 geborene Kläger beantragte nach Feststellung der Erkrankung durch den Hämatologen I die Anerkennung als Berufskrankheit (Bk). Bei seiner Tätigkeit bei der Firma Q M-Union als Mechaniker sei er mit der Instantsetzung und Überholung von Kraftstoffregelgeräten betraut und deshalb ständig Kraftstoffen, Schmiermitteln und Kadmium ausgesetzt gewesen.

Am 20.11.2002 erstattete K Bk-Verdachtsanzeige (Erkrankungen durch Benzol, Bk Ziffer 1303 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung – BKV -) wegen eines zur Zeit erscheinungsfreien und nicht behandlungsbedürftigen Non-Hodgkin-Lymphoms.

Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten ermittelte die Belastungen am Arbeitsplatz und verneinte zunächst eine ausreichende Einwirkung. Nach Auswertung des Vorerkrankungsverzeichnisses und des TAD-Berichts empfahl der Beratungsarzt Internist/Allergologe L, den Kausalzusammenhang zwischen Erkrankung und beruflicher Tätigkeit zu verneinen, da angesichts der geringen Belastung von ca. 8 ppm-Jahren eine berufliche Verursachung nicht wahrscheinlich sei. Die Beklagte lehnte die Anerkennung einer Berufskrankheit ab (Bescheid vom 01.04.2003).

Den hiergegen eingelegten Widerspruch begründete der Kläger damit, das die Dosisbelastungsberechnung fehlerhaft sei, weil auch die Hautreinigung mit Superbenzin erfolgt sei. Wegen der Bk bestehe Arbeitsunfähigkeit, so dass Verletztengeld zu zahlen sei. Hierzu führte der TAD der Beklagten aus, dass sich im schlechtesten möglichen Fall durch die Verwendung von Superbenzin zur Hautreinigung die Belastung auf maximal 18,3 ppm-Jahre erhöhe. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Bescheid vom 15.08.2003).

Mit der Klage führt der Kläger aus, er sei neben Benzol auch Asbest ausgesetzt gewesen. Die zutreffende Belastungsermittlung erfordere im Übrigen größeren Aufwand, als die Beklagte ihn betrieben habe. Die Überprüfung anderer Bk-Ziffern und eine Entschädigung "wie bei einer Bk" sei unterblieben. Er bezog sich im Übrigen auf den Aufsatz von X u. a. (Zbl Arbeitsmed 2003, 126 – 150): "Benzol als Ausnahmekanzerogen ...".

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 01.04.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.08.2003 zu verurteilen, dem Kläger wegen der bei ihm vorliegenden Berufskrankheit (Non-Hodgkin-Lymphom) die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens nach § 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von X (Gutachten vom 28.06.2004), zu dem für die Beklagte L erneut Stellung genommen hat. Gegenstand der mündlichen Verhandlung war außerdem die Vorabveröffentlichung des BIA-Reports "Leukämie und Benzolexposition" des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften von Oktober 2002 und das Merkblatt Berufskrankheiten 026/2004 zur Bk Nr. 1303 vom 25.08.2004 (ebenfalls Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften). Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten von X Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig. Beim Kläger ist eine Bk nach Ziffer 1303 der Anlage zur BKV (Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder durch Styrol) anzuerkennen.

Die Feststellung einer Bk setzt grundsätzlich voraus, dass zum einen in der Person des Versicherten die sogenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen gegeben sind, d. h. dass er im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit schädigenden Einwirkungen im Sinne der Bk ausgesetzt gewesen ist, die geeignet sind, einen entsprechenden Gesundheitsschaden zu bewirken (haftungsbegründende Kausalität). Zum anderen muss ein Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung bestehen (haftungsausfüllende Kausalität – vgl. zum Vorstehenden Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheitenverordnung, E § 9 SGB VII, Rdnr. 14). Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit – nicht allerdings die bloße Möglichkeit – ausreicht.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind im Falle des Klägers die Voraussetzungen für die Anerkennung und Entschädigung einer Bk Nr. 1303 der Anlage zur BKV erfüllt. Beim Kläger besteht eine CLL; da die Bk Ziffer 1303 die zu entschädigenden Erkrankungen der Art nach nicht näher eingrenzt, kommt eine Anerkennung als Bk in Betracht, wenn der Kausalzusammenhang zwischen dieser Erkrankung und der beruflichen Tätigkeit des Klägers hinreichend wahrscheinlich ist. Dies ist hier der Fall.

Entgegen der Darstellung von L in seiner Stellungnahme vom 21.09.2004 ist es Stand der Wissenschaft, dass zumindest ab einer Benzol-Exposition von etwa 50 ppm-Jahren eine Risikoverdoppelung für die Entwicklung von Tumoren des weißen Blutsystems eintritt (so z. B. das von L vorgelegte Gutachten von K vom 18.10.2000). Beim Kläger ist diese Belastung überschritten worden. Wie sich auf vom Sachverständigen angeregte Nachfrage beim TAD der Beklagten herausgestellt hat, waren der Berechnung teilweise Tagesbelastungen als Jahresdosis zugrunde gelegt worden, so dass sich nach erneuter Überprüfung eine Gesamt-Dosis von 74,2 ppm-Jahren ergab (Stellungnahme vom 26.04.2004). Auf den in der medizinischen Wissenschaft geführten Streit, ob auch Belastungen unter 50 ppm-Jahren die arbeitstechnischen Voraussetzungen einer Bk Ziffer 1303 erfüllen können, kommt es deshalb hier nicht an. Im Übrigen wird aus dem Gutachten des Sachverständigen X und den von L übersandten Unterlagen deutlich, dass sich bei einer summarischen Betrachtung aller bösartigen hämatologischen Erkrankungen als gemeinsame Krankheitskategorie bei einer kumulativen Benzoldosis von über 40 ppm-Jahren ein statistisch erhöhtes relatives Risiko von über 2 zeigt (so ausdrücklich C in seinem von L als Anlage zu seiner ergänzenden Stellungnahme übersandten Gutachten vom 18.04.2002 in anderer Sache).

Nach Auffassung der Kammer kann nach gegenwärtigem Stand nur diese generelle Betrachtungsweise zugrunde gelegt werden, so dass hinreichende Wahrscheinlichkeit der Verursachung zu bejahen ist. Demgegenüber hat L unter Bezugnahme auf die von ihm übersandten Gutachten und weitere Literaturstellen darauf abgestellt, dass es auf die Tumorentität ankomme und dass insbesondere für sog. periphere Leukämien, zu denen auch CLL zählt, eine entsprechende statistische Wahrscheinlichkeit bisher nicht nachgewiesen sei. Für eine derartige Einschränkung des statistisch gesicherten Zusammenhangs auf einzelne Tumorformen sieht die Kammer aber gegenwärtig keinen Anhaltspunkt. Nach der von L vorgelegten Veröffentlichung von Harth u. a. (Morbus Hodgkin durch chronische Benzol-Exposition?, 2003) ist eine Ergänzung des Merkblattes zur Bk Ziffer 1303 durch den zuständigen Sachverständigenrat dahingehend zu erwarten, dass alle Non-Hodgkin-Lymphome – also auch die peripheren – bei geeigneter Benzolbelastung zur Anerkennung als Berufskrankheit vorgeschlagen werden sollen. Nach dem von der Beklagten vorgelegten Rundschreiben Berufskrankheiten 026/2004 und dem BIA-Report "Leukämie und Benzolexposition, 2002" sind die vorliegenden epidemiologischen Studien aufgrund der Tatsache, dass die heute übliche Klassifikation der malignen Lymphome in verschiedene Untertypen sich erst in den 90er Jahren entwickelt hat kaum geeignet, eine Unterscheidung nach Lymphom-Subtypen vorzunehmen. Soweit eine solche Unterscheidung vorgenommen wurde, betraf sie Studien aus der Erdölindustrie, die zwar ein erhöhtes Risiko für CLL nicht erkennen ließen, aber auch insgesamt regelmäßig nur Risiken um 1 ergaben, also auch für andere Leukämiearten kein erhöhtes Risiko (vgl. BIA-Report Seite 50, Seite 68). Hiernach ist eine Differenzierung nach Leukämieart aufgrund der in der Vergangenheit erhobenen Studien nicht möglich (a. a. O., Seite 68). Die Kammer folgt deshalb dem Sachverständigen X dahingehend, dass aufgrund der hohen kumulativen Benzoleinwirkung, fehlender Hinweise für eine überwiegende Teilursächlichkeit anderer Risiken (etwa Rauchen), der Übereinstimmung mit den allgemeinen arbeitsmedizinischen Erfahrungswerten bei ähnlichen Erkrankungsfällen im Hinblick auf die Dauer der Gefahrstoffeinwirkung und die Latenz zum Auftreten der Erkrankung, die langjährig wiederkehrenden Spitzeneinwirkungen und die kombiniert inhalative und dermale Gefahrstoffexposition beim Kläger eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für den Zusammenhang zwischen Erkrankung und beruflicher Exposition zu bejahen ist. Die Kammer hat dabei auch berücksichtigt, dass nach den statistisch belegten Darlegungen von X CLL eine typische Alterserkrankung ist mit einem sprunghaften Anstieg der Inzidenz jenseits 60 Jahre, wenn auch der Kläger – bei Erkrankungsbeginn 55 – bereits einer Altersgruppe mit erhöhtem Erkrankungsrisiko angehört.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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