S 13 KR 21/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KR 21/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 16 KR 99/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 06.07.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.10.2004 verurteilt, den Kläger mit der Sondernahrung "Fresubin" nach ärztlicher Verordnung zu versorgen und ihm die seit Juli 2004 aufgewandten Kosten für die Selbstbeschaffung der Sondernahrung in Höhe von 715,79 EUR zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Versorgung mit der Krankenkostnahrung Fresubin sowie die Erstattung der hierfür seit Juli 2004 aufgewandten Selbstbeschaffungskosten in Höhe von 715,79 EUR.

Der am 00. 00.1933 geborene Kläger wurde im April 2002 wegen eines Tonsillenkarzinoms operiert. Seitdem besteht u.a. eine - inzwischen ausgeprägte - Schluckstörung bei Xerostomie (Trockenheit der Mundhöhle). Bis Juli 2004 gewährte die Beklagte Trinknahrung nach ärztlicher Verordnung. Diese wurde (und wird) vom Kläger oral, nicht per Sonde eingenommen.

Am 04.05.2004 beantragte der Kläger die weitere Übernahme der Kosten für die Flüssignahrung Fresubin unter Vorlage einer Bescheinigung des Internisten H vom 23.04.2004. Die Beklagte holte eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein. U stellte am 28.06.2004 fest, es liege keine Ausnahmeindikation nach den Arzneimittelrichtlinien (AMR) vor; eine Verordnung von Trinknahrung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung sei nicht möglich. U verwies auf selbst zubereitete hochkalorische Getränke wie z.B. Nesquick und Bananenmilch.

Gestützt hierauf lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 06.07.2004 die weitere Gewährung von Trinknahrung ab.

Dagegen erhob der Kläger am 20.07.2004 Widerspruch. Er meinte, aus medizinischer Sicht sei Trinknahrung wie Fresubin unbedingt erforderlich. Er verwies auf ein Attest von W vom 06.08.2004; darin heißt es, dass beim Kläger eine ausreichende Nahrungszufuhr aufgrund der massiven postradiogenen Xerostomie nicht möglich und daher aus medizinischen Gründen eine Ernährung mit Flüssigkost zwingend erforderlich sei.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 25.10.2004 zurück mit der Begründung, eine Ausnahmeindikation nach Ziffer 20.1 Buchstabe i) AMR, die eine Verordnung des Krankenkostpräparates Fresubin ermögliche, bestehe nicht.

Dagegen hat der Kläger am 00.00.0000 Klage erhoben. Er trägt vor, in der Zeit von September 2002 bis Juni 2004 täglich zunächst vier Flaschen, später drei Flaschen der Trinknahrung Fresubin zu sich genommen zu haben. Nachdem die Beklagte die weitere Kostenübernahme abgelehnt habe, sei Fresubin nicht mehr verordnet worden. Er habe sich daraufhin die Trinknahrung auf eigene Kosten beschafft, da er andere Nahrung nicht aufnehmen könne. Er habe allerdings aus finanziellen Gründen die tägliche Menge auf zwei Flaschen Fresubin reduziert. Infolge dessen sei er körperlich außerordentlich geschwächt worden; er vermute, dass dies auch der Grund für den Schwächefall und den schweren Sturz im Dezember 2004 gewesen sei, bei dem er sich erheblich verletzt habe. Der Kläger hat eine Bescheinigung der Klinik für Zahn-, Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums der RWTH Aachen vom 01.04.2005 vorgelegt. Danach sehen die Ärzte im Hinblick auf die bestehenden Gesundheitsstörungen zu einer dauerhaften Verordnung von Flüssigkost (z.B. Fresubin) keine Alternative; sie bezeichnen die Aufnahme dieser Flüssigkost als eine notwendige Maßnahme.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 05.07.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.10.2004 zu verurteilen, ihn mit ärztlich verordneter Sondennahrung "Fresubin" zu versorgen und ihm die hierfür seit Juli 2004 aufgewandten Kosten in Höhe von 715,79 EUR zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verbleibt bei ihrer in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Rechtsauffassung und verweist zur Begründung auf weitere Stellungnahmen des MDK-Arztes U vom 11.02., 03.03. und 09.03.2005.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakt der Beklagten, die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide beschwert, weil diese rechtswidrig sind. Zu Unrecht hat die Beklagte es abgelehnt, den Kläger (weiterhin) mit Trink- und Sondennahrung zu versorgen. Denn die bis Juni 2004 verordneten Krankenkostpräparate sind auch über diesen Zeitpunkt hinaus von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst. Der Anspruch des Klägers ergibt sich §§ 27 Abs. 1 Satz 2, 31 Abs. 1 Satz 2, 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) i.V.m. Abschnitt G. (Verordnungseinschränkungen aufgrund §§ 2 Abs. 1 Satz 3, 12, 70 SGB V und zugelassene Ausnahmen) Ziffer 20.1 der "Richtlinien über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung" (Arzneimittel-Richtlinien – AMR) in der Fassung vom 01.10.1997 (BAnz Nr. 9 (1998), S. 372) und der Bekanntmachung vom 16.03.2004 (BAnz Nr. 77, S. 8905).

Bei der in Rede stehenden Trink- und Sondennahrung handelt es sich nicht um ein apothekenpflichtiges Arzneimittel (vgl. § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V), sondern um ein Krankenkostpräparat, das grundsätzlich von der Verordnung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen ist. Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 2 hat jedoch der Gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB VI festzulegen, in welchen medizinischen notwendigen Fällen Aminosäuremischungen, Eiweißhydrolysate, Elementardiäten und Sondennahrung ausnahmsweise in die Versorgung mit Arzneimitteln einbezogen werden. Die auf der Grundlage des § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V erlassenen AMR regeln als untergesetzliche Rechtsnormen den Umfang und die Modalitäten der Arzneimittelversorgung mit verbindlicher Wirkung auch für die Versicherten (BSGE 81, 73 = SozR 3-2500 § 92 Nr. 7; BSGE 81, 240 = SozR 3-25000 § 27 Nr. 9).

Die Versorgung mit dem Krankenkostpräparat Fresubin war und ist wegen der beim Kläger bestehenden Schluckstörung bei ausgeprägter radiogener Xerostomie medizinisch zwingend indiziert. Dies ergibt sich aus den Bescheinigungen von W vom 06.08.2004 und den Ärzten der Klinik für Zahn-, Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie der RWTH Aachen vom 01.04.2005. Es handelt sich bei dem Krankenkostpräparat um "Sondennahrung" im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V und Ziffer 20. 1 Buchstabe i) AMR. Dieser Begriff umfasst das gesamte Spektrum der Trink- und Sondennahrung, die geeignet ist, als künstliche enterale Ernährung verabreicht zu werden, sei es als orale Trinknahrung, sei es durch Applikation über eine Sonde. Die von der Beklagten und auch vom Bundesausschuss in diese Formulierung hineingelesene begriffliche Einschränkung, wonach die Applikation über eine Sonde Voraussetzung für die Verordnungsfähigkeit zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung sein soll, lässt sich weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck der Regelung entnehmen (vgl. dazu ausführlich: LSG, Urteil vom 11.07.2002 – L 2 KN 159/99 KR). Der Umfang der Leistungspflicht wird in Zukunft durch die ärztlich verordnete Menge der Krankenkost begrenzt.

Soweit sich der Kläger die Trinknahrung seit April 2004 selbst beschafft hat, hat die Beklagte die vom Kläger dafür aufgewandten Kosten in Höhe von 715,79 EUR gemäß § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V zu erstatten, weil die Beklagte die entsprechende Sachleistung zu Unrecht abgelehnt hat. Dem Erstattungsanspruch steht nicht entgegen, dass der Kläger sich die Trinknahrung ohne ärztliche Verordnung beschafft hat. Denn die Verordnungsfähigkeit der Präparate war gerade Gegenstand dieses Rechtsstreits; nach der ablehnenden Entscheidung der Beklagten vom 06.07.2004 mussten die behandelnden Ärzte zunächst davon ausgehen, dass sie das Krankenkostpräparat nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnen durften. Der Kläger konnte sich gleichwohl Trinknahrung beschaffen, da sie nicht verschreibungspflichtig ist. Da er weniger als die von den Ärzten für erforderlich gehaltene Menge gekauft hat, ist die Höhe des Erstattungsanspruchs auch unter Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten begründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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