S 9 (14) U 13/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 9 (14) U 13/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 4 U 25/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist, ob dem Kläger ab 01.07.2005 Dauerrente wegen der Folgen des Unfalls vom 07.01.2003 zusteht.

Der 60 Jahre alte Kläger hatte am 07.01.2003 einen Unfall, als er auf vereistem Untergrund ausrutschte und auf die rechte Hüfte fiel. Hierbei zog er sich einen Schenkelhalsbruch rechts zu (Durchgangsarztbericht Dr. Q.).

Dr. Q. erstellte unter dem 17.07.2003 auch das erste Rentengutachten. Dort berichtete der Kläger über zunehmende Hüftschmerzen beim Treppensteigen, die Beweglichkeit der rechten Hüfte und das Gangbild fand Dr. Q. normal vor, Coxarthrosezeichen seien im Röntgenbild nicht zu erkennen. Unfallfolgen seien eine Minderbelastbarkeit des rechten Beines, eine erhebliche Muskelminderung und glaubhafte Beschwerden, die MdE betrage 20 % ab 17.06.2003. Auf Nachfrage durch die Beklagte, dass die Bemessung der MdE nicht nachvollziehbar sei, teilte Dr. Q. mit, die 20 %ige-MdE bestehe voraussichtlich nur für ein halbes Jahr. Der Beratungsarzt der Beklagten sah demgegenüber keine wesentlichen Unfallfolgen mehr als gegeben an, über den 15.06.2003 hinaus liege keine MdE von mehr als 10 % vor. Die Beklagte verneinte einen Rentenanspruch des Klägers (Bescheid vom 26.09.2003).

Auf den Widerspruch des Klägers holte die Beklagte ein weiteres Gutachten des Chirurgen Dr. C. ein (vom 19.12.2003). Danach bestand beim Kläger eine gut verheilte Narbe, eine stark auffällige Muskelverschmächtigung (6 cm am rechten Oberschenkel) sowie eine deutliche Funktionsbehinderung im Vergleich zu links (Streckung/Beugung 5-0-90, Einschränkung auch der anderen Hüftgelenksfunktionen). Die MdE betrage 20 %. Die Beklagte half dem Widerspruch ab und bewilligte vorläufige Rente nach einer MdE um 20 % (Bescheid vom 28.01.2004).

Vom 20.01. bis 10.02.2005 war der Kläger aus nicht unfallbedingten Gründen in einem Rehabilitationsverfahren in Bad T ... Dort wurden die Diagnosen: chronische Bronchitis, Halswirbelsäulen/Lendenwirbelsäulensyndrom, Bluthochdruck, Artherosklerose der Extremitätenarterien mit Ischämieschmerz bei Belastung, Urticaria (steroid behandelt) gestellt. Ein Hüftleiden ist unter den Diagnosen und beim Rehabilitationsergebnis nicht erwähnt, der Kläger äußerte allerdings Beschwerden in der rechten Hüfte nach längerem Gehen oder Sitzen; daneben bestand eine Claudicatio-Symptomatik (Schaufensterkrankheit) mit Limitierung der Gehstrecke auf 300 m. Coxarthrosezeichen fanden sich nicht.

Ein weiteres von der Beklagten eingeholtes Gutachten von Dr. C. empfiehlt die Einschätzung der MdE mit 20 % bis zur Dauerrente (ohne nähere Zeitangabe), dann 10 % aufgrund einer schmerzhaften Funktionsbehinderung der rechten Hüfte (Streckung/Beugung 0-0-90) und einer Muskelminderung des rechten Oberschenkels um 5,5 cm. Der Beratungsarzt Chirurg Dr. N. merkte dazu an, die MdE um 20 % sei bisher schon erstaunlich gewesen, wesentliche Unfallfolgen seien nicht mehr vorhanden. Bei freier Einschätzung sei von einer MdE um 10 % auszugehen. Die Beklagte entzog die vorläufige Rente mit Ablauf des Monats Juni 2005 und lehnte die Bewilligung einer Dauerrente ab (Bescheid vom 13.06.2005).

Seinen Widerspruch begründete der Kläger damit, er habe immer häufiger und stärkere Schmerzen und sei auch psychisch hierdurch belastet. Ein Hausarztattest bescheinigt eine reaktive Depression bei chronischen Schmerzen wegen der beim Kläger bestehenden multiplen chronischen Erkrankungen.

Die Beklagte führte eine weitere Begutachtung durch. Zusatzgutachter Neurologe Dr. F. kam zu dem Ergebnis, dass seelische Störungen beim Kläger nicht unfall- sondern persönlichkeitsbedingt seien. Die neurologisch-/psychiatrische MdE liege unter 10 %. Orthopäde Dr. S. ermittelte eine Funktionsbehinderung im Hüftgelenk für Streckung und Beugung von 0-0-60°, bei weiter bestehender Muskelverschmächtigung um 6 cm im rechten Oberschenkel liege die MdE bei 10 %. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Bescheid vom 20.01.2006). Der Bescheid vom 13.06.2005 sei nicht zu beanstanden und die darin festgestellten Unfallfolgen (knöchern fest verheilter Bruch des rechten Oberschenkels mit Muskelminderung des Beines, endgradiger Bewegungseinschränkung des Hüftgelenkes, Gang- und Standbehinderung sowie subjektiven Restbeschwerden) vollständig berücksichtigt.

Hiergegen richtet sich die Klage.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Zusatzgutachtens von Dr. O. mit neurologisch/psychiatrischem Zusatzgutachten von Dr. C ... Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf diese Gutachten Bezug genommen.

Der Kläger sieht sich in seiner Auffassung, dass ihm weiter Rente zu zahlen sei durch das Ergebnis der Beweisaufnahme bestätigt. Dr. O. habe in Übereinstimmung mit einigen der im Verwaltungsverfahren gehörten Vorgutachter eine MdE um 20 % angenommen. Seine MdE-Einschätzung sei auch überzeugend, da ein Streckdefizit des Hüftgelenkes bestehe. Die Muskelverschmächtigung sei selbstverständlich unfallbedingt und nicht auf die unfallunabhängige arterielle Verschlusskrankheit zurückzuführen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, unter Aufhebung ihres Bescheides vom 13.06.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.01.2006 dem Kläger Dauerrente ab 01.07.2005 unter Zugrundelegung einer MdE von 20 % zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte sieht nach Einholung einer beratungsärztlichen Stellungnahme von Dr. M. (vom 15.08.2006) das Gutachten von Dr. O. als nicht überzeugend an und vermag ihm auch unter Berücksichtigung seiner ergänzenden Stellungnahme vom 08.12.2006 nicht zu folgen. Aus beigezogenen Akten der Versorgungsverwaltung ergebe sich, dass schon vor dem Unfall im Jahr 2002 eine eingeschränkte Beweglichkeit gerade der rechten Hüfte bei Coxarthrose beschrieben wurde. Das versorgungsärztliche Gutachten vom 15.04.2002 beschreibe eine Muskelminderung des rechten Beines um 5,5 cm, vermutlich entzündlicher Ursache. Hierauf gehe Dr. O. leider nicht ein. Die von ihm erhobenen Befunde rechtfertigten eine MdE von 20 % nicht, insbesondere sei das von Dr. O. angegebene Streckdefizit von 15° funktionell nicht bedeutsam.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Dem Kläger steht über den 30.06.2005 hinaus keine Rente wegen der Folgen des Unfalls vom 07.01.2003 zu, weil eine MdE um 20 % nicht erreicht wird. Dabei kommt es nicht darauf an, ob in den Unfallfolgen eine Besserung eingetreten ist oder nicht.

Anspruch auf Rente besteht, wenn der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) über die 26. Woche nach Eintritt des Arbeitsunfalles hinaus andauert und die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 20 % gemindert ist (§ 56 Abs. 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch - SGB VII -). Während der ersten 3 Jahre nach dem Versicherungsfall soll der Unfallversicherungsträger die Rente als vorläufige Entschädigung festsetzen, wenn der Umfang der MdE noch nicht abschließend festgestellt werden kann (§ 62 Abs. 1 S. 1 SGB VII). Dies ist hier geschehen. Spätestens mit Ablauf von drei Jahren - also möglicherweise, wie hier, auch früher - nach dem Versicherungsfall wird die vorläufige Entschädigung als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet. Bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung kann der vom Hundert-Satz der Minderung der Erwerbsfähigkeit abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben (§ 62 Abs. 2 SGB VII).

Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass in der Regel die der Feststellung einer vorläufigen Rente zugrunde gelegten MdE-Sätze im Interesse der Versicherten höher liegen, als dies bei der Dauerrente der Fall ist (Kasseler Kommentar/Ricke, Rdnr. 11 zu § 62 SGB VII). Die Beklagte war demnach nicht gehindert, im Anschluss an die Begutachtung bei Dr. C. über die Bewilligung einer Rente auf unbestimmte Zeit zu entscheiden und, soweit sich bei der dann zulässigen freien Einschätzung der MdE ein MdE-Grad unter 20 ergab mit der Ablehnung der Rente auf unbestimmte Zeit den Entzug der vorläufigen Rente verbinden (Kasseler Kommentar/Ricke, Rdnr. 12 zu § 62 SGB VII).

Zutreffend ist die Beklagte davon ausgegangen, dass die Unfallfolgen beim Kläger keine MdE um 20 % mehr verursachen. Psychische Unfallfolgen liegen beim Kläger nicht vor. Dies ergibt sich zur Überzeugung der Kammer aus dem neurologisch/psychiatrischen Gutachten von Dr. C. , ebenso wie aus dem urkundsbeweislich verwerteten neurologisch/ psychiatrischen Gutachten im Verwaltungsverfahren von Dr. F ... Beide haben aus nachvollziehbaren Gründen psychische Unfallfolgen verneint, was auch mit der Einschätzung des Hausarztes übereinstimmt, der zwar eine reaktive Depression beim Kläger bestätigt, diese jedoch auf dessen "multiple" Erkrankungen zurückführt, also auf das Gesamtkrankheitsbild des Klägers, in dem die hier streitigen Unfallfolgen ausweislich des Reha-Berichtes aus Januar/Februar 2005 keine prominente Rolle spielen.

In den beim Kläger im Zusammenhang mit der Bewilligung der Rente als vorläufige Entschädigung anerkannten Unfallfolgen, an deren Feststellung die Beklagte auch bei der Entscheidung über die Dauerrente gebunden ist (Podzun, "Der Unfallsachbearbeiter", 540, Seite 6; SG Aachen, Urteil vom 01.03.2007, S 9 (5) KN 24/05 U) ist keine wesentliche Änderung in dem Sinne eingetreten, dass weitere Unfallfolgen beim Kläger anzuerkennen wären. Insbesondere ist entgegen dem gerichtlichen Sachverständigen Dr. O. nicht davon auszugehen, dass unfallbedingt eine Coxarthrose eingetreten ist. Zwar ist Dr. O. darin zuzustimmen, dass eine solche durch die Sachverständigen im Verwaltungsverfahren nicht diagnostiziert wurde. Jedoch zeigte schon eine beim Kläger am 02.04.2002 durchgeführte Röntgenaufnahme eine Coxarthrose beidseits mit rechts betonterem Befund als links. Bei der versorgungsärztlichen Untersuchung durch Dr. L. im April 2002 klagte der Kläger über eine rechts betonte Coxarthrose, "am schlimmsten seien die Schmerzen". Orthopädin Dr. L. berichtet unter dem 27.04.2002 über eine endgradig schmerzhaft eingeschränkte Beweglichkeit des rechten Hüftgelenkes bei aktivierter Coxarthrose rechts. Dr. O. hat zu diesen Befunden auch in seiner ergänzenden Stellungnahme nur ausgeführt, nach dem Unfall sei keine Coxarthrose festgestellt worden. Es kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass diese vor dem Unfall diagnostizierte Erkrankung im weiteren Verlauf wieder verschwunden ist, da es sich nicht um eine akute Erkrankung handelt.

Ebenfalls als vorbestehend ergibt sich die von allen Gutachtern im Verwaltungsverfahren und im Gerichtsverfahren als Unfallfolge angenommene, aber schon am 15.04.2002 festgestellte Muskelverschmächtigung des rechten Oberschenkels um 5,5 cm, die seinerzeit auf eine mögliche entzündliche Ursache zurückgeführt wurde. Zwar ist sie als Unfallfolge anerkannt. Davon unabhängig verändert sich aber durch die Feststellung, dass die erhebliche Muskelminderung des Klägers bereits vor dem Unfall bestand, deren Bedeutung für die Bemessung der MdE. Denn erkennbar ist von allen mit den Unfallfolgen befassten Sachverständigen die Muskelverschmächtigung als Anzeichen für eine - z.B. schmerzbedingte - Schonung des rechten Beines aufgrund der Unfallfolgen angesehen worden. Die Muskelminderung hat selbst keine Funktionseinschränkung zur Folge. Da sie nachweislich schon vor dem Unfall bestand, kommt sie aber auch nicht als Hinweis auf besonders schwere Funktionsbehinderungen durch die Folgen des Schenkelhalsbruches in Betracht. Es bleiben somit nur die teilweise ebenfalls vorbestehenden Funktionseinschränkungen in der Beweglichkeit des rechten Hüftgelenkes von denen Dr. O. - und insoweit folgt ihm die Kammer - zutreffend ausführt, dass sie für sich genommen eine MdE um 20 % nicht rechtfertigen. Denn nach den einschlägigen MdE-Richtwerten in der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl. z.B. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl., Seite 656) ist die MdE bei einem Streckdefizit um 10° und einer auf 90° eingeschränkten Beugung des Hüftgelenkes mit 10 % zu bewerten. Erst ab einem Streckdefizit von 30° ergibt sich eine MdE um 20 %. Dr. O. hat ein Streckdefizit von 15° gemessen, wobei er den sogenannten Thomas schen Handgriff angewandt hat. Dies bedeutet, dass das Streckdefizit nur zutage trat, weil das andere Bein extrem gebeugt und so eine bestehende Muskelverkürzung erkennbar wurde. Dr. O. weist darauf hin, dass in anderen Körperhaltungen ein derartiges Funktionsdefizit häufig nicht nachweisbar sei, weil es durch die Körperhaltung, insbesondere der Wirbelsäule, kompensiert werde. Dies zeigt, dass im Alltag das von Dr. O. festgestellte Streckdefizit um 15° funktionell noch nicht sehr bedeutsam ist. Letztlich kann deshalb sogar offen bleiben, ob - wie Dr. M. meint - die Messung des Streckdefizites durch Dr. O. methodisch anfechtbar ist. In keinem Fall wird ein Ausmaß erreicht, dass eine rentenberechtigende MdE nach sich zieht. Die mit der festgestellten Bewegungseinschränkung typischerweise verbundenen Bewegungsschmerzen und Gangbildveränderungen sind in den MdE-Sätzen berücksichtigt, außergewöhnlich schwerwiegende Beeinträchtigungen, die auch bei ansonsten ausreichender Funktion eine höhere MdE-Bewertung nahelegen würden, sind durch die Sachverständigen nicht festgestellt. Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, inwieweit auch die 2005 beim Kläger diagnostizierte arterielle Verschlusskrankheit rechts mit einem Restgehvermögen von 300 m. Auswirkungen auf das Gangbild des Klägers hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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