S 6 R 319/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 R 319/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 R 131/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe der dem Kläger zustehenden Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Der am 00.00.0000 geborene Kläger war zuletzt als kaufmännischer Angestellter beschäftigt. Unter dem 00.00.0000 stellte er einen Antrag auf Leistung zur medizinischen Rehabilitation sowie unter dem 00.00.0000 einen Antrag auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Mit Bescheid vom 00.00.0000 bewilligte die Beklagte dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 00.00.0000 bis 00.00.0000 unter Zugrundelegung eines Versicherungsfalles vom 00.00.0000. Die der Rente zugrunde liegenden Summe aller Entgeltpunkte betrug 42,1860. Die Beklagte ging in diesem Bescheid von einem Rentenzugangsfaktor von 0,892 aus, weil sich der Zugangsfaktor für jeden Kalendermonat nach dem 00.00.0000, dem Ende des Monats der Vollendung des 60. Lebensjahres des Klägers, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres um 0,003 (insgesamt 36 x 0,003 = 0,108) vermindere. Die auf dieser Grundlage von der Beklagten berechneten persönlichen Entgeltpunkte des Klägers betrugen 37,6299 (42,1860 x 0,892). Im Versicherungsverlauf des Bescheides vom 00.00.0000 waren 19 Monate Zurechnungszeit (beginnend mit dem 00.00.0000 bis 00.00.0000) sowie weitere 67 Monate Zurechnungszeit vom 00.00.0000 bis 00.00.0000 gespeichert.
Auf den Widerspruch des Klägers legte die Beklagte die freiwillige Krankenversicherung des Klägers zu Grunde und berechnete die Rente wegen voller Erwerbsminderung mit Bescheid vom 00.00.0000 neu. Mit weiterem Bescheid vom 00.00.0000 half sie dem Widerspruch unter Zugrundelegung weiterer rentenrechtlicher Zeiten vollständig ab.
Am 00.00.0000 stellte der Kläger einen Antrag auf Weitergewährung der Rente wegen voller Erwerbsminderung über den 00.00.0000 hinaus. Nach Durchführung medizinischer Ermittlungen gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 00.00.0000 Rente wegen voller Erwerbsminderung über den 00.00.0000 hinaus auf Dauer und legte hierbei einen Zugangsfaktor von 0,892 zu Grunde. Der Kläger legte am 00.00.0000 unter Hinweis auf die Entscheidung des 4. Senats des Bundessozialgerichts vom 16.05.2006 (Az.: B 4 RA 22/05 R) Widerspruch ein und führte aus, er "erwarte nunmehr Neufeststellung der Rente". Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 00.00.0000 zurück und führte aus, sie folge dem Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts nicht.

Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage.

Der Kläger ist der Auffassung, die Minderung des Zugangsfaktors um 0,108 verstoße gegen die Vorschrift des § 77 Abs. 2 SGB VI und sei im Übrigen verfassungswidrig.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 00.00.0000
in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 00.00.0000
zu verurteilen, ihm ungekürzte Rente unter Zugrundelegung eines
Zugangsfaktors von 1,0 ab dem 00.00.0000 nach Maßgabe der gesetz-
lichen Vorschriften zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen sowie die Sprungrevision zuzulassen.

Sie hält unter Hinweis auf Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Vorschrift des § 77 Abs. 2 SGB VI an ihrer bisherigen Auffassung fest.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte in Abwesenheit des Prozessbevollmächtigten des Klägers aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden, weil der Prozessbevollmächtigte des Klägers auf diese Möglichkeit in der schriftlichen Terminsladung hingewiesen ist, §§ 110 Abs. 1 Satz 2, 124 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), zumal er auf telefonische Nachfrage ausdrücklich erklärt hat, an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen zu wollen.

Die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist unzulässig, soweit der Kläger eine höhere Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 00.00.0000 begehrt. Denn der Bescheid vom 00.00.0000 ist bestandskräftig. Zwar ist im Widerspruch des Klägers vom 00.00.0000 zugleich ein Antrag auf Überprüfung dieses bestandskräftigen Rentenbescheides nach § 44 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - Sozialverwaltungs-verfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) zu sehen. Denn der Kläger hat im Rahmen der Begründung seines Widerspruchs gegen den Bescheid vom 00.00.0000 ausgeführt, dass er eine Neufeststellung der ihm gewährten Rente erwarte. Dies kann nach Auffassung der Kammer nur dahingehend verstanden werden, dass er die Überprüfung der gesamten Rente begehrt. Über diesen Überprüfungsantrag ist jedoch von der Beklagten noch nicht im Rahmen eines Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahrens entschieden worden, insbesondere sind dem Widerspruchsbescheid vom 00.00.0000 keine Anhaltspunkte zu entnehmen, dass die Beklagte über den Überprüfungsantrag des Klägers bislang entschieden hat.

Soweit der Kläger ungekürzte Rente unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 seit dem 00.00.0000 begehrt, ist die zulässige Klage nicht begründet. Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Er hat keinen Anspruch auf Auszahlung ungekürzter Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0.

Nach Auffassung der Kammer haben – entgegen der Entscheidung des 4. Senats des Bundessozialgerichts vom 16.05.2006, B 4 RA 22/05 R – Bezieher einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, eine Minderung des Zugangsfaktors um 0,108 hinzunehmen (siehe bereits SG Aachen, Urteil vom 09.02.2007, S 8 96/06, NZS 2007, 322 ff.; ebenso nunmehr SG Aachen, Urteile vom 20. März und 15. Mai 2007, S 13 R 76/06 und S 13 (4) R 55/07, Sozialgericht für das Saarland, Urteil vom 8. Mai 2007, S 14 R 82/07, SG Augsburg, Urteil vom 23. April 2007, S 3 R 26/07; SG Köln, Urteil vom 12. April 2007, S 29 (25) R 337/06, SG Altenburg, Urteil vom 22. März 2007, S 14 KN 64/07, alle abrufbar unter juris). Dies folgt aus der Vorschrift des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr.3 SGB VI, nach der sich der Zugangsfaktor von 1,0 für jeden Kalendermonat, für den eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 vermindert. Allerdings wird der Zugangsfaktor nach § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI höchstens um die Kalendermonate bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres vermindert, so dass sich maximal eine Minderung von 0,108 (36 Monate multipliziert mit 0,003) ergibt. Aus diesem Grund beträgt die Minderung des Zugangsfaktors für Bezieher einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, stets 0,108 (ebenso Stahl, in: Hauck/Noftz, SGB VI, Stand: § 77 Rdnr. 45; Polster, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 53. Ergänzungslieferung 2007, § 77 Rdnr. 21).

Für diese Interpretation der maßgeblichen Vorschrift des § 77 SGB VI sprechen aus Sicht der Kammer neben grammatikalischen auch entstehungsgeschichtliche Überlegungen.

Bereits der Wortlaut des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr.1 SGB VI deutet darauf hin, dass auch für Bezieher einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, eine Minderung des Zugangsfaktors eintritt. Denn § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr.3 SGB VI enthält zunächst die allgemeine Regelung, dass der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, "bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ...für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0" ist. Da Bezieher von Erwerbsminderungsrenten, die das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, die Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch nehmen, findet diese allgemeine Regelung auf sie Anwendung. Die allgemeine Aussage des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr.3 SGB VI aber wird durch § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI nicht dahingehend eingeschränkt, dass der Beginn der "Vorzeitigkeit" des Rentenbezugs frühestens auf die Vollendung des 60. Lebensjahres festgelegt wird (a.A. BSG, Urteil vom 16.05.2006, B 4 RA 22/05 R). Hätte der Gesetzgeber der Vorschrift des § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI diesen Bedeutungsgehalt zumessen wollen, so hätte es nahe gelegen, hierfür eine entsprechende Formulierung in der allgemeinen Vorschrift des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr.3 SGB VI vorzusehen. Demgegenüber hat er sich der ungleich umständlicheren Formulierung bedient, dass – wenn eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt – "die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgeblich" ist. Bereits dieser Umstand spricht dafür, dass ein verminderter Zugangsfaktor auch für Erwerbsminderungsrenten gilt, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres bezogen werden, jedoch eine Beschränkung der Reduzierung eintritt, die sich bei Vollendung des 60. Lebensjahres ergibt. Auch § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI steht dieser Auslegung nicht entgegen, sondern bestätigt sie. Wollte man § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI entnehmen, dass die "Zeit einer vorzeitige Inanspruchnahme" bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nur ein Rentenbezug ab dem 60. Lebensjahr ist (so der 4. Senat des BSG, a.a.O.), würde sich diese Vorschrift darin erschöpfen, den Bedeutungsgehalt des § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI (in der vom 4. Senat des BSG zu Grunde gelegten Interpretation) zu wiederholen. Da nicht davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber wiederholende und damit überflüssige Regelungen schafft, erscheint es sinnvoller, § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI als Konkretisierung von § 77 Abs. 3 Satz 1 SGB VI anzusehen. In dieser Auslegung führt § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI dazu, dass der verminderte Zugangsfaktor für spätere Renten lediglich dann zu Grunde zu legen ist, wenn die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit über das 60. Lebensjahr hinaus bezogen wird (Polster, a.a.O.; Stahl, a.a.O., Rdnr. 47). Der Wortlaut der Vorschrift bestätigt diese Auslegung. Denn § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI ist – im Gegensatz zu § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI – nicht auf Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder Erziehungsrenten beschränkt, sondern spricht lediglich von der "Zeit des Bezugs einer Rente". Bereits dies verdeutlicht seine inhaltliche Anknüpfung an § 77 Abs. 3 Satz 1 SGB VI, der ebenfalls (allgemein) von "einer früheren Rente" (nicht: Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit) spricht. Auch auch die vom Gesetzgeber gewählte gesetzliche Fiktion in § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI streitet hierfür. Denn wenn die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme "gilt", deutet vieles darauf hin, dass sie tatsächlich eine Zeit vorzeitiger Inanspruchnahme ist, jedoch wegen § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI zu keiner über 0,108 hinausreichenden Minderung des Zugangsfaktors führt.

Der Wortlaut der Anlage 23 zur Übergangsvorschrift des § 264c SGB VI steht der hier vertretenen Auffassung nicht entgegen. Insbesondere lässt der Umstand, dass nach dieser Anlage als "maßgebendes Lebensalter" lediglich die Zeit vom 60. bis zum 63. Lebensjahr aufgeführt wird, nicht allein den Schluss zu, Bezieher einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, hätten keine Minderung des Zugangsfaktors hinzunehmen (a.A. BSG, a.a.O.). Mit diesem Wortlaut ist ebenso die Auslegung vereinbar, dass auch Bezieher einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres eine Minderung des Zugangsfaktors hinzunehmen haben, die jedoch stets auf die Minderung begrenzt ist, die sich bei Vollendung des 60. Lebensjahres ergibt.

Die Entstehungsgeschichte des § 77 SGB VI untermauert die von der Kammer zu Grunde gelegte Interpretation dieser Vorschrift. So wird in der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in der 14. Wahlperiode ausgeführt: "Die Höhe der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wird an die der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten angeglichen. Der Zugangsfaktor wird für jeden Monat des Rentenbeginns vor dem 63. Lebensjahr um 0,3%, höchstens um 10,8% gemindert" (vgl. BT-Drs. 14/4230, S. 26). Dem entsprechend geht die Begründung zu § 63 SGB VI von einer Minderung des Zugangsfaktors aus, "wenn eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem vollendeten 63. Lebensjahr in Anspruch genommen wird (§ 77)", BT-Drs. 14/4230, S. 26. Auch diese Formulierungen deuten darauf hin, dass bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit eine Minderung des Zugangsfaktors auch bei Rentenbezug vor Vollendung des 60. Lebensjahres erfolgt, denn die allgemeine Aussage "vor Vollendung des 63. Lebensjahres" erfährt auch in der Gesetzesbegründung keine Einschränkung auf die Zeit von der Vollendung des 60. bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres.

Schliesslich steht auch die ratio legis des § 77 SGB VI der hier vertretenen Auffassung nicht entgegen. Bereits der (allgemeine) Sinn und Zweck eines Zugangsfaktors – der darin besteht, die Vorteile eines längeren Rentenbezugs auszugleichen (vgl. nur die Begründung zu § 77 im Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, BT-Drs. 14/4230, S. 26) – läßt eine Privilegierung Versicherter mit einer längeren Rentenbezugszeit zweifelhaft erscheinen (vgl. Kreikebohm, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching (Hrsg.), Beck scher Online-Kommentar Sozialrecht, Stand Juni 2007, § 77 SGB VI Rdnr. 3.1). Auch die in der Gesetzesbegründung mehrfach zum Ausdruck gebrachte Intention des Gesetzgebers, mit der Neufassung des § 77 SGB VI die Höhe der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit an die vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten anzugleichen, um "Ausweichreaktionen" entgegenzuwirken (siehe nur Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, BT-Drs. 14/4230, S. 23 f. und 26 sowie bereits Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, BT-Drs. 13/8011, S. 50) zwingt nach Auffassung der Kammer nicht zu der Annahme, Erwerbsminderungsrentner, die bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, hätten einen verminderten Zugangsfaktor lediglich dann hinzunehmen, wenn sie Rente über das 60. Lebensjahr hinaus beziehen. Zwar ist die vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente frühestens mit Vollendung des 60. Lebensjahres möglich. Indessen wird auch die hier vertretene Interpretation dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 77 SGB VI gerecht. Denn der maximale Abschlag von 10,8%, den der Bezug einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 60. Lebensjahr mit sich bringt, wird durch die gleichzeitig vorgesehene volle Anrechnung der Zeit zwischen dem 55. und 60. Lebensjahr als Zurechnungszeit (vgl. auch BT-Drs. 14/4230, S. 24) auf ca. 3% abgemildert. Je mehr sich der Bezieher einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aber der Vollendung des 60. Lebensjahres nähert, um so höher wird (mit geringerer Zurechnungszeit) die reale Belastung, bis sie (mit Vollendung des 60. Lebensjahres, ab dem eine Zurechnungszeit nicht mehr berücksichtigt wird) den Höchstwert von 10,8% erreicht (vgl. Mey, RVaktuell 2007, 44, 48).

Für die Kammer bestand auch keine Verpflichtung zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Denn die Vorschrift des § 77 SGB VI verstößt in der hier zu Grunde gelegten Interpretation nicht gegen Verfassungsrecht. Insbesondere ist eine Verletzung des Eigentumsgrundrechts, Art. 14 GG, nicht ersichtlich.
Allerdings führt die Minderung des Zugangsfaktors, die sich in der Minderung der Entgeltpunkte fortsetzt, letztendlich zu einer Verringerung des Zahlbetrags der Rente und bedeutet damit einen Eingriff in eine durch Art. 14 GG geschützte Rechtsposition (zum Eigentumsschutz von Versichertenrenten jüngst BVerfG, Beschluss vom 27.02.2007, 1 BvL 10/00, SGb 2007, 422 ff. m.w.N.; auch bereits BVerfG, Urteil vom 01.07.1981, 1 BvR 874/77 u.a., BVerfGE 58, 81 ff. sowie Urteil vom 08.04.1987, 1 BvR 574/84 u.a., BVerfGE 75, 78 ff.). Die Anforderungen, die an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieses Grundrechtseingriffs zu stellen sind, bemessen sich nach der Intensität des Eingriffs: Je intensiver in eine grundrechtlich geschützte Rechtsposition eingegriffen wird, desto höher sind die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung (st. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts, vgl. nur Beschluss vom 05.05.1987, 1 BvR 981/81, BVerfGE 75, 284 ff. m.w.N.). Dabei umfasst die in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltene Befugnis zur Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums auch die gesetzgeberische Möglichkeit, eigentumsgeschützte sozialversicherungsrechtliche Ansprüche zu kürzen und umzugestalten, solange dies einem Gemeinwohlzweck dient und nicht unverhältnismäßig ist (BVerfG, Urteil vom 28.04.1999, 1 BvL 32/95 u.a., BVerfGE 100, 1, 37).
Die vom Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit getroffenen Regelungen halten sich im Rahmen dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben. Der in der Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 1 SGB VI liegende Eingriff in Art. 14 GG ist durch Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt und genügt den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
Die mit dem Gesetz verfolgte Zielsetzung, Ausweichreaktionen von den Altersrenten, die nur bei Inkaufnahme von Abschlägen vorzeitig in Anspruch genommen werden können, in die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken, dient letztendlich dazu, die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung aufrechtzuerhalten. Derart gewichtige Gemeinwohlbelange vermögen Eingriffe in bestehende Leistungsansprüche zu rechtfertigen, wobei dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum verbleibt (vgl. BVerfG, Urteil vom 08.07.1971, 1 BvR 766/66, BVerfGE 31, 275, 290). Auch wird in die grundrechtlich geschützten Positionen der Versicherten nicht in unverhältnismäßiger Weise eingegriffen. Denn die Auswirkungen der Minderung des Zugangsfaktors werden durch die volle Anrechnung der Zeit zwischen dem 55. und dem 60. Lebensjahr als Zurechnungszeit abgemildert (so ausdrücklich die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 14/4230, S. 24). Überdies begrenzen auch die Vorschriften des § 77 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 1 SGB VI das Ausmaß der Belastung der Versicherten.

Nach alledem hat die Beklagte im Bescheid vom 00.00.0000 zu Recht einen geminderten Zugangsfaktor zu Grunde gelegt. Denn der Kläger hat die ihm gewährte Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung seines 60. Lebensjahres in Anspruch genommen. Die Ermittlung des konkreten Zugangsfaktors bestimmt sich nach Anlage 23 zum SGB VI, weil die Voraussetzungen der Übergangsvorschrift des § 264c SGB VI vorliegen. Die Rente des Klägers wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (§ 33 Abs. 3 Nr.2 SGB VI) hat am 00.00.0000 begonnen. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Rente zunächst lediglich bis zum 00.00.0000 gezahlt worden ist und sich ab dem 00.00.0000 eine Weitergewährung auf Dauer angeschlossen hat.
Danach ist die Beklagte zu Recht davon ausgegangen, dass die maximale Minderung von 0,108 zu Grunde zu legen war, die sich bei Vollendung des 60. Lebensjahres ergibt (36 Monate multipliziert mit 0,003) und sie hat dementsprechend die Rente des Klägers zutreffend um 10,8% gemindert.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer hat die Sprungrevision nach § 161 Abs. 2 Satz 1 SGG zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG vorliegen. Angesichts der Vielzahl gleichgelagerter Fälle ist von einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache auszugehen. Überdies weicht das Urteil von der Entscheidung des 4. Senats des Bundessozialgerichts vom 16.05.2006 (Az.: B 4 RA 22/05 R) ab und es beruht auch auf dieser Abweichung.
Rechtskraft
Aus
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