S 8 U 29/09

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 8 U 29/09
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 16.09.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2009 verurteilt, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Die Rechtsauffassung des Gerichts lautet dahingehend, dass der Unfall der Klägerin vom 14.07.2007 ein Arbeitsunfall gewesen ist Die Beklagte hat die Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darum, ob der Unfall der Klägerin vom 14.07.2007 ein Arbeitsunfall war.

Die am 00.00.00 geborene Klägerin erlitt am Unfalltag auf dem Gelände der vom Zeugen F. betriebenen Reitschule Verletzungen im Bauchbereich durch einen Pferdetritt (Rissverletzungen von Milz und Niere bei kompletter Ruptur des Nierenparenchyms, massiver Ruptur des Parenchyms der Milz; akute Blutungsanämie).

Gegenüber der Krankenkasse erklärte der Vater der Klägerin am 17.03.2008 zum Unfallhergang, seine Tochter sei gefragt worden, "ob sie Pferde mit von der Koppel holen wolle, dem stimmte sie zu." Das Pferd habe jedoch gescheut und die Klägerin getreten.

Die Inhaberin der Reitschule teilte der Beklagten gegenüber (laut einem Telefonvermerk vom 15.05.2008) mit, die Klägerin sei "längere Zeit mit einer Jugendhilfegruppe ( ...) zum Voltigieren in den Stall gekommen" und habe dann den Stall auch aus eigenem Antrieb besucht. Da sämtliche Reitschüler über einen angeschlossenen Reitverein versichert seien, sei es üblich, die auf dem Hof anwesenden Reitschüler verschiedentlich um die Erledigung kleinerer Aufgaben zu bitten. Am Unfalltag sei die Klägerin mit einigen Reitschülerinnen im Aufenthaltsraum gewesen, als die Schwester der Frau F. - die Zeugin H. - dort vorbeigekommen sei und die Anwesenden aufgefordert habe, zwei Pferde von der Koppel zu holen. Hiervon habe sich die Klägerin offenbar ebenfalls angesprochen gefühlt und sei mitgekommen. Die Zeugin H. habe dies nicht moniert, da sie offenbar nicht gewusst habe, dass die Klägerin keine Reitschülerin gewesen sei.

Die Klägerin hielt entgegen, sie sei "bereits seit mehreren Monaten vor dem Unfall mit Tätigkeiten in der Reitschule befasst" worden. Beispielsweise habe sie unentgeltlich kleinere Arbeiten im Stall durchgeführt. Am Unfalltag habe die Zeugin H. der Klägerin sowie einer anderen Anwesenden "eindeutig den Auftrag" erteilt, die Pferde auf eine andere Koppel zu bringen.

Mit Bescheid vom 16.09.2008 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen mit der Begründung ab, es habe sich nicht um eine versicherte Tätigkeit gehandelt. Insbesondere scheide ein Versicherungsschutz wegen einer Beschäftigung "wie ein Versicherter" aus, denn aus Sicht der Klägerin habe nicht das betriebliche Interesse (daran die Pferde auf eine andere Koppel zu bringen) im Vordergrund gestanden, vielmehr habe es sich um ein Hobby gehandelt.

Ihren am 24.10.2008 erhobenen Widerspruch begründete die Klägerin damit, sie habe über einen Zeitraum von zwei Jahren in der Reitschule nach Weisung der dort Beschäftigten Stallarbeiten verrichtet, wodurch die Reitschule wirtschaftliche Vorteile in Form ersparter Entgeltaufwendungen erlangt habe. Zu diesem Tätigkeitsbereich habe auch die konkrete Tätigkeit gehört, bei der es zu dem Unfall gekommen sei.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 05.05.2009 (als unbegründet) zurück. Sie führte aus, die Klägerin habe sich aus eigenwirtschaftlichen Gründen (freundschaftliche Kontakte, Interesse am Umgang mit Pferden) auf dem Gelände der Reitschule aufgehalten und in diesem Zusammenhang auch die zum Unfall führende Tätigkeit verrichtet. Für die Annahme einer fremdwirtschaftlichen Handlungstendenz reiche nicht aus, dass diese Tätigkeit für die Reitschule von Nutzen gewesen sei und die Beschäftigten der Reitschule die Klägerin auf dem Betriebsgelände geduldet hätten.

Hiergegen richtet sich die am 08.06.2009 erhobene Klage.

Die Klägerin führt ergänzend aus, sie habe seit dem Jahr 2006 Tätigkeiten wie den Stall fegen, Pferde satteln und striegeln etc. verrichtet. Außerdem habe sich sich mit Voltigieren beschäftigt. Die zum Unfall führende Tätigkeit habe sie auf ausdrückliche Weisung der Zeugin H. ausgeführt.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16.09.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2009 zu verurteilen, sie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass es angesichts der erkennbaren Handlungstendenz weder auf den Umfang der Mithilfe in der Reitschule noch auf eine eventuelle Duldung durch deren Inhaber ankomme.

Das Gericht hat den Inhaber der Reitschule, Herrn F., seine Schwägerin Frau H. sowie eine weitere regelmäßige Besucherin der Reitschule, Frau P. zeugenschaftlich vernommen. Wegen der Aussagen wird auf die Anlagen zum Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 25.11.2009 verwiesen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, insbesondere konnte die Klägerin ihre Klage zulässigerweise auf die Neubescheidung durch die Beklagte unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts beschränken.

Klage ist auch begründet. Die Klägerin ist durch die verweigerte Anerkennung des Unfalls vom 14.07.2007 als Arbeitsunfall beschwert i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Bei dem Unfall hat es sich um einen Arbeitsunfall i.S.d. § 8 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) gehandelt. Nach dieser Vorschrift sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit.

Im vorliegenden Fall ist es infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII begründenden Tätigkeit zu dem streitigen Unfall gekommen. Die Handlung der Klägerin, die unmittelbar zum Unfall geführt hat (der Versuch, ein Pferd zum Verlassen der Koppel zu bewegen) war Teil einer Tätigkeit, die die Klägerin wie eine Versicherte i.S.d. § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII ausgeübt hat.

Gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII sind Personen gegen Arbeitsunfall versichert, die wie ein nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII Versicherter tätig werden. Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII besteht, wenn die zum Unfall führende Handlung eine ernste, dem fremden (d.h. dem unterstützten) Unternehmen zu dienen bestimmte Tätigkeit war und dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers (oder seines Vertreters) entsprochen hat. Erforderlich ist weiter, dass die Tätigkeit ihrer Art nach von Personen verrichtet werden konnte, die in einem Beschäftigungsverhältnis stehen und sie unter Umständen geleistet wird, die im Einzelfall der Tätigkeit im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses entsprechen (vgl. BSG, SozR 3-2200 § 548 Nr. 20 m.w.N.; aus neuerer Zeit etwa Bayerisches LSG, Urteil vom 01.07.2009 L 2 U 46/07 m.w.N.). Auf Häufigkeit und Dauer der Tätigkeit kommt es nicht entscheidend an, schon eine wirtschaftlich geringfügige Hilfe von kurzer Dauer genügt (Ricke, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, § 2 SGB VII, Rn. 105 m.w.N.). Auch eine persönliche Abhängigkeit vom Unternehmer oder eine Eingliederung in das Unternehmen durch Einrichtung eines quasi-arbeitgeberlichen Direktionsrechts sind nicht erforderlich.

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.

Dass es sich bei der zum Unfall führenden Handlung um eine ernsthafte Tätigkeit gehandelt hat, hat die Beklagte nicht bestritten und liegt im Übrigen schon angesichts der Schwierigkeit und Gefährlichkeit dieses Unterfangens auf der Hand.

Es hat auch entgegen der Auffassung des Beklagten nicht an der erforderlichen fremdwirtschaftlichen Zweckbestimmung gefehlt. Maßgebliches Kriterium ist insoweit die Handlungstendenz des Verletzten: Nicht wie ein Versicherter wird tätig, wer – unter Berücksichtigung der gesamten objektiven Umstände des Einzelfalls - mit seinem Verhalten in Wirklichkeit wesentlich seine eigenen Angelegenheiten verfolgt (BSG, Urteil vom 26.06.2007, B 2 U 35/06 R). Von der Handlungstendenz zu unterscheiden sind allerdings die Motive für das Tätigwerden (BSG, Urteil vom 05.03.2002, B 2 U 9/01 R), die im Übrigen "sogar" bei einem nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII Versicherten ganz regelmäßig rein eigennütziger Natur sind.

Die Klägerin hat mit der zum Unfall führenden Handlung weder in wirtschaftlicher noch in ideeller Hinsicht vornehmlich ihre eigenen Interessen verfolgt. Sie hat eine Aufgabe zu erledigen versucht, die ganz überwiegend im Interesse des Unternehmens gelegen hat. Im Unterschied zu dem Sachverhalt, der dem Urteil des LSG Schleswig-Holstein vom 13.12.2006, L 1 U 56/06, zugrundelag, ging es im vorliegenden Fall nicht etwa um die Versorgung eines eigenen Pferdes. Auch hat sich der Unfall nicht bei der Vorbereitung des eigenen Reitens oder Voltigierens ereignet (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23.11.1999, L 15 U 170/99 - obiter dictum). Vielmehr sollte das Pferd von der Koppel geholt werden, um Platz für ein anderes Pferd zu machen, wie das Gericht den Angaben der Klägerin und auch der Aussage der Zeugin H. entnimmt.

Es kann dahinstehen, ob die Klägerin die Hilfstätigkeiten in der Reitschule (und darunter auch die zum Unfall führende Tätigkeit) nur verrichtet hat, um in den Genuss kostenlosen Reitens oder Voltigierens zu kommen, oder ob ihr auch die Hilfstätigkeiten an sich Freude bereitet haben. Beides gehört zu dem angesichts § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII unbeachtlichen Bereich der Motivation (zu einem ähnlich gelagerten Fall Sozialgericht Hamburg, Urteil vom 19.12.2007, S 40 U 86/07). Hätte die Klägerin in der Mitarbeit auf dem Reiterhof lediglich ein "notwendiges Übel" erblickt, um kostenlos Reiten oder Voltigieren zu dürfen, so spräche dies aus Sicht der Kammer gerade für die Arbeitnehmerähnlichkeit i.S.d. § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII. Die Klägerin hätte sich dann nicht viel anders verhalten, als ein Beschäftigter, der "notgedrungen" arbeitet, damit er entlohnt wird - nur dass die Entlohnung gleichsam "in Naturalien" (nämlich in der Gelegenheit zum Voltigieren) erfolgt wäre. Aber auch wenn die Klägerin - wofür ihre Angaben sprechen - insgesamt Freude an der Arbeit mit Pferden (also auch an deren Pflege) und an der Stimmung in der Reitschule hatte, kann ihr dies ebensowenig entgegengehalten werden wie dies bei einer (i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII beschäftigten) Pferdewirtin der Fall wäre. Anders wäre es nur, wenn der Klägerin gerade an der konkrete Tätigkeit, bei der es zum Unfall gekommen ist, soviel gelegen hätte, dass diese als Selbstzweck angesehen werden müsste. Hierfür fehlen jedoch Anhaltspunkte, insbesondere hat die Klägerin nachvollziehbar angegeben, sie sei schon von Anfang skeptisch gewesen, da sie das betreffende Pferd noch nicht gekannt habe.

Auch die übrigen Voraussetzungen einer Versicherung nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII sind erfüllt.

Dass die zum Unfall führende Tätigkeit dem Willen des Unternehmers entsprochen hat, hat die Beklagte nicht in Zweifel gezogen. Unschädlich ist insoweit auch, dass die Aufforderung, das Pferd von der Koppel zu holen, nicht unmittelbar vom Inhaber der Reitschule gekommen. Den Aussagen des Zeugen F. und der Zeugin H. entnimmt das Gericht, dass die Zeugin H. befugt war, Anweisungen auszusprechen bzw. die anwesenden Mädchen um Hilfe zu bitten. Ebenso steht fest, dass die Zeugin H. wollte, dass auch das Pferd, das die Klägerin später getreten hat, auf eine andere Koppel kommt. Dass die Zeugin H. die Klägerin nicht eigens für diese Aufgabe ausersehen hat, ist unbeachtlich, ebenso auch, dass die Klägerin hätte ablehnen können, denn im Rahmen der Prüfung nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII ist es sogar unschädlich, wenn überhaupt keine Verpflichtung zu der unfallbringenden Tätigkeit bestanden hat (vgl. SG Hamburg, Urteil vom 19.12.2007, S 40 U 86/07).

Das Gericht hat im Übrigen auch keine Zweifel daran, dass die Tätigkeit ihrer Art nach von Personen verrichtet werden konnte, die in einem Beschäftigungsverhältnis stehen. Der Zeuge F. hat insoweit glaubhaft bekundet, dass andernfalls er, seine Frau oder eine Beschäftigte die Pferde auf eine andere Koppel gebracht hätten. Auch sind keine Umstände (insbesondere in der Beziehung zwischen der Klägerin und dem Unternehmen) ersichtlich, die für ein Abweichen vom typischen Bild eines Beschäftigungsverhältnisses sprechen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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