S 13 KR 177/10

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KR 177/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 1 KR 109/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Kosten in Höhe von 526,51 EUR, die dem Kläger anlässlich einer Krankenhausbehandlung in Belgien entstanden sind.

Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er hielt sich im Juni 2009 zum Urlaub an der niederländischen Küste (nahe der belgischen Grenze) auf. Zuvor hatte er sich auf der Internet-Seite der Beklagten über den Krankenversicherungs-(KV-)schutz im Ausland informiert. Eine private Krankenversicherung schloss er nicht ab. Am 12.06.2009 erlitt er während des Urlaubs in den Niederlanden einen Herzinfarkt. Vom Notfalldienst wurde er über die Grenze nach Belgien in ein Krankenhaus in Brügge gebracht. Dort wurde er vom 12. bis 17.06.2009 stationär behandelt. Über die vom Kläger vorgelegte Europäische Versichertenkarte (EHIC) rechnete das Krankenhaus mit dem örtlichen Sozialversicherungsträger (Ziekenfonds) und dieser mit der Beklagten Krankenhausbehandlungskosten in Höhe von 5.538,89 EUR ab. Einen Restbetrag (Eigenanteil) von 526,51 EUR stellte das belgische Krankenhaus dem Kläger selbst in Rechnung. Der Kläger zahlte diesen Betrag im November 2009 an das Krankenhaus.

Am 10.09.2009 legte der Kläger der Beklagten die Rechnungsunterlagen vor und beantragte die Überweisung des ihm in Rechnung gestellten Eigenanteilsbetrages an das belgische Krankenhaus.

Durch Bescheid vom 15.09.2009 lehnte die Beklagte die Übernahme der 526,51 EUR ab. Es handele sich um eine "Zuzahlung zur Krankenhausbehandlung" nach belgischem Recht; in den Niederlanden falle diese Zuzahlung nicht an; die Zuzahlung sei vom Kläger unmittelbar an das belgische Krankenhaus zu entrichten und nicht erstattungsfähig; dabei sei nicht maßgebend, dass er von seinem Urlaubsort in den Niederlanden in ein Krankenhaus nach Belgien gebracht worden sei.

Dagegen legte der Kläger am 20.09.2009 Widerspruch ein. Er wies daraufhin, dass er in den Niederlanden im Urlaub gewesen sei, wo laut dem Merkblatt des GKV-Spitzenverbandes keine Krankenhauskosten für Deutsche, die dort Urlaub machten, anfielen. Er sei im Rahmen eines Hilfeabkommens zwischen den Niederlanden und Belgien wegen einer tödlichen Erkrankung nach Belgien transportiert und dort behandelt worden; diese Entscheidung sei nicht durch ihn, sondern durch die Verantwortlichen des Gesundheitssystems vor Ort getroffen worden. Der Kläger vermutete, auch Personen mit regelmäßigem Wohnsitz in den Niederlanden, die in gleicher Weise erkrankten, seien von einer Zuzahlung gegenüber dem belgischem Krankenhausträger befreit.

Auf Anfrage der Beklagten teilte das niederländische "College voor zorgverzekeringen" (CVZ) mit, es existiere kein Abkommen zwischen dem belgischem Krankenhaus und dem CVZ; auch niederländische Versicherte müssten bei einer Überweisung in eine belgische Einrichtung Zuzahlungen leisten; es gebe kein internes Abkommen zwischen dem CVZ und dem belgischen Krankenversicherungsträger, wonach Kosten verrechnet werden könnten.

Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 26.05.2010 zurück.

Dagegen hat der Kläger am 24.06.2010 Klage erhoben. Er ist der Auffassung, sein geltend gemachter Kostenerstattungsanspruch sei nach § 13 Abs. 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) begründet. Die von der Beklagten zur Verfügung gestellten Informationen über den KV-Schutz während eines Urlaubs in den Niederlanden enthielten den ausdrücklichen Hinweis, dass für eine Krankenhausbehandlung in den Niederlanden eine Zuzahlung nicht anfalle. Deshalb habe er darauf vertrauen dürfen, bei einer Erkrankung in den Niederlanden auch dann eine vollständige Erstattung der medizinisch notwendigen Behandlung durch seine Krankenkasse zu erhalten, wenn er ohne seinen Willen nicht in den Niederlanden, sondern im angrenzenden Belgien tatsächlich behandelt worden sei. Allenfalls wäre ein Abschlag in Höhe der Zuzahlungsbeträge vorstellbar, wie sie bei gleicher Behandlung in Deutschland aufzubringen wären. Der Kläger beruft sich auf den europarechtlichen Grundsatz der Freizügigkeit.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15.09.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26.05.2010 zu verurteilen, ihm 526,51 EUR zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat auf Bitten des Gerichts über die Deutsche Verbindungsstelle Krankenversicherung Ausland (DVKA) beim belgischen Sozialversicherungsträger in Brüssel eine Auskunft eingeholt und diese in das Verfahren eingeführt. Sie meint, es liege nicht in ihrem Ermessen, den Kläger einem in den Niederlanden erkrankten und behandelten Patienten gleichzustellen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Er hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der von ihm an das belgische Krankenhaus in Brügge gezahlten 526,51 EUR.

Der vom Kläger geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch ist nicht nach § 13 Abs. 4 und 4 SGB V begründet. Nach diesen Vorschriften sind Versicherte berechtigt, auch Leistungserbringer - hier: ein Krankenhaus - in anderen Staaten im Geltungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 1408/71 (EG-VO 1408/71) anstelle der Sach- oder Dienstleistung im Wege der Kostenerstattung in Anspruch zu nehmen. Der Anspruch auf Erstattung besteht in diesem Fall höchstens in Höhe der Vergütung, die die Krankenkasse bei Erbringung einer Sachleistung im Inland zu tragen hätte. Diese Kostenerstattungsregelungen finden vorliegend keine Anwendung, weil die Leistung "Krankenhausbehandlung" bei dem belgischen Krankenhaus als Sachleistung in Anspruch genommen wurde; das belgische Krankenhaus hat diese Leistung im Wege der europarechtlichen Sachleistungsaushilfe über den (aushelfenden) belgischen Versicherungsträger abgerechnet, der wiederum die Kosten mit der Beklagten abgerechnet hat. Grundlage dieses Sachleistungsanspruchs und der Sachleistungserbringung war Art. 22 Abs. 1 Buchstabe a) Ziff. i) EG-VO 1408/71, die ab 01.05.2010 durch die EG-VO 883/2004 abgelöst worden ist, im Fall des Klägers aber noch Anwendung fand, da seine Behandlung im Jahre 2009 erfolgte. Nach Art. 22 Abs. 1 Buchstabe a) Ziff. i) EG-VO 1408/71 hat ein Versicherter, der die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen erfüllt und dessen Zustand während eines Aufenthalts im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates unverzüglich Leistungen erfordert, Anspruch auf Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Aufenthaltsorts nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem versichert wäre. Diese Voraussetzungen waren in Bezug auf den Kläger, der bei der Beklagten als zuständigem Träger nach deutschen Rechtsvorschriften krankenversichert und leistungsberechtigt war, aufgrund des während des Urlaubs in den Niederlanden erlittenen Herzinfarkts und die dadurch notwendige Krankenhausbehandlung erfüllt. Dass die notwendige Krankenhausbehandlung auf Veranlassung der Verantwortlichen vor Ort im grenznahen Belgien durchgeführt wurde, ändert an der Begründetheit des Sachleistungsanspruchs nach Art. 22 Abs. 1 Buchstabe a) Ziff. i) EG-VO 1408/71 nichts.

Auch wenn diese Vorschrift sich ausdrücklich nur mit "Sachleistungen" befasst, schließt sie nach Sinn und Zweck auch sachleistungsersetzende Kostenerstattungsansprüche mit ein, falls das Recht des anderen Mitgliedstaates (hier: Belgien) solche vorsehen sollte (vgl. BSG, Urteil vom 30.06.2009 - B 1 KR 22/08 R). Dies ist aber auch in Bezug auf die noch streitbefangenen 526,51 EUR nicht der Fall. Bei diesen Kosten handelt es sich um einen nach belgischem Recht von jedem Patienten zu tragenden Eigenanteil/Zuzahlungsbetrag, den er unmittelbar selbst an das Krankenhaus zu zahlen hat und den er auch nach belgischem Recht nicht vom belgischen Sozialversicherungsträger erstattet bekommt. Da dem belgischen Sozialversicherungsträger lediglich die Kosten der Krankenhausbehandlung abzüglich des Eigenanteils entstanden sind, war auch nur diese Summe von der Vergütungspflicht bezüglich der Sachleistung "Krankenhausbehandlung" umfasst und ist dem belgischen Sozialversicherungsträger zurecht von der Beklagten auch nur dieser Betrag erstattet worden. Die darüber hinaus gehenden Aufwendungen sind vom Versicherten ohne Anspruch auf Erstattung zu tragen.

Unter diesen Umständen ist für einen Anspruch nach § 13 Abs. 4 und 5 SGB V kein Raum mehr. Diese Regelungen decken den Fall ab, dass die gesamten Behandlungskosten vom Versicherten selbst bezahlt und dieser bei seiner (inländischen) Krankenkasse Kostenerstattung beantragt. Sie können auch nicht ergänzend oder isoliert als Rechtsgrundlage für die Erstattung von Eigenanteilen/Zuzahlungen, die nach belgischem Recht vom Versicherten zu zahlen und dort nicht erstattungsfähig sind, gegenüber der zuständigen (inländischen) Krankenkasse - der Beklagten - herangezogen werden.

Auch ein Anspruch auf Kostenerstattung gem. § 13 Abs. 3 SGB V scheidet aus. Die Sperre des § 16 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, wonach Leistungsansprüche aus der gesetzlichen Krankenversicherung ruhen, solange Versicherte sich im Ausland aufhalten, und zwar auch dann, wenn sie dort während eines vorübergehenden Aufenthalts erkranken, wird durch die Regelungen des koordinierenden Europarechts in der EG-VO 1408/71 und der EG-VO 574/72 (ab 01.05.2010 abgelöst durch die EG-VO 883/2004 und EG-VO 987/2009 ) i. V. m. den § 13 Abs. 4 und 5 SGB V überwunden, nicht aber durch § 13 Abs. 3 SGB V (BSG, Urteil vom 30.06.2009 - B 1 KR 22/08 R).

Entgegen der Auffassung des Klägers verstösst dieses Ergebnis nicht gegen das europäische Gemeinschaftsrecht. Die Versagung einer (ergänzenden) Erstattung des nach belgischem Recht von Patienten/Versicherten unmittelbar an das Krankenhaus zu zahlenden Eigenanteils stellt insbesondere keine Beeinträchtigung der Freizügigkeit und der Dienstleistungsfreiheit dar. Zu unterscheiden ist die sog. geplante Behandlung gemäß Art. 22 Abs. 1 Buchstabe c) EG-VO 1408/71 von der unerwarteten Behandlung, die Art. 22 Abs. 1 Buchstabe a) EG-VO 1408/71 erfasst. Die geplante Behandlung berührt die Dienstleistungsfreiheit; hierzu ergingen die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 12.07.2001 - Vanbraekel u.a. (C-368/98) - und vom 16.05.2006 - Watts (C-372/04); infolge dieser und anderer EuGH-Entscheidungen hat der deutsche Gesetzgeber die Regelungen des § 13 Abs. 4 und 5 SGB V eingeführt. Anders liegt der Fall bei einer unerwarteten Behandlung. Einem Versicherten, der sich beispielsweise aus touristischen Gründen, nicht aber wegen einer beliebigen Unzulänglichkeit im Angebot des Gesundheitssystems, dem er angeschlossen ist, in einen Mitgliedsstaat begibt, garantieren die Regeln des Vertrags über die Freizügigkeit nicht die Neutralität hinsichtlich aller Leistungen der Krankenhausbehandlung, deren Durchführung sich bei ihm unerwarteterweise als im Aufenthaltsmitgliedstaat erforderlich erweisen könnte. Aufgrund der nationalen Unterschiede bei der sozialen Absicherung auf der einen und dem Zweck der EG-VO 1408/71, die nationalen Vorschriften zu koordinieren, nicht aber, sie einander anzugleichen, auf der anderen Seite können die Bedingungen im Zusammenhang mit Krankenhausaufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat je nach Einzelfall Vor- oder Nachteile für den Versicherten haben (EuGH, Urteil vom 15.06.2010 - C-211/08). Daran ändert sich nichts dadurch, dass der Kläger zum Urlaub in die Niederlande gefahren war, wo es keinen Eigenanteil zu den Krankenhausbehandlungskosten gibt, jedoch nach Belgien transportiert und dort behandelt wurde. Auch eine solche Situation ist allein die Folge der mit den Ungewissheiten einer Urlaubsreise in das EG-Ausland und der mit einer unerwarteten Behandlungsnotwendigkeit verbundenen Vor- und Nachteile. Auch wenn der Kläger sich vor seinem Urlaub über die Leistungsbedingungen im Krankheitsfall in den Niederlanden erkundigt hat, hätte er - davon ist die Kammer überzeugt - nicht von dieser Urlaubsreise Abstand genommen, wenn er gewusst hätte, dass im Falle eines Herzinfarktes und einem damit notwendigen Transport in ein (grenznahes) belgisches Krankenhaus möglicherweise Kosten auf ihn zukommen. In einer Notsituation, in der sich der Kläger aufgrund seines Herzinfarkts befunden hat, haben die Verantwortlichen vor Ort - auch davon ist die Kammer überzeugt - in erster Linie das Gesundheitsinteresse des Patienten und medizinische Notwendigkeiten im Blick gehabt, als sie den Transport nach Belgien veranlassten. Dass dies in dieser Situation ohne den - zumindest mutmaßlichen - Willen oder gar - wie der Kläger behauptet - gegen seinen Willen geschah, ist nicht nachvollziehbar und auch kaum glaubhaft, jedenfalls aber durch nichts substanziiert oder belegt.

Schließlich eröffnet auch § 25 Abs. 7 der zur Durchführung der neuen EG-VO 883/2004 erlassenen EG-VO 987/2009 keinen Anspruch auf Erstattung des Eigenanteils von 526,51 EUR. Zwar zielt diese Norm auf Fälle, in denen der Versicherte aufgrund höherer Selbstbehalte im Behandlungsstaat schlechter gestellt ist, als er bei einer Behandlung im Inland gestanden hätte (so: Janda, "Die Verteilung der Kostenlast bei ungeplanten Krankenhausaufenthalten in anderen EU-Mitgliedstaaten", in: ZESAR 2010, S. 465, 467). Allerdings handelt es sich um eine Ermessensnorm ("kann"), die keine Verpflichtung des zuständigen Trägers zur ergänzenden Erstattung solcher Selbstbehalte begründet. Zudem ist die EG-VO 987/2009 - wie die EG-VO 883/2004 - erst am 01.05.2010 in Kraft getreten, findet also auf den Fall des Klägers noch keine Anwendung. Eine gleichlautende Vorschrift enthielt die im Jahre 2009 noch geltende Durchführungsverordnung EG-VO 574/72 nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer hat die im Hinblick auf den Beschwerdewert grundsätzlich nicht statthafte Berufung zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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