S 13 KR 369/10

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KR 369/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 16.204,66 Euro nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 10.535,52 Euro seit dem 09.01.2007 und aus 16.204,66 Euro seit dem 21.08.2007 zu zahlen. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. Der Streitwert wird auf 16.204,66 Euro festgesetzt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über restliche Krankenhausbehandlungskosten in Höhe von 16.204,66 Euro.

Die Klägerin betreibt ein zugelassenes Krankenhaus. Dort wurde seit dem Jahre 2003 der bei der Beklagten versicherte N-E. D. (im Folgenden: Versicherter), geboren 00.00.0000, wegen einer sogenannten "Blasensucht" (Pemphigus vulgaris) stationär behandelt. Es handelt sich hierbei um eine seltene Autoimmunerkrankung, die zur Blasenbildung auf der Haut führt. Die Krankheit beginnt mit einem Befall der Mundschleimhaut, wobei hier rasch platzende Blasen entstehen, die leicht bluten und schmerzhafte Erosionen hinterlassen. Die Krankheit breitet sich sodann auf unterschiedliche Hautregionen wie z.B. andere Schleimhäute, Kopfhaut, die gesamte Haut und besondere Stellen, die Druck- und Reibung ausgesetzt sind, aus. Nach Platzen der Blasen entstehen Erosionen, die anschließend verkrusten. Bei einem großflächigen Befall kommt es nicht selten zu Fieber, Appetitlosigkeit und allgemeinem Krankheitsgefühl. Pemphigus vulgaris ist eine sehr seltene Krankheit (Erkran-kungshäufigkeit 1:100.000), die tödlich verlaufen kann.

Nachdem der Versicherte seit dem Jahre 2003 bereits dreimal stationär mit intravenösen Immunglobulinen (IVIG) - konkret: Octagam ® - behandelt worden war, wurde er im Jahre 2006 erneut stationär behandelt, und zwar

1.) vom 08.08. bis 18.08.2006, 2.) vom 22.08. bis 18.09.2006 u.a. mit IVIG, 3.) vom 11.10. bis 18.10.2006, 4.) vom 25.10. bis 03.11.2006 u.a. mit IVIG, 5.) vom 07.11. bis 09.11.2006 6.) vom 14.11. bis 16.12.2006 u.a. mit IVIG.

Die Behandlungen 1, 3 und 5 wurden zwischen den Beteiligten vollständig abgerechnet.

Für die übrigen drei Behandlungen stellte die Klägerin der Beklagten in Rechnung:

- für die Behandlung 2 mit Rechnung vom 25.10.2006 9.255,83 Euro - für die Behandlung 4 mit Rechnung vom 07.11.2006 10.493,89 Euro - für die Behandlung 6 mit Rechnung vom 28.02.2007 15.389,18 Euro insgesamt: 35.138.90 Euro

Hierauf bezahlte die Beklagte - für die Behandlung 2 nur 4.394,04 Euro - für die Behandlung 4 nur 4.820,16 Euro - für die Behandlung 6 nur 9.720,04 Euro insgesamt: 18.934,24 Euro.

Gestützt auf eingeholte Stellungnahmen des Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) zahlte die Beklagte der Klägerin die restlichen 16.204,66 Euro nicht aus mit der Begründung, der Einsatz von Immunglobulinen sei experimentell, vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) nach § 135 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) der Anlage II zugeordnet worden und deshalb keine Kassenleistung.

Am 27.12.2010 hat die Klägerin Klage auf Zahlung der Restkosten der Behandlungen 2, 4 und 6 erhoben. Sie trägt vor, die Behandlung der Krankheit des Versicherten mit Immunglobulinen sei in der medizinischen Fachwelt anerkannt; die Krankheit sei lebensbedrohlich und ende trotz aller bis heute zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten in 5 % aller Fälle tödlich. Die intravenöse Gabe mit Immunglobulinen – konkret: Intratect ® - sei erfolgt, weil sich der Versicherte bei sehr aggressivem Krankheitsverlauf gegenüber den bisher angewandten Behandlungsmöglichkeiten therapieresistent gezeigt habe, sein Allgemeinzustand deutlich reduziert gewesen sei und er zeitweilig in Lebensgefahr geschwebt habe. IVIG würden gerade bei schweren und therapieresistenten Autoimmunerkrankungen, wie z.B. Pemphigus vulgaris in den Leitlinien der Deutschen Dermatologischen Fachgesellschaft empfohlen. Die drei hier streitgegenständlichen Behandlungen seien nicht ambulant, sondern nur stationär möglich gewesen; bei stationärer Behandlung finde nicht § 135 SGB V, sondern § 137c SGB V und die dazu erlassenen Richtlinien des G-BA An-wendung. Für neue Behandlungsmethoden gelte – anderes als im ambulanten Bereich – kein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, sondern eine grundsätzliche Erlaubnis, solange der G-BA diese nicht ausgeschlossen habe. Da eine ablehnende Stellungnahme des G-BA für die Anwendung von IVIG bei Pemphigus vulgaris nicht vorliege, habe die stationäre Behandlung zu Lasten der Beklagten durchgeführt werden können.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, ihr 16.204,66 Euro nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunk-ten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 10.535,52 Euro seit dem 09.01.2007 und aus 16.204,66 Euro seit dem 21.08.2007 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie räumt ein, dass auch die hier streitgegenständlichen drei Behandlungen aus dem Jahre 2006 nicht ambulant, sondern nur stationär durchgeführt werden konnten. Dies hat auch der MDK so festgestellt. Die Beklagte weist darauf hin, dass der Einsatz von IVIG (Intratect®) im Fall des Versicherten ein so genannter Off-label-use gewesen sei; die Behandlungsmethode sei experimentell und vom G-BA nicht anerkannt. Die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien für einen Off-label-use seien nicht erfüllt; insofern sei unerheblich, ob die Behandlung ambulant oder stationär erfolgt sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist als (echte) Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Bei einer auf Zah¬lung der (Rest-)Behandlungskosten eines Versicherten gerichteten Klage eines Kranken¬hauses gegen eine Krankenkasse geht es um einen so genannten Parteien¬streit im Glei¬chordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt (vgl. BSG, Urteil vom 17.06.2000 - B 3 KR 33/99 R = BSGE 86,166 = SozR 3-2500 § 112 Nr. 1; Urteil vom 23.07.2002 - B 3 KR 64/01 R = SozR 3-2500 § 112 Nr. 3). Ein Vor¬verfahren war mithin nicht durchzuführen, die Einhaltung einer Klagefrist nicht geboten.

Die Klage ist auch begründet.

Rechtsgrundlage des geltenden gemachten restlichen Vergütungsanspruchs der Kläge-rin ist § 109 Abs. 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) i.V.m. dem aus § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V folgenden Krankenhausbehandlungsanspruch der Versicherten. Die Zah-lungsverpflichtung der Krankenkasse entsteht unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leis¬tung durch den Versicherten (BSG, Urteil vom 13.12.2001 - B 3 KR 11/01 R = SozR 3-2500 § 112 Nr. 2; Urteil vom 23.07.2002 - B 3 KR 64/01 R = SozR 3-2500 § 112 Nr. 3). Die näheren Einzelheiten über Aufnahme und Entlassung der Versicherten, Kosten-übernahme, Abrechnung der Entgelte sowie die Überprüfung der Notwendigkeit und Dauer der Krankenhausbehandlung ist in den zwischen der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen einerseits und verschiedenen Krankenkassen sowie Landesver-bänden der Krankenkasse andererseits geschlossenen Verträge nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGB V geregelt. Es sind dies der Vertrag über allgemeine Bedingungen der Kran-kenhausbehand¬lung (KBV) und der Vertrag zur Überprüfung der Notwendigkeit und Dauer der Krankenh¬ausbehandlung (KÜV).

Der Vergütungsanspruch des Krankenhauses gegen die Krankenkasse hängt wie der entsprechende Leistungsanspruch des Versicherten davon ab, dass die stationäre Krankenhausbehandlung erforderlich ist (§§ 27 Abs. 1 Satz 1, 39 Abs. 1, Satz 2 SGB V). Die Erforderlichkeit einer stationären Behandlung ist (auch) für die hier streitigen drei Krankenhausbehandlungen vom MDK geprüft und bejaht worden; wie die Beklagte hat auch das Gericht keine Bedenken, sich dieser Beurteilung, die in Einklang mit derjenigen der behandelnden Krankenhausärzte steht, anzuschließen.

Der Anspruch auf Krankenhausbehandlung umfasst nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3 i.V.m § 31 Abs. 1 SGB V auch die Versorgung mit den für die Krankenbehandlung not-wendigen Arzneimitteln. Der Behandlungs- und Versorgungsanspruch eines Versicherten unterliegt allerdings den sich aus § 2 Abs. 1 und 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Er umfasst folglich nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Allein ein im Einzelfall positiver Behandlungserfolg oder die Befürwortung einer Therapie durch einzelne Ärzte begründet noch keine Leistungspflicht der Krankenkasse (BSG, Urteil vom 19.10.2004 – B 1 KR 27/02 R – m.w.N.). Pharmakotherapien erfüllen grundsätzlich die Anforderungen der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit nicht, wenn das verabreichte Medikament nach den Vorschriften des Arzneimittelrechts der Zulassung bedarf, aber nicht zugelassen ist. Aber auch dann, wenn ein Arzneimittel zum Verkehr zugelassen ist, kann es grundsätzlich nicht zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt. BSG, Urteil vom 19.03.2002 – B 1 KR 37/00 R). Eine solche zulassungsüberschreitende Anwendung (sog. Off-label-use) lag bei den drei streitbefangenen stationären Krankenhausbehandlungen des Versicherten vor, als dieser mit IVIG (Intratect®) behandelt wurde. Denn Intratect® besitzt derzeit keine Zulas-sung zur Behandlung von Pemphigus vulgaris.

Der Ausschluss eines Off-label-Gebrauchs von Arzneimitteln in der gesetzlichen Krankenversicherung gilt allerdings nicht ausnahmslos. In der medizinischen Diskussion besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass in bestimmten Versorgungsbereichen und bei einzelnen Krankheitsbildern auf einen die Zulassungsgrenzen überschreitenden Einsatz von Medikamenten nicht völlig verzichtet werden kann, wenn den Patienten eine dem Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung nicht vorenthalten werden soll. Wegen des Vorrangs des Arzneimittelrechts muss ein Off-label-use zu Lasten der GKV jedoch auf Fälle beschränkt werden, in denen einerseits ein unabweisbarer und anders nicht zu befriedigender Bedarf an der Arzneitherapie besteht und andererseits die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung hinreichend belegt sind. Die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwen-dungsgebiet kommt deshalb – jedenfalls im ambulanten Bereich – nur in Betracht, wenn

1. es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, 2. keine andere Therapie verfügbar ist und 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffen-den Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.

Damit Letzteres angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit eines Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässiger, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG, Urteil vom 19.03.2002 – B 1 KR 37/00 R).

Diese drei Ausnahmekriterien, die kumulativ erfüllt sein müssen, liegen in den drei streitigen Behandlungsfällen nicht sämtlich vor. Zwar handelt es sich bei Pemphigus vulgaris um eine schwerwiegende, weil die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung; auch lässt sich den jeweiligen Berichten der Krankenhausärzte über den Verlauf der drei stationären Behandlungsphasen entnehmen, dass im Hinblick auf die eingetretenen Komplikationen und Nebenwirkungen anderer Arzneimittel keine andere Therapie verfügbar war. Jedoch fehlt es, als die Krankenhausärzte dem Versicherten IVIG (Intratect®) verabreicht haben, an der dritten Voraussetzung für einen zulässigen Off-label-use. Es liegen keine ausreichenden Daten vor, die die Wirksamkeit von Intracet® bei Pemphigus vulgaris belegen. Weder die Befürwortung in einzelnen fachmedizinischen Artikeln (vgl.z.B. "New England Journal of Medicine 2006, 1772 ff) noch der Hinweis in den Leitlinien der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft zur "Anwendung von hochdosierten, intravenösen Immunglobulinen in der Dermatologie" (Stand: 12/2008), wonach bei allen schweren und therapieresistenten Autoimmunerkrankungen eine Indikation für die Anwendung von IVIG besteht und sich IVIG bei Pemphigus vulgaris als besonders hilfreich erwiesen hat, erfüllen das dritte Kriterium für einen zugelassenen Off-label-use. Es lieben keine qualifizierten Forschungsergebnisse vor, die erwarten lassen, dass Intratect® für die Behandlung von Pemphigus vulgaris zugelassen werden kann. Weder ist die Erweiterung der Zulassung dieses Arzneimittels bereits beantragt, noch liegen Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III vor, die eine klinische relevante Wirk-samkeit und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen; auch liegen keine außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnenen Erkenntnisse vor, die über die Qualität und Wirksamkeit von Intratect® zur Behandlung von Pemphigus vulgaris zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen.

Die vorstehenden Ausführungen des Off-label-use von Intratect® bei Pemphigus vulgaris gelten jedoch nur für einen Einsatz im ambulanten Bereich. Anders ist der Off-label-use eines Arzneimittels im stationären Bereich zu beurteilen. Bei der Be-handlung Pemphigus vulgaris mit IVIG – hier: Intratect® - handelt es sich um eine neue Behandlungsmethode. Während für den Bereich der ambulanten Versorgung bezüglich neuer Behandlungsmethoden ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt gilt (§ 135 Abs. 1 SGB V; positive Entscheidung des G-BA in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V), ist die rechtliche Konstruktion für den stationären Bereich durch § 137c SGB V so ausgestaltet, dass neuartige Behandlungsverfahren im Rahmen einer Krankenhausbehandlung keiner besonderen Zulassung bedürfen und nur dann ausgeschlossen sind, wenn der G-BA dazu eine negative Stellungnahme abgegeben hat. Der sachliche Grund für diese unterschiedliche rechtliche Behandlung besteht darin, dass der Gesetzgeber die Gefahr eines Einsatzes zweifelhafter oder unwirksamer Maßnahmen wegen der internen Kontrollmechanismen und der anderen Vergütungsstrukturen im Krankenhausbereich geringer einstuft als bei der Behandlung durch einzelne niedergelassene Ärzte (BSG, Urteil vom 19.02.2003 – B 1 KR 1/02 R). Werden in der ambulanten Versorgung ausgeschlossene Behandlungsmethoden im stationären Bereich erbracht, kommt demgemäß eine Prüfung dieser stationären Leistungen anhand der in der ambulanten Versorgung geltenden rechtlichen Maßstäbe nicht in Betracht (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18.03.2010 – L 9 KR 280/08). Da die Gabe intravenöser Immunglobuline mittels Intratect® zur Behandlung der Pemphigus vulgaris für die stationäre Versorgung nicht ausgeschlossen war und ist, besteht ein Vergütungsanspruch der Klägerin auch im Hinblick auf diesen Bestandteil der Rechnungen der drei streitigen Behandlungen im Jahre 2006.

Die Kammer verkennt nicht, dass die Regelung des § 137c Abs. 1 SGB V nicht im Sinne einer generellen Erlaubnis aller beliebigen Methoden für das Krankenhaus mit Verbotsvorbehalt ausgelegt werden darf. § 137c SGB V setzt die Geltung des Quali-tätsverbots aus § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V auch im stationären Bereich nicht außer Kraft. Eine Krankenhausbehandlung, die nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt und deshalb für den Patienten Schadensersatzansprüche sowie für den Kran-kenhausarzt strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht, muss nicht von den Krankenkasse bezahlt werden (BSG, Urteil vom 28.07.2008 – B 1 KR 5/08 R). Es liegen jedoch keine Anhaltspunkte vor, dass die Krankenhausärzte im Verlauf der drei streitigen Behandlungsphasen IVIG nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst eingesetzt haben. Im Gegenteil: Die Entlassungsberichte vom 18.09.2006 über die Behandlung vom 22.08. bis 18.09.2006, vom 03.11.2006 über die Behandlung vom 25.10. bis 03.11.2006 und vom 16.12.2006 über die Behandlung vom 14.11. bis 16.12.2006 machen deutlich, wie schwerwiegend der Verlauf des Krankheitsbildes des Versicherten auch während stationärer Krankenhausbehandlungen war und wie schwierig sich die medikamentöse Therapie der Pemphigus vulgaris darstellte. Die Berichte lassen deutlich erkennen, dass ein Therapiestandard, wenn es einen solchen überhaupt für die Krankheit gibt, versagt hatte und die Krankenhausärzte die Behandlung auf den Versicherten individuell zuschneiden mussten. Selbst wenn dieses der Beklagten "experimentell" erscheint, bedeutet es nicht, dass es nicht den Regeln der ärztlichen Kunst entsprach.

Der Leistungsanspruch des Versicherten auf die Behandlung mit IVIG (Intratect®) und damit korrespondierend der Vergütungsanspruch der Klägerin ergibt sich auch unter Berücksichtigung des Verfassungsrechts. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seiner Entscheidung vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98) entschieden, dass die Leistungsverweigerung einer Krankenkasse, die unter Berufung darauf erfolgt, dass eine bestimmte neue ärztliche Behandlungsmethode der GKV ausgeschlossen ist, weil der zuständige G-BA diese noch nicht anerkannt oder diese sich zumindest in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion noch nicht durchgesetzt hat, gegen das Grundgesetz verstößt, wenn kumulativ folgende Voraussetzungen erfolgt sind:

1. es liegt eine lebensbedrohliche regelmäßig tödliche Erkrankung vor, 2. bezüglich dieser Erkrankung steht eine allgemein anerkannte medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung, 3. bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode besteht eine "auf Indizien gestützte" nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens spürbare positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf.

Nach Auffassung des BSG sind diese vom BVerfG zur Anwendbarkeit von neuen Be-handlungsmethoden entwickelten Grundsätze auch auf die Versorgung von Arzneimitteln anzuwenden, weil sachliche Gründe dafür, danach zu unterscheiden, ob der krankenversicherungsrechtliche Anspruch des Versicherten auf eine bestimmte Art der ärztlichen Behandlung oder auf die Versorgung mit einem Arzneimittel gerichtet ist, nicht ersichtlich sind (BSG Urteil vom 04.04.2006 – B 1 KR 7/05 R). Dabei fordert das BSG (a.a.O.), dass - kein Verstoß gegen das Arzneimittelrecht vorliegt , - unter Berücksichtigung des gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes, der voraussichtliche Nutzen gegenüber den Risiken überwiegt und - die fachärztliche Behandlung auch im Übrigen den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend durchgeführt und ausreichend dokumentiert wird.

All diese Voraussetzungen der Rechtsprechung des BVerfG und des BSG sieht die Kammer für die Behandlung des Versicherten mit IVIG (Intratect®) im Verlauf der drei streitbefangenen stationären Krankenhausbehandlungen des Versicherten im Jahre 2006 als erfüllt an. Pemphigus vulgaris ist eine schwerwiegende Erkrankung, die – unbehandelt – lebensbedrohlich und regelmäßig tödlich verläuft und sogar bei Behandlung in 5% der Fälle einen tödlichen Verlauf nimmt. Im Verlauf der drei streitbefangenen stationären Behandlungen stand, als Intratect® zum Einsatz kam, eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung (nicht) mehr zur Verfügung; die Pemphigus vulgaris hatte sich als therapieresistent erwiesen und der Versicherte befand sich zeitweise in einem potenziell lebensbedrohlichen Zustand; zuvor durchgeführte "Standardtherapien" hatten keinen Erfolg mehr erbracht. Unter diesen Voraussetzungen bestand eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf eine zumindest spürbar positive Entwicklung des Krankheitsverlaufes durch den Einsatz von IVIG. Es genügte, dass sich die Krankenhausärzte auf Indizien stützen konnten. Solche ergaben sich zum einen aus der wissenschaftlichen Literatur, zum anderen aus den Leitlinien der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft. Der Einsatz von Intratect® verstieß auch nicht gegen das Arzneimittelrecht. Angesichts des schwerwiegenden Krankheitsverlaufs und der schwierigen Therapielage, wie sie sich aus den jeweiligen Krankenhausberichten ergibt, durften die Ärzte davon ausgehen, dass bei Abwägung von Chancen und Risiken der voraussichtliche Nutzen überwiegen würde. Auch im Übrigen wurde die Behandlung entsprechend den Regeln der ärztlichen Kunst durch-geführt.

Der Zinsanspruch in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 09.01.2007 bzw. seit dem 21.08.2007 ist unter dem Gesichtspunkt des Verzuges begrün-det. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 KBV sind Rechnung innerhalb von 15 Kalendertagen nach Eingang zu begleichen. Die Rechnungen vom 25.10.2006 und 07.11.2006, aus denen die Beklagte 10.535,52 Euro unbezahlt ließ, lagen der Beklagten spätestens am 25.12.2006, die weitere Rechnung vom 28.02.2007, die in Höhe von 9.720,04 Euro unbezahlt blieb, spätestens am 06.08.2007 vor; die 15-Kalendertage-Frist war daher für die beiden erstgenannten Rechnungen jedenfalls am 09.01.2007, für die weitere Rechnung am 21.08.2007 abgelaufen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1, Satz 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 1, 162 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs. 1, Satz 1 SGG i.V.m. §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 52 Abs. 1 und 3 Gerichtskostengesetz (GKG).
Rechtskraft
Aus
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