S 13 KN 314/11 KR

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KN 314/11 KR
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf häusliche Krankenpflege (HKP) in Form nächtlicher Beatmungsüberwachung für die Zeit ab 25.07.2011.

Der am 00.00.00 geborene Kläger ist von Geburt an wegen einer spastischen Tetraparese und einer Abflussstörung mit Stauung des Hirnwassers (Hydrocephalus internus) mehrfach geistig und körperlich schwerstbehindert. Seine Eltern sind seine amtsgerichtlich bestellten Betreuer. Der Kläger ist auch schwerstpflegebedürftig und erhält Pflegeversicherungsleistungen nach der Pflegestufe III. Vom 18.06.2007 bis 16.04.2011 war er stationär in einer Einrichtung der Lebenshilfe e.V. untergebracht und wurde dort versorgt und gepflegt. Im November 2009 wurde bei ihm eine ventilatorische (Atem)Insuffizienz festgestellt. Seit dem erhält er eine nächtliche nichtinvasive Beatmungstherapie mit Beatmungsmaske und Beatmungs(sauerstoff)gerät. Die Überwachung der Beatmungstherapie erfolgte bis 16.04.2011 im Rahmen der stationären Heimunterbringung durch das dortige Pflegepersonal. Seit 16.04.2011 wohnt der Kläger (wieder) im Hause seiner Eltern; diese erbrachten zunächst allein die Pflege. Seit Oktober 2011 erbringt (zusätzlich) ein ambulanter Pflegedienst Leistungen der Grundpflege wie Waschen, Ankleiden, Windeln wechseln, Anreichen von Nahrung, zudem Leistungen der hauswirtschaftlichen Versorgung. Der Pflegedienst ist täglich von 06.30 Uhr bis 09.30 Uhr und von 17.00 Uhr bis 22.00 Uhr im Einsatz. Die Pflegekasse zahlt hierfür Pflegegeld von monatlich 1.510,00 ? (bis Dezember 2011) bzw. 1.550,00 ? (seit Januar 2012). Tagsüber ist der Kläger an fünf Tagen in der Woche in einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt. Die Eltern haben, seitdem der Kläger wieder bei ihnen wohnt, d.h. seit April 2011 die nächtliche Beatmungsüberwachung bis heute selbst sicher gestellt.

Am 24.06.2011 beantragte der Kläger HKP durch Bereitstellung einer Pflegeperson zur nächtlichen Beatmungsüberwachung mit der Begründung, seine Eltern seien auf Dauer damit überfordert. Eine entsprechende vertragsärztliche HKP-Verordnung legte der Kläger nicht vor; er gab an, diese werde von der Arztpraxis ?blockiert?. Auf Nachfrage der Beklagten bei dem behandelnden Hausarzt und dem behandelnden Lungenfacharzt erklärten diese, sich einer HKP-Verordnung nicht versperrt zu haben, sahen sich jedoch außerstande, die Notwendigkeit der begehrten Leistung zu beurteilen, und verwiesen auf den jeweils anderen Arzt. Der Pflegedienst, der die Pflege übernehmen sollte, erklärte am 18.07.2011, es sei eine achtstündige Betreuung durch qualifiziertes Fachpersonal notwendig; die Versorgung sei ab 25.07.2011 sicherzustellen. Im Nachgang dazu legte der Kläger eine vertragsärztliche HKP-Verordnung des Allgemeinmediziners T. vom 15.07.2011 für eine ?nächtliche Beatmung? von 22.30 Uhr bis 06.30 Uhr täglich, siebenmal wöchentlich, für den Zeitraum vom 25.07. bis 30.09.2011 vor.

In einer von der Beklagten eingeholten Stellungnahme ihres sozialmedizinischen Dienstes (SMD) vom 04.08.2011 stellte der Internist M. nach Aktenlage fest, es sei nur erforderlich, dass für den konkreten Sitz der Beatmungsmaske gesorgt werde; dies könne jeder angelernte Laie wie zurzeit auch die Eltern. Es liege keine Maßnahme der Behandlungspflege im Sinne der einschlägigen Richtlinien vor.

Gestützt hierauf lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 12.08.2011 die beantragte HKP in Form nächtlicher Beatmungsüberwachung für die Zeit vom 25.07. bis 30.09.2011 ab.

Dagegen erhob der Kläger am 15.08.2011 Widerspruch. Er legte u.a. den Schwerbehindertenausweis seines Vaters vor, in dem ein Grad der Behinderung von 100 und das Merkzeichen G anerkannt ist, desweiteren ein Attest bezüglich seiner Mutter, wonach dieser wegen orthopädischer Leiden durchgängige Hebe- und Tragetätigkeiten (Pflege des Sohnes) dauerhaft nicht mehr zuzumuten sind.

Durch Widerspruchsbescheid vom 05.10.2011 wies die Beklagte den Widerspruch gegen die Ablehnung der HKP in Form nächtlicher Beatmungsüberwachung für die Zeit vom 25.07. bis 30.09.2011 zurück.

Dagegen hat der Kläger am 07.11.2011 Klage erhoben.

Bereits am 26.09.2011 hatte der Kläger eine Verordnung über HKP in Form nächtlicher Beatmungsüberwachung für die Zeit vom 01.10. bis 31.12.2011 erhalten, die er der Beklagten vorlegte. Diese lehnte die Leistung durch Bescheid vom 10.10.2011 ab und wies den dagegen erhobenen Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 08.11.2011 zurück. Dagegen hatte der Kläger keine Klage erhoben.

Der Kläger trägt vor, es sei notwendig, dass die Beatmungsmaske korrekt sitze; er sei unruhig, die Maske verrutsche oft bzw. er reiße sie sich vom Gesicht. Seinen Eltern sei die Überwachung der nächtlichen Beatmung nicht mehr zumutbar; sie seien völlig erschöpft und gesundheitlich dazu nicht mehr in der Lage, auch wenn sie die nächtliche Betreuung bisher noch selbst geleistet und insoweit keine Fremdpersonen eingeschaltet hätten und dafür dementsprechend auch keine Kosten angefallen seien.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12.08.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.10.2011 zu verurteilen, ihm ab 25.07.2011 Leistungen der häuslichen Krankenpflege in Form der Überwachung der nächtlichen Beatmung täglich von 22.30 Uhr bis 06.30 Uhr zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verbleibt bei ihrer ablehnenden Entscheidung. Sie verweist darauf, dass Streitgegenstand im vorliegenden Verfahren allein die Übernahme der Kosten der Hilfeleistung ?nächtliche Beatmung? für die Zeit vom 25.07. bis 30.09.2011 im Rahmen der HKP sei. Da die Eltern in diesem Zeitraum die nächtliche Beatmungsüberwachung sichergestellt hätten und keine Kosten entstanden seien, sei allenfalls für die Zukunft über den Anspruch auf Kostenübernahme nach Vorlage entsprechender Verordnungen zu entscheiden.

Das Gericht hat zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts und der Erforderlichkeit der HKP Befundberichte des Lungenfacharztes A. , des Hausarztes T., eine Stellungnahme der Lebenshilfe e.V. über die Beatmungspflege bis April 2011 sowie ein medizinisches Sachverständigengutachten von dem Chefarzt der Klinik für Pneumologie der Kliniken Maria Hilf in Mönchengladbach, Dr. N. mit ergänzender Stellungnahme eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Befundberichte vom 14.12. und 22.12.2011, die Auskunft vom 12.01.2012 und das Gutachten mit ergänzender Stellungnahme vom 25.07. und 12.09.2012 verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten und der Sozialgerichtsakten S 13 KN 4/99 KR, S 21 (4) KN 15/06 KR und S 15 KN 42/07 P, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist teilweise unzulässig; soweit sie zulässig ist, ist sie jedoch nicht begründet.

Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist allein der angefochtene Bescheid vom 12.08.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.10.2011, durch den Leistungen der HKP in Form der Überwachung der nächtlichen Beatmung für die Zeit vom 25.07. bis 30.09.2011 abgelehnt worden ist. Soweit der Kläger sein Begehren auch auf danach liegende Zeiträume ab 01.10.2011 und auch auf die Zukunft erstreckt, ist die Klage unzulässig. Hinsichtlich des Zeitraums vom 01.10. bis 31.12.2011 hat die Beklagte den entsprechenden HKP-Antrag durch Bescheid vom 10.10.2011 und Widerspruchsbescheid vom 08.11.2011 abgelehnt. Da hiergegen trotz entsprechender Rechtsbehelfsbelehrung keine Klage erhoben worden ist, sind die Bescheide bestandskräftig geworden. Hinsichtlich des weiteren Zeitraums ab 01.01.2012 ist die Klage unzulässig, weil es an einem entsprechenden Leistungsantrag unter Vorlage einer entsprechenden vertragsärztlichen Verordnung, an der Durchführung eines entsprechenden Verwaltungsverfahrens, einem (Ablehnungs-)Bescheid und an der nach § 78 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) dann erforderlichen Durchführung eines Widerspruchsverfahrens fehlt.

Der den Zeitraum vom 01.10. bis 31.12.2011 betreffende Bescheid vom 10.10.2011 und der Widerspruchsbescheid vom 08.11.2011 sind nicht Gegenstand dieses Klageverfahrens bzw. des vorausgegangenen Widerspruchsverfahrens geworden. Denn sie erfüllen die Voraussetzungen des § 96 Abs. 1 bzw. des § 86 SGG nicht. Nach § 96 Abs. 1 SGG wird ein neuer Verwaltungsakt nach Klageerhebung nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Nach § 86 SGG wird ein neuer Verwaltungsakt, der während des Vorverfahrens den Verwaltungsakt abändert, Gegenstand des Vorverfahrens. An einer solchen abänderten oder ersetzenden Funktion fehlt es, wenn der neue Verwaltungsakt bei einer regelmäßig zu erbringenden Leistung einen von dem früheren Verwaltungsakt nicht erfassten späteren Zeitraum betrifft (BSG, Urteil vom 21.11.2002 ? B 3 KR 13/02 R). Es ist ? auch und gerade im Bereich der HKP, die von vielfältigen Voraussetzungen abhängt, ? nicht von vornherein erkennbar, ob es um in allen wesentlichen Punkten gleichgelagerte Sachverhalte geht und sich ausschließlich dieselbe Rechtsfrage stellt. Dies wäre aber unabdingbare Voraussetzung, damit die den Verwaltungsakt erlassende Behörde schon bei der Erstellung des Bescheides entscheiden kann, ob sie bei laufendem Klage- oder Widerspruchsverfahren gegen einen gleichartigen früheren Bescheid erneut eine Rechtsbehelfsbelehrung über die Möglichkeit der Klage bzw. des Widerspruchs zu erteilen oder nunmehr einen Hinweis auf § 96 bzw. § 86 SGG über die Einbeziehung des Verwaltungsaktes in das laufende Verfahren zu geben hat. Auch der Adressat des Bescheides und das Gericht müssen im Falle eines Hinweises nach § 96 bzw. § 86 SGG sofort bei Kenntnisnahme entscheiden können, ob entgegen diesem Hinweis ein Klage- bzw. Widerspruchsverfahren durchzuführen bzw. der Hinweis auf die Einbeziehung in das jeweilige Verfahren zu Recht erfolgt ist. Um dieser Unsicherheit vorzubeugen, ist eine entsprechende Anwendung des § 96 Abs. 1 SGG (und auch des § 86 SGG) auf Folgebescheide für spätere Zeiträume im Bereich der HKP generell abzulehnen (so ausdrücklich: BSG, Urteil vom 21.11.2002 ? B 3 KR 13/02 R). Richtet sich somit die Klage zulässig nur gegen den Bescheid vom 12.08.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.10.2011, also gegen die Ablehnung der HKP vom 25.07. bis 30.09.2011, so ist diese Klage unbegründet. Die Beklagte kann diese Leistung als Sachleistung nicht mehr erbringen, weil der Zeitraum bereits abgelaufen ist. Dem Kläger steht insofern aber auch kein Kostenerstattungsanspruch zu, weil ihm solche Kosten ? z.B. durch Selbstbeschaffung der Leistung ? nicht entstanden sind. Denn seine mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebenden Eltern haben die nächtliche Überwachung der Beatmungstherapie im streitbefangenen Zeitraum, aber auch darüber hinaus bis heute sichergestellt. § 37 Abs. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) bestimmt, dass der Anspruch auf häusliche Krankenpflege nur besteht, soweit eine im Haushalt lebende Person den Kranken in dem erforderlichen Umfang nicht pflegen und versorgen kann. Da die Eltern aber in der Zeit vom 25.07. bis 30.09.2011 die Beatmung des Klägers nächtlich übernommen haben, steht dies einem Anspruch auf Übernahme von Kosten ? zumal solche überhaupt nicht entstanden sind ? entgegen. Auch wenn dies nicht Streitgegenstand ist, erlaubt sich die Kammer den folgenden Hinweis: Der Sachverständige Dr. N. hat in seinem ausführlichen Gutachten vom 25.07.2012 für die Kammer nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass eine durchgehende Therapieüberwachung für die Dauer der nächtlichen, nichtinvasiven Beatmung des mehrfach geistig und körperlich behinderten Klägers medizinisch erforderlich ist. Er hat zugleich dargelegt und erläutert, dass die Überwachung der Beatmung keine hochqualifizierte pflegerische Fachkenntnis erfordert, wie sie in der Betreuung respiratorabhängiger, invasiv über ein Tracheostoma beatmeter Patienten vorausgesetzt wird. Beim Kläger genügt eine Überwachung im Sinne einer assistiven Versorgung durch Pflegepersonal mit geringerem Qualifikationsniveau, auch durch geschulte Laien mit pflegerischen Grundkenntnissen. Der Kläger hat mehrfach und nachvollziehbar dargelegt, dass seine Eltern aufgrund ihres Alters und ihrer eigenen Erkrankungen physisch wie psychisch nicht mehr in der Lage sind, eine durchgängige nächtliche Beatmungsüberwachung zuverlässig sicherzustellen. Nach ihrer eigenen ? nachvollziehbaren ? Einschätzung haben sie bereits die Grenze der eigenen Leistungsfähigkeit bis an den Rand der totalen Erschöpfung überschritten. Auch der Sachverständige Dr. Meyer hat schon in seinem Gutachten dargelegt, dass den Eltern des Klägers aufgrund von deren Alter und gesundheitlichen Einschränkungen pflegerische Maßnahmen nur noch eingeschränkt zumutbar sind. Dies zugrundelegend ist die Kammer davon überzeugt, dass die Eltern nach jahrelanger aufopferungsvoller Pflege des Klägers inzwischen jedenfalls mit dessen nächtlicher Beatmungsüberwachung überfordert sind. Wenn sie die nächtliche Pflege gleichwohl in der Vergangenheit noch durchgeführt haben, so bedeutet dies nicht, dass sie dies auch im Sinne des Ausschlusstatbestandes des § 37 Abs. 3 SGB V können (?pflegen und versorgen kann?). Als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal setzt § 37 Abs. 3 SGB V auch die Zumutbarkeit einer Pflege und Versorgung durch Haushaltsangehörige voraus (vgl. dazu ausführlich: BSG, Urteil vom 30.03.2000 ? B 3 KR 11/99 R). Die Kammer ist daher der Auffassung, dass die Beklagte im Hinblick auf die vorgelegten aktuellen HKP-Verordnungen schnellstmöglich eine Entscheidung über die nächtliche Überwachung der Beatmung des Klägers für die Zukunft, spätestens ab Januar 2013 treffen und die entsprechende Pflege sicherstellen sollte, ohne die Eltern des Klägers weiterhin auf den Ausschlusstatbestand des § 37 Abs. 3 SGB V zu verweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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