Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KN 123/10 KR
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 28.01.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04.05.2010 verurteilt, der Klägerin eine adipositas-chirurgische Behandlung (bariatrische Operation) zu gewähren. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf eine adipositas-chirurgische Behandlung (bariatrische Operation) zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).
Die am 00.00.0000 geborene Klägerin ist seit mehr als 30 Jahren übergewichtig. Sie leidet unter einer Essstörung (Binge-eating), Adipositas Grad III, Bluthochdruck, Diabetes mellitus Typ 2, Hashimoto-Thyreoiditis und Schlafapnoe. Im Juli 2007 beantragte sie erstmals die Durchführung einer bariatrischen Operation durch die Medizinische Klinik III des Universitätsklinikums Aachen (UKA) zur Therapie der morbiden Adipositas. Die Klägerin hatte damals bei einer Größe von 1,62 cm ein Gewicht von 128,9 kg (= BMI 49,1). Vorausgegangen waren u.a. eine mehrmonatige Ernährungsberatung (2003), im April 2004 das Anlegen eines Magenballons, der im November 2004 wieder entfernt wurde, von August bis November 2004 ein ambulanter Gewichtsreduktionsintensivkurs und zahlreiche Diäten inklusive Formula-Diäten über mindestens ein Jahr; diese Maßnahmen führten teilweise zu erheblicher Gewichtsabnahme, blieben jedoch ohne dauerhaften Erfolg (Jo-Jo-Effekt). In einem von der Beklagten veranlassten Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes (SMD) kam Dr. T. im August 2007 zum Ergebnis, es bestehe keine Indikation für die vorgeschlagene ausgedehnte Magenverkleinerungsoperation; die Versicherte sei bereits mehrmals in der Lage gewesen, hochgradig abzunehmen, habe jedoch im Anschluss daran durch ungezügeltes Essen wieder eine hochgradige Gewichtszunahme verursacht; bezüglich einer dauerhaften Gewichtsabnahme sei die Patientin daher als "unbelehrbar" einzustufen; der vorgeschlagene "verstümmelnde" chirurgische Eingriff sei nicht erforderlich und werde nicht befürwortet; möglicherweise sei eine Gewichtsabnahme durch eine länger dauernde antidepressive Therapie oder psychotherapeutische Behandlung zu erreichen.
Gestützt hierauf lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom 14.08.2007 und Widerspruchsbescheid vom 13.12.2007 ab.
In der Folgezeit war die Klägerin zu Adipositastherapie in Behandlung - in der Medizinischen Klinik III des UKA, - bei ihrer Hausärztin Dr. G., - bei dem Neurologen und Psychiater Dr. Q., der eine stationäre Behandlung in einer psychosomatischen Klinik mit Schwerpunkt "Essstörung" empfahl.
Am 01.08.2008 führte die Klägerin ein exploratives Gespräch in der psychosomatischen Klinikambulanz des Ostalb-Klinikums Aalen. Am 04.11.2008 stellte sie sich in der Ambulanz der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der LWL-Klinik Dortmund vor. Ihr Gewicht im August 2008 betrug 124 kg, im November 2008 125 kg. Vom 08.06. bis 05.08.2009 nahm die Klägerin an einer stationären Behandlung in der LWL-Klinik teil. Ihr Aufnahmegewicht betrug 112,5 kg, das Entlassungsgewicht 116,2 kg. Die Ärzte sowohl des Ostalb-Klinikum Aalen als auch der LWL-Klinik Dortmund sahen eine Indikation für eine bariatrische Operation als gegeben an und empfahlen diese.
Daraufhin beantragte die Klägerin am 25.11.2009 erneut die Durchführung einer bariatrischen Operation. Sie legte dazu ein befürwortendes Schreiben der Medizinischen Klinik III des UKA vom 06.11.2009 vor. In einem SMD-Gutachten vom 05.01.2010 maß der Arzt L. ein Gewicht von 118 kg. Er vertrat die Auffassung, aufgrund des bisherigen Verlaufes bestehe durchaus die Möglichkeit einer langfristigen Gewichtsreduktion durch eine konsequente Umstellung der Ernährung ; hierzu liege jedoch wohl keine ausreichende Motivation vor. Die Magen-Bypass-Operation sei nicht als letzte mögliche Therapie anzusehen.
Daraufhin lehnte die Beklagte auch diesen Antrag durch Bescheid vom 28.01.2010 ab. Den dagegen am 10.02.2010 eingelegten Widerspruch wies sie durch Widerspruchsbescheid vom 04.05.2010 zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 10.05.2010 Klage erhoben. Sie hat ihr Begehren ausführlich begründet und umfassende Arztberichte vorgelegt. In der mündlichen Verhandlung hat sie dargelegt, aktuell betrage ihr Gewicht 112 kg. Ihr behandelnder Arzt habe ihr gesagt, sie solle das jetzt erreichte Gewicht möglichst halten und eine Gewichtszunahme vermeiden, da dies für die bariatrische Operation besser sei. Sie habe in der Vergangenheit auch schon erheblich an Gewicht abgenommen, aber es nie geschafft, das Gewicht zu halten.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.01.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04.05.2010 zu verurteilen, ihr eine adipositas-chirurgische Behandlung (bariatrische Operation) zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verbleibt bei ihrer in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Rechtsauffassung und verweist auf aktuelle Stellungnahmen ihres SMD vom 28.07., 12.08. und 08.09.2010. Darin hat Dr. N. die Auffassung vertreten, das "bestehende massive Übergewicht" könne von der Klägerin nur abgebaut werden, "- wenn sie irgendwann einmal den ernsthaften Beschluss fasst, das drastische Übergewicht dauerhaft zu reduzieren, - wenn sie dann (nach ernsthafter Entschließung) langfristig eine kalorienreduzierte Diät einhält, - wenn sie begleitend hierzu regelmäßig körperlich aktiv ist (im Rahmen ihrer durch das exzessive Übergewicht eingeschränkten Möglichkeiten)."
Das Gericht hat zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts einen Befundbericht des UKA (Prof. Dr. O. vom 11.08.2010 eingeholt. Darin wird mitgeteilt, es habe von Mai 2007 bis Juli 2010 eine Ernährungstherapie mit einer Gewichtsreduktion von knapp 30 kg stattgefunden; am 21.07.2010 habe das Gewicht 109,5 kg betragen. Prof. Dr. O. hat erklärt, dass ihres Erachtens alle Voraussetzungen für eine chirurgische Adipositastherapie nach der evidenzbasierten Leitlinie "Prävention und Therapie der Adipositas" vorlägen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Sie hat Anspruch auf eine adipositas-chirurgische Maßnahme in Form einer bariatrischen Operation.
Allgemeine Rechtsgrundlage für die von der Klägerin beantragte bariatrische Operation ist § 27 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Das bei der Klägerin bestehende erhebliche Übergewicht im Sinne einer Adipositas Grad III mit einem Body-Mass-Index (BMI) zwischen 49,1 im Juli 2007 und 41,8 im Juli 2010 hat Krankheitswert. Es wird verursacht durch eine Essstörung (Binge-eating). In der Medizin besteht Einigkeit darüber, dass bei starkem Übergewicht (im Allgemeinen ab einen BMI größer als 30) eine Behandlung mit dem Ziel der Gewichtsreduktion erforderlich ist, weil anderenfalls ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Be¬gleit- und Folgeerkrankungen besteht (BSG, Urteil vom 19.02.2003 - B 1 KR 1/02 R = BSGE 90, 289 = SozR 4-2500 § 137c Nr. 1 = NZS 2004, 140). Die Leistungspflicht der Krankenversicherung für eine chirurgische Therapie der Adipositas kann nicht mit der Erwägung verneint werden, dass für das Übergewicht das krankhafte Essverhalten der Patientin und nicht eine Funktionsstörung des Magens verantwortlich ist. Es trifft zwar zu, dass die operative Verkleinerung des Magens keine kausale Behandlung darstellt, sondern die Verhaltensstörung der Klägerin durch eine zwangsweise Begrenzung der Nahrungsmenge lediglich indirekt beeinflussen soll. Eine solche mittelbare Therapie wird jedoch vom Leistungsanspruch grundsätzlich mit umfasst, wenn sie ansonsten die in § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V aufgestellten Anforderungen erfüllt, also ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist sowie dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspricht (BSG a.a.O.).
Da das Behandlungsziel auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann, ist zunächst zu prüfen, ob eine vollstationäre chirurgische Behandlung unter Berücksichtigung der Behandlungsalternativen (diätetische Therapie, Bewegungstherapie, medikamentöse Therapie, Psychotherapie) notwendig und wirtschaftlich ist. Sodann muss untersucht werden, ob nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion aus medizinischer Sicht die Voraussetzungen für eine chirurgische Intervention gegeben sind. Nach den vorliegenden Leitlinien der Fachgesellschaften (vgl. zuletzt: Evidenzbasierte Leitlinie "Prävention und Therapie der Adipositas", Version 2007 der Deutschen Adipositas-Gesellschaft u.a.) und den einschlägigen Literaturbeiträgen (vgl. z.B. Der Chirurg, Zeitschrift für alle Gebiete der operativen Medizin, Band 76, Heft 7, Juli 2005 mit zahlreichen Beiträgen zur Adipositaschirurgie, dort insbesondere: Schusdziarra/Hausmann/Erdmann, Adipositaschirurgie: Patientenselektion und Indikati-onsstellung, S. 653 ff.) kommt die Implantation eines Magenbandes - so das BSG (a.a.O.) - nur als Ultima Ratio und nur bei Patienten in Betracht, die eine Reihe von Bedingungen für eine erfolgreiche Behandlung erfüllen (BMI von 40 oder darüber; Alter über 18 Jahre; erfolglose konservative Therapie unter Anleitung qualifizierter Fachkräfte; Gewährleistung postoperativer Betreuung). Der wichtigste Punkt für die Indikation zum operativen Vorgehen ist eine erfolglose konservative Therapie. Die konservative Adipositastherapie umfasst ein weites Feld von Therapieansätzen, die vom Eigenversuch mit Außenseitendiäten bis hin zu qualifizierten Abnehmprogrammen unter Anleitung qualifizierter Fachkräfte reichen können. Vor einer operativen Intervention sollten im jeden Fall ein, besser zwei Versuche der Gewichtsreduktion unter Anleitung qualifizierter Fachkräfte und unter Einbeziehung eines multimodalen Therapiekonzeptes durchgeführt worden sein. Ein multimodales Therapiekonzept besteht aus einer kalorienreduzierten Umstellung des individuellen Ernährungsverhaltens. Diese muss kombiniert werden mit einer Steigerung der körperlichen Aktivität und kann letztlich noch durch Medikamente unterstützt werden. Zusätzlich sollte bei diesen Patienten, die ein extremes Übergewicht haben, auch eine psychologische und/oder eine psychiatrische Bewertung der Krankheitssituation erfolgt sein, um endogene Psychosen auszuschließen. Eine qualifizierte, konservative Adipositastherapie sollte präoperativ über mindestens sechs Monate versucht worden sein (Schusdziarra/Hausmann/Erdmann, Der Chirurg 2005, S. 653, 654).
Diese Indikationskriterien erfüllt die Klägerin noch, "noch" deshalb, weil eine Operation bei Personen, die älter als 65 Jahre sind, eine erhöhte Komplikationsrate und ein höheres Morbititätsrisiko mit sich bringen kann (vgl. Leitlinie "Chirurgie der Adipositas" Stand: 4/2010). Die Klägerin war bei der Antragstellung im November 2009 58 Jahre und ist heute 59 Jahre alt. Ihr Gewicht betrug zwischen Juli 2007 und Juli 2010 bei der Körpergröße von 162 cm 128,9 kg bis 109,5 kg; dies entspricht einem BMI zwischen 49,1 und 41,8. Das erhebliche Übergewicht basiert auf einer krankhaften Fettsucht (Binge-Eating-Disorder), die seit mehr als 30 Jahren besteht. Die Klägerin hat deshalb bereits zahlreiche Diäten inklusive Formula-Diäten, einen mehrmonatigen Gewichtsreduktionsintensivkurs und eine - wieder rückgängig gemachte - Magenballonoperation hinter sich, die zwar zu teilweise erheblicher Gewichtsabnahme geführt haben, jedoch ohne dauerhaften Erfolg blieben. Seit Mai 2007 - also seit mehr als 3 Jahren - wird die Klägerin in der Medizinischen Klinik III des UKA fortlaufend ernährungstherapeutisch behandelt. Hinzu kommt eine knapp zweimonatige stationäre Rehabiliationsbehandlung vom 08.06. bis 05.08.2009 in der LWL-Klinik (Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie); zudem hatte sie sich bereits vorher im August 2008 in einer anderen psychosomatischen Klinik vorgestellt und ein Beratungsgespräch geführt. Nicht nur der Hausarzt der Klägerin, sondern drei Fachkliniken, davon zwei nach längerer Behandlung, haben trotz vorübergehender Gewichtsreduktion die beantragte bariatrische Operation empfohlen, nachdem sie festgestellt haben, dass bei der Klägerin die für einen positiven Verlauf der Operation benötigte Bereitschaft zur postoperativen Umstellung der Essgewohnheiten besteht, dass die festgestellten Gewichtsschwankungen von der Tagessituation abhängig und von der Klägerin nicht beherrschbar sind und alle Leitlinien-Indikationsvoraussetzungen erfüllt sind. Exemplarisch und besonders überzeugend wird dies im Entlassungsbericht der LWL-Klinik vom 31.08.2009 dargestellt: "Aufgrund der traumatischen Erfahrung in der Kindheit und emotionalen Unterversorgung durch die primären Bezugspersonen entwickelte die Patientin eine erhöhte Vulnerabilität gegenüber einer depressiven Symptomatik. Berufliche Anforderungen sowie partnerschaftliche Konflikte auf der einen Seite und eine generell erhöhte Vulnerabilität auf der anderen Seite haben zum Ausbruch einer Depression mit Symptomen wie niedergedrückter Stimmung, Antriebsminderung, Grübelneigung und Schlaflosigkeit geführt. Die Essstörung lässt sich als Kompensationsstrategie für mangelnde Zuwendung bestehend sei der frühesten Kindheit verstehen. Die Patientin macht ihr Selbstwertgefühl massiv an ihrem aktuellen Gewicht fest. Hierbei handelt es sich um eine Verlagerung der eigentlichen Kernproblematik der traumatischen Kindheitserfahrungen auf die eigene Person. Die Essanfälle lassen sich als Kompensation einer inneren Leere verstehen, wobei daraus resultierend, ein Attraktivitäts- verlust durch die Gewichtszunahme und körperliche Folgeerkrankungen eine depressive Symptomatik verstärken ... Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass bezüglich der Adipositas konservative gewichtreduzierende Maßnahmen bei einem BMI über 40 kg/m² nicht in der Lage sind, das Körpergewicht langfristig zu reduzieren. Aus diesem Grund besteht aus unserer Sicht eine Indikation für eine adipositaschirurgische Maßnahme. Aus psychosomatischer Sicht bestehen keine Einwendungen."
Soweit die Beklagte unter Hinweis auf den Befundbericht von Prof. Dr. O. (UKA) vom 11.08.2010 der Auffassung ist, offensichtlich sei eine Gewichtsabnahme auch ohne Adipositas-Chirurgie möglich, weil das Gewicht während der dreijährigen Behandlung um ca. 30 kg auf zuletzt 109,5 kg abgenommen habe, verkennt sie, dass auch in diesem dreijährigen Behandlungszeitraum keine kontinuierliche Gewichtsabnahme stattgefunden hat, sondern das Gewicht zeitweilig abgenommen, zeitweilig aber auch zugenommen hat. Betrug das Gewicht im Juli 2007 noch 128,9 kg, so lag es zwei Jahre später zu Beginn der Reha-Behandlung in der LWL-Klinik bei 112 kg. Ein halbes Jahr später stellte der SMD bei seiner Untersuchung im Januar 2010 wieder ein Gewicht von 118 kg fest; aktuell liegt es wieder bei 112 kg. Betrachtet man den Zeitraum von Juni 2009 (112 kg) bis heute (112 kg), so hat sich das Gewicht nicht mehr erheblich reduziert. Die Tatsache, dass das Gewicht im Juli 2010 bei 109,5 kg lag, ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass der behandelnde Arzt der Klägerin ihr dringend geraten hat, das aktuelle Gewicht möglichst lange zu halten, da dies für die beabsichtigte bariatrische Operation günstig sei. Dies schließt aber nach dem psychodynamischen Befund der LWL-Klinik nicht aus, dass das Gewicht der Klägerin bei der nächsten (ungünstigen) Gelegenheit wieder nach oben schnellt.
Angesichts der über einen langen Zeitraum unternommenen Versuche der Klägerin, auf konservativem Wege das Gewicht dauerhaft zu reduzieren, ohne letztlich damit einen dauerhaften Erfolg zu erzielen, und der darauf gründenden substanziierten medizinischen Beurteilungen der LWL-Klinik Dortmund und des UKA, in denen die Indikation für eine bariatrische Operation überzeugend begründet wird, erscheinen der Kammer die SMD-Stellungnahmen - seien sie aus dem Jahre 2007 (Dr. T.) oder aus dem Jahre 2010 (Dr. N.) - wirklichkeitsfern und von grundsätzlicher Ablehnung getragen. Wenn die Klägerin bereits im Jahre 2007 einen Antrag auf eine Magenverkleinerungsoperation gestellt und nach Ablehnung des Antrags über Jahre intensive Bemühungen unternommen hat, das Gewicht auf konservativem Wege zu reduzieren, ohne damit durchschlagenden Erfolg zu erzielen, muss es ihr wie Hohn erscheinen, wenn der von der Krankenkasse aufgezeigte Therapieweg darin besteht, dass die Klägerin "irgendwann einmal den ernsthaften Beschluss fasst, das drastische Übergewicht dauerhaft zu reduzieren, dann (nach ernsthafter Entschließung) langfristig eine kalorienreduzierte Diät einhält und begleitend hierzu regelmäßig körperlich aktiv ist (im Rahmen durch das exzessive Übergewicht eingeschränkten Möglichkeiten)". Die Klägerin hat nicht nur in den letzten drei Jahren, sondern in den letzten drei Jahrzehnten unter Beweis gestellt, dass ihr gerade dies aus eigener Kraft nicht gelingt. Und in den letzten drei Jahren stand sie bei diesen Bemühungen unter ständiger ärztlicher Aufsicht im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzeptes. Am Ende dieses langen Weges haben die behandelnden Ärzte der Klägerin die bariatrische Operation empfohlen. Dies hat die Kammer davon überzeugt, dass die Ultima-ratio-Voraussetzungen für diesen Eingriff erfüllt sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf eine adipositas-chirurgische Behandlung (bariatrische Operation) zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).
Die am 00.00.0000 geborene Klägerin ist seit mehr als 30 Jahren übergewichtig. Sie leidet unter einer Essstörung (Binge-eating), Adipositas Grad III, Bluthochdruck, Diabetes mellitus Typ 2, Hashimoto-Thyreoiditis und Schlafapnoe. Im Juli 2007 beantragte sie erstmals die Durchführung einer bariatrischen Operation durch die Medizinische Klinik III des Universitätsklinikums Aachen (UKA) zur Therapie der morbiden Adipositas. Die Klägerin hatte damals bei einer Größe von 1,62 cm ein Gewicht von 128,9 kg (= BMI 49,1). Vorausgegangen waren u.a. eine mehrmonatige Ernährungsberatung (2003), im April 2004 das Anlegen eines Magenballons, der im November 2004 wieder entfernt wurde, von August bis November 2004 ein ambulanter Gewichtsreduktionsintensivkurs und zahlreiche Diäten inklusive Formula-Diäten über mindestens ein Jahr; diese Maßnahmen führten teilweise zu erheblicher Gewichtsabnahme, blieben jedoch ohne dauerhaften Erfolg (Jo-Jo-Effekt). In einem von der Beklagten veranlassten Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes (SMD) kam Dr. T. im August 2007 zum Ergebnis, es bestehe keine Indikation für die vorgeschlagene ausgedehnte Magenverkleinerungsoperation; die Versicherte sei bereits mehrmals in der Lage gewesen, hochgradig abzunehmen, habe jedoch im Anschluss daran durch ungezügeltes Essen wieder eine hochgradige Gewichtszunahme verursacht; bezüglich einer dauerhaften Gewichtsabnahme sei die Patientin daher als "unbelehrbar" einzustufen; der vorgeschlagene "verstümmelnde" chirurgische Eingriff sei nicht erforderlich und werde nicht befürwortet; möglicherweise sei eine Gewichtsabnahme durch eine länger dauernde antidepressive Therapie oder psychotherapeutische Behandlung zu erreichen.
Gestützt hierauf lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom 14.08.2007 und Widerspruchsbescheid vom 13.12.2007 ab.
In der Folgezeit war die Klägerin zu Adipositastherapie in Behandlung - in der Medizinischen Klinik III des UKA, - bei ihrer Hausärztin Dr. G., - bei dem Neurologen und Psychiater Dr. Q., der eine stationäre Behandlung in einer psychosomatischen Klinik mit Schwerpunkt "Essstörung" empfahl.
Am 01.08.2008 führte die Klägerin ein exploratives Gespräch in der psychosomatischen Klinikambulanz des Ostalb-Klinikums Aalen. Am 04.11.2008 stellte sie sich in der Ambulanz der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der LWL-Klinik Dortmund vor. Ihr Gewicht im August 2008 betrug 124 kg, im November 2008 125 kg. Vom 08.06. bis 05.08.2009 nahm die Klägerin an einer stationären Behandlung in der LWL-Klinik teil. Ihr Aufnahmegewicht betrug 112,5 kg, das Entlassungsgewicht 116,2 kg. Die Ärzte sowohl des Ostalb-Klinikum Aalen als auch der LWL-Klinik Dortmund sahen eine Indikation für eine bariatrische Operation als gegeben an und empfahlen diese.
Daraufhin beantragte die Klägerin am 25.11.2009 erneut die Durchführung einer bariatrischen Operation. Sie legte dazu ein befürwortendes Schreiben der Medizinischen Klinik III des UKA vom 06.11.2009 vor. In einem SMD-Gutachten vom 05.01.2010 maß der Arzt L. ein Gewicht von 118 kg. Er vertrat die Auffassung, aufgrund des bisherigen Verlaufes bestehe durchaus die Möglichkeit einer langfristigen Gewichtsreduktion durch eine konsequente Umstellung der Ernährung ; hierzu liege jedoch wohl keine ausreichende Motivation vor. Die Magen-Bypass-Operation sei nicht als letzte mögliche Therapie anzusehen.
Daraufhin lehnte die Beklagte auch diesen Antrag durch Bescheid vom 28.01.2010 ab. Den dagegen am 10.02.2010 eingelegten Widerspruch wies sie durch Widerspruchsbescheid vom 04.05.2010 zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 10.05.2010 Klage erhoben. Sie hat ihr Begehren ausführlich begründet und umfassende Arztberichte vorgelegt. In der mündlichen Verhandlung hat sie dargelegt, aktuell betrage ihr Gewicht 112 kg. Ihr behandelnder Arzt habe ihr gesagt, sie solle das jetzt erreichte Gewicht möglichst halten und eine Gewichtszunahme vermeiden, da dies für die bariatrische Operation besser sei. Sie habe in der Vergangenheit auch schon erheblich an Gewicht abgenommen, aber es nie geschafft, das Gewicht zu halten.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.01.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04.05.2010 zu verurteilen, ihr eine adipositas-chirurgische Behandlung (bariatrische Operation) zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verbleibt bei ihrer in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Rechtsauffassung und verweist auf aktuelle Stellungnahmen ihres SMD vom 28.07., 12.08. und 08.09.2010. Darin hat Dr. N. die Auffassung vertreten, das "bestehende massive Übergewicht" könne von der Klägerin nur abgebaut werden, "- wenn sie irgendwann einmal den ernsthaften Beschluss fasst, das drastische Übergewicht dauerhaft zu reduzieren, - wenn sie dann (nach ernsthafter Entschließung) langfristig eine kalorienreduzierte Diät einhält, - wenn sie begleitend hierzu regelmäßig körperlich aktiv ist (im Rahmen ihrer durch das exzessive Übergewicht eingeschränkten Möglichkeiten)."
Das Gericht hat zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts einen Befundbericht des UKA (Prof. Dr. O. vom 11.08.2010 eingeholt. Darin wird mitgeteilt, es habe von Mai 2007 bis Juli 2010 eine Ernährungstherapie mit einer Gewichtsreduktion von knapp 30 kg stattgefunden; am 21.07.2010 habe das Gewicht 109,5 kg betragen. Prof. Dr. O. hat erklärt, dass ihres Erachtens alle Voraussetzungen für eine chirurgische Adipositastherapie nach der evidenzbasierten Leitlinie "Prävention und Therapie der Adipositas" vorlägen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Sie hat Anspruch auf eine adipositas-chirurgische Maßnahme in Form einer bariatrischen Operation.
Allgemeine Rechtsgrundlage für die von der Klägerin beantragte bariatrische Operation ist § 27 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Das bei der Klägerin bestehende erhebliche Übergewicht im Sinne einer Adipositas Grad III mit einem Body-Mass-Index (BMI) zwischen 49,1 im Juli 2007 und 41,8 im Juli 2010 hat Krankheitswert. Es wird verursacht durch eine Essstörung (Binge-eating). In der Medizin besteht Einigkeit darüber, dass bei starkem Übergewicht (im Allgemeinen ab einen BMI größer als 30) eine Behandlung mit dem Ziel der Gewichtsreduktion erforderlich ist, weil anderenfalls ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Be¬gleit- und Folgeerkrankungen besteht (BSG, Urteil vom 19.02.2003 - B 1 KR 1/02 R = BSGE 90, 289 = SozR 4-2500 § 137c Nr. 1 = NZS 2004, 140). Die Leistungspflicht der Krankenversicherung für eine chirurgische Therapie der Adipositas kann nicht mit der Erwägung verneint werden, dass für das Übergewicht das krankhafte Essverhalten der Patientin und nicht eine Funktionsstörung des Magens verantwortlich ist. Es trifft zwar zu, dass die operative Verkleinerung des Magens keine kausale Behandlung darstellt, sondern die Verhaltensstörung der Klägerin durch eine zwangsweise Begrenzung der Nahrungsmenge lediglich indirekt beeinflussen soll. Eine solche mittelbare Therapie wird jedoch vom Leistungsanspruch grundsätzlich mit umfasst, wenn sie ansonsten die in § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V aufgestellten Anforderungen erfüllt, also ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist sowie dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspricht (BSG a.a.O.).
Da das Behandlungsziel auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann, ist zunächst zu prüfen, ob eine vollstationäre chirurgische Behandlung unter Berücksichtigung der Behandlungsalternativen (diätetische Therapie, Bewegungstherapie, medikamentöse Therapie, Psychotherapie) notwendig und wirtschaftlich ist. Sodann muss untersucht werden, ob nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion aus medizinischer Sicht die Voraussetzungen für eine chirurgische Intervention gegeben sind. Nach den vorliegenden Leitlinien der Fachgesellschaften (vgl. zuletzt: Evidenzbasierte Leitlinie "Prävention und Therapie der Adipositas", Version 2007 der Deutschen Adipositas-Gesellschaft u.a.) und den einschlägigen Literaturbeiträgen (vgl. z.B. Der Chirurg, Zeitschrift für alle Gebiete der operativen Medizin, Band 76, Heft 7, Juli 2005 mit zahlreichen Beiträgen zur Adipositaschirurgie, dort insbesondere: Schusdziarra/Hausmann/Erdmann, Adipositaschirurgie: Patientenselektion und Indikati-onsstellung, S. 653 ff.) kommt die Implantation eines Magenbandes - so das BSG (a.a.O.) - nur als Ultima Ratio und nur bei Patienten in Betracht, die eine Reihe von Bedingungen für eine erfolgreiche Behandlung erfüllen (BMI von 40 oder darüber; Alter über 18 Jahre; erfolglose konservative Therapie unter Anleitung qualifizierter Fachkräfte; Gewährleistung postoperativer Betreuung). Der wichtigste Punkt für die Indikation zum operativen Vorgehen ist eine erfolglose konservative Therapie. Die konservative Adipositastherapie umfasst ein weites Feld von Therapieansätzen, die vom Eigenversuch mit Außenseitendiäten bis hin zu qualifizierten Abnehmprogrammen unter Anleitung qualifizierter Fachkräfte reichen können. Vor einer operativen Intervention sollten im jeden Fall ein, besser zwei Versuche der Gewichtsreduktion unter Anleitung qualifizierter Fachkräfte und unter Einbeziehung eines multimodalen Therapiekonzeptes durchgeführt worden sein. Ein multimodales Therapiekonzept besteht aus einer kalorienreduzierten Umstellung des individuellen Ernährungsverhaltens. Diese muss kombiniert werden mit einer Steigerung der körperlichen Aktivität und kann letztlich noch durch Medikamente unterstützt werden. Zusätzlich sollte bei diesen Patienten, die ein extremes Übergewicht haben, auch eine psychologische und/oder eine psychiatrische Bewertung der Krankheitssituation erfolgt sein, um endogene Psychosen auszuschließen. Eine qualifizierte, konservative Adipositastherapie sollte präoperativ über mindestens sechs Monate versucht worden sein (Schusdziarra/Hausmann/Erdmann, Der Chirurg 2005, S. 653, 654).
Diese Indikationskriterien erfüllt die Klägerin noch, "noch" deshalb, weil eine Operation bei Personen, die älter als 65 Jahre sind, eine erhöhte Komplikationsrate und ein höheres Morbititätsrisiko mit sich bringen kann (vgl. Leitlinie "Chirurgie der Adipositas" Stand: 4/2010). Die Klägerin war bei der Antragstellung im November 2009 58 Jahre und ist heute 59 Jahre alt. Ihr Gewicht betrug zwischen Juli 2007 und Juli 2010 bei der Körpergröße von 162 cm 128,9 kg bis 109,5 kg; dies entspricht einem BMI zwischen 49,1 und 41,8. Das erhebliche Übergewicht basiert auf einer krankhaften Fettsucht (Binge-Eating-Disorder), die seit mehr als 30 Jahren besteht. Die Klägerin hat deshalb bereits zahlreiche Diäten inklusive Formula-Diäten, einen mehrmonatigen Gewichtsreduktionsintensivkurs und eine - wieder rückgängig gemachte - Magenballonoperation hinter sich, die zwar zu teilweise erheblicher Gewichtsabnahme geführt haben, jedoch ohne dauerhaften Erfolg blieben. Seit Mai 2007 - also seit mehr als 3 Jahren - wird die Klägerin in der Medizinischen Klinik III des UKA fortlaufend ernährungstherapeutisch behandelt. Hinzu kommt eine knapp zweimonatige stationäre Rehabiliationsbehandlung vom 08.06. bis 05.08.2009 in der LWL-Klinik (Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie); zudem hatte sie sich bereits vorher im August 2008 in einer anderen psychosomatischen Klinik vorgestellt und ein Beratungsgespräch geführt. Nicht nur der Hausarzt der Klägerin, sondern drei Fachkliniken, davon zwei nach längerer Behandlung, haben trotz vorübergehender Gewichtsreduktion die beantragte bariatrische Operation empfohlen, nachdem sie festgestellt haben, dass bei der Klägerin die für einen positiven Verlauf der Operation benötigte Bereitschaft zur postoperativen Umstellung der Essgewohnheiten besteht, dass die festgestellten Gewichtsschwankungen von der Tagessituation abhängig und von der Klägerin nicht beherrschbar sind und alle Leitlinien-Indikationsvoraussetzungen erfüllt sind. Exemplarisch und besonders überzeugend wird dies im Entlassungsbericht der LWL-Klinik vom 31.08.2009 dargestellt: "Aufgrund der traumatischen Erfahrung in der Kindheit und emotionalen Unterversorgung durch die primären Bezugspersonen entwickelte die Patientin eine erhöhte Vulnerabilität gegenüber einer depressiven Symptomatik. Berufliche Anforderungen sowie partnerschaftliche Konflikte auf der einen Seite und eine generell erhöhte Vulnerabilität auf der anderen Seite haben zum Ausbruch einer Depression mit Symptomen wie niedergedrückter Stimmung, Antriebsminderung, Grübelneigung und Schlaflosigkeit geführt. Die Essstörung lässt sich als Kompensationsstrategie für mangelnde Zuwendung bestehend sei der frühesten Kindheit verstehen. Die Patientin macht ihr Selbstwertgefühl massiv an ihrem aktuellen Gewicht fest. Hierbei handelt es sich um eine Verlagerung der eigentlichen Kernproblematik der traumatischen Kindheitserfahrungen auf die eigene Person. Die Essanfälle lassen sich als Kompensation einer inneren Leere verstehen, wobei daraus resultierend, ein Attraktivitäts- verlust durch die Gewichtszunahme und körperliche Folgeerkrankungen eine depressive Symptomatik verstärken ... Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass bezüglich der Adipositas konservative gewichtreduzierende Maßnahmen bei einem BMI über 40 kg/m² nicht in der Lage sind, das Körpergewicht langfristig zu reduzieren. Aus diesem Grund besteht aus unserer Sicht eine Indikation für eine adipositaschirurgische Maßnahme. Aus psychosomatischer Sicht bestehen keine Einwendungen."
Soweit die Beklagte unter Hinweis auf den Befundbericht von Prof. Dr. O. (UKA) vom 11.08.2010 der Auffassung ist, offensichtlich sei eine Gewichtsabnahme auch ohne Adipositas-Chirurgie möglich, weil das Gewicht während der dreijährigen Behandlung um ca. 30 kg auf zuletzt 109,5 kg abgenommen habe, verkennt sie, dass auch in diesem dreijährigen Behandlungszeitraum keine kontinuierliche Gewichtsabnahme stattgefunden hat, sondern das Gewicht zeitweilig abgenommen, zeitweilig aber auch zugenommen hat. Betrug das Gewicht im Juli 2007 noch 128,9 kg, so lag es zwei Jahre später zu Beginn der Reha-Behandlung in der LWL-Klinik bei 112 kg. Ein halbes Jahr später stellte der SMD bei seiner Untersuchung im Januar 2010 wieder ein Gewicht von 118 kg fest; aktuell liegt es wieder bei 112 kg. Betrachtet man den Zeitraum von Juni 2009 (112 kg) bis heute (112 kg), so hat sich das Gewicht nicht mehr erheblich reduziert. Die Tatsache, dass das Gewicht im Juli 2010 bei 109,5 kg lag, ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass der behandelnde Arzt der Klägerin ihr dringend geraten hat, das aktuelle Gewicht möglichst lange zu halten, da dies für die beabsichtigte bariatrische Operation günstig sei. Dies schließt aber nach dem psychodynamischen Befund der LWL-Klinik nicht aus, dass das Gewicht der Klägerin bei der nächsten (ungünstigen) Gelegenheit wieder nach oben schnellt.
Angesichts der über einen langen Zeitraum unternommenen Versuche der Klägerin, auf konservativem Wege das Gewicht dauerhaft zu reduzieren, ohne letztlich damit einen dauerhaften Erfolg zu erzielen, und der darauf gründenden substanziierten medizinischen Beurteilungen der LWL-Klinik Dortmund und des UKA, in denen die Indikation für eine bariatrische Operation überzeugend begründet wird, erscheinen der Kammer die SMD-Stellungnahmen - seien sie aus dem Jahre 2007 (Dr. T.) oder aus dem Jahre 2010 (Dr. N.) - wirklichkeitsfern und von grundsätzlicher Ablehnung getragen. Wenn die Klägerin bereits im Jahre 2007 einen Antrag auf eine Magenverkleinerungsoperation gestellt und nach Ablehnung des Antrags über Jahre intensive Bemühungen unternommen hat, das Gewicht auf konservativem Wege zu reduzieren, ohne damit durchschlagenden Erfolg zu erzielen, muss es ihr wie Hohn erscheinen, wenn der von der Krankenkasse aufgezeigte Therapieweg darin besteht, dass die Klägerin "irgendwann einmal den ernsthaften Beschluss fasst, das drastische Übergewicht dauerhaft zu reduzieren, dann (nach ernsthafter Entschließung) langfristig eine kalorienreduzierte Diät einhält und begleitend hierzu regelmäßig körperlich aktiv ist (im Rahmen durch das exzessive Übergewicht eingeschränkten Möglichkeiten)". Die Klägerin hat nicht nur in den letzten drei Jahren, sondern in den letzten drei Jahrzehnten unter Beweis gestellt, dass ihr gerade dies aus eigener Kraft nicht gelingt. Und in den letzten drei Jahren stand sie bei diesen Bemühungen unter ständiger ärztlicher Aufsicht im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzeptes. Am Ende dieses langen Weges haben die behandelnden Ärzte der Klägerin die bariatrische Operation empfohlen. Dies hat die Kammer davon überzeugt, dass die Ultima-ratio-Voraussetzungen für diesen Eingriff erfüllt sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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