S 13 KR 450/16

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KR 450/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 576/17
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 24.05.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2016 und der Rücknahmebescheid vom 06.02.2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.04.2017 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin eine Liposuktion der Unterschenkel beidseits und eine Bruststraffung beidseits zu gewähren. Die notwendigen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf eine Liposuktion der Unterschenkel beidseits und eine Bruststraffung als Sachleistung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), des Weiteren über die Rechtmäßigkeit einer Rücknahme der – fiktiv gemäß § 13 Abs. 3a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) – erteilten Genehmigung dieser Leistungen.

Die 0000 geborene Klägerin litt an erheblichem Übergewicht. 2011 wurde ihr ein Magenbypass gelegt. Danach nahm die Klägerin um ca. 70 kg ab. Infolge der Gewichtsreduktion sowie eines Lipödems kam es zu erheblichen Haut- und Fettgewebsüberschüssen im Bereich der Oberarme und Oberschenkel, der Brüste, des Bauches und der Unterschenkel. Auf befürwortende Empfehlung ihres Sozialmedizinischen Dienstes (SMD) bewilligte die Beklagte durch Bescheid vom 19.01.2015 eine operative Straffung des Oberarm-/Oberschenkelgewebes mittels Dermolipektomie bzw. Liposuktion.

Am 15.04.2016 (Eingang bei der Beklagten) beantragte die Klägerin die operative Straffung ihrer Brüste und der Unterschenkel unter Vorlage einer befürwortenden Stellungnahme des Oberarztes Dr. T. des St. Martinus-Krankenhauses Düsseldorf. Am 18.04.2016 beauftragte die Beklagte den SMD mit der Prüfung und Beantwortung von fünf Fragen zur Notwendigkeit der Leistung; gleichzeitig informierte sie die Klägerin über die Einschaltung des SMD. In seiner Stellungnahme vom 24.05.2016 kam der SMD zum Ergebnis, die beantragte Operation zu Lasten der GKV sei nicht zu empfehlen.

Gestützt hierauf lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 24.05.2016 die beantragte Leistung ab mit der Begründung, sie sei medizinisch nicht indiziert. Hinsichtlich der Liposuktion behauptete die Beklagte, dass diese sich aktuell noch im Stadium der wissenschaftlichen Erprobung befinde und es sich derzeit nicht um eine Leistung der GKV handele.

Dagegen erhob die Klägerin am 07.06.2016 Widerspruch. Zur Begründung verwies sie auf eine ausführliche Stellungnahme des Dr. T. vom 22.09.2016.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 29.11.2016 zurück.

Dagegen hat die Klägerin am 20.12.2016 Klage erhoben (S 13 KR 450/16). Auf Hinweis des Gerichts, dass nach dem aus der Verwaltungsakte ersichtlichen Verfahrensablauf die maßgebliche 5-Wochen-Frist nach § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V zum Zeitpunkt der Erteilung des Bescheides vom 24.05.2016 bereits abgelaufen und daher die Genehmigungsfiktion am 21.05.2016 eingetreten gewesen sei, hat die Beklagte – nach Anhörung der Klägerin – durch Bescheid vom 06.02.2017 die fiktive Genehmigung vom 21.05.2016 "über die Kostenübernahme für eine Liposuktion der Unterschenkel beidseits sowie der Bruststraffung beidseits" mit Wirkung für die Zukunft, gestützt auf § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), zurückgenommen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die fiktive Genehmigung sei rechtswidrig, da sie nicht mit der materiellen Rechtslage übereinstimme; nach der gutachterlichen Stellungnahme bestehe kein Anspruch auf die Kostenübernahme für die Liposuktion.

Dagegen hat die Klägerin am 06.03.2017 Widerspruch erhoben, den die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 05.04.2017 als unbegründet zurückgewiesen hat.

Dagegen hat die Klägerin die am 05.05.2017 Klage erhoben (S 13 KR 189/17).

Das Gericht hat die beiden Verfahren nach Anhörung der Beteiligten und mit deren Zustimmung durch Beschluss vom 19.06.2017 verbunden.

Die Klägerin ist der Auffassung, die fiktive Genehmigung der beantragten Leistungen sei nicht rechtswidrig. Die Liposuktion der Unterschenkel beidseits und die Bruststraffung beidseits seien medizinisch erforderlich.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 24.05.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2016 sowie des Rücknahmebescheides vom 06.02.2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.04.2017 zu verurteilen, ihr eine Liposuktion der Unterschenkel beidseits und eine Bruststraffung beidseits zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie räumt ein, dass die Frist nach § 13 Abs.3a Satz 1 SGB V vor Erlass des Bescheides vom 24.05.2016 abgelaufen und die Genehmigungsfiktion eingetreten ist. Sie meint aber, nicht zur Leistung verpflichtet zu sein, da sie die (fiktive) Genehmigung wirksam zurückgenommen habe, da diese nicht mit der materiellen Rechtslage übereinstimme.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da diese rechtswidrig sind. Die Klägerin hat Anspruch auf eine Liposuktion der Unterschenkel beidseits und eine Bruststraffung beidseits zu Lasten der GKV. Der darauf gerichtete Leistungsantrag der Klägerin vom 15.04.2016 gilt mit Ablauf des 20.05.2016, 24.00 Uhr, also ab 21.05.2016, 00.00 Uhr, als genehmigt. Die Rücknahme dieser (fiktiven) Genehmigung durch Bescheid vom 06.02.2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.04.2017 ist ebenso rechtswidrig wie der Ablehnungsbescheid vom 24.05.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2016.

Nach § 13 Abs.3a SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme insbesondere des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (Medizinischer Dienst) eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden (Satz 1). Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten (Satz 2). Der Medizinische Dienst nimmt innerhalb von drei Wochen gutachtlich Stellung (Satz 3). Eine hiervon abweichende Frist bestimmt Satz 4 nur für den Fall der – hier nicht einschlägigen – Durchführung eines im Bundesmantelvertrag-Zahnärzte (BMV-Z) vorgesehen Gutachterverfahrens. Kann die Krankenkasse die Fristen nach Satz 1 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit (Satz 5). Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt (Satz 6).

Da die Beklagte zur Prüfung des bei ihr am 15.04.2016 eingegangenen Leistungsantrages der Klägerin ihren medizinischen Dienst eingeschaltet hat, lief die 5-Wochen-Frist nach § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V am 20.05.2016 um 24.00 Uhr ab. Da die Beklagte zu diesem Zeitpunkt über den Leistungsantrag noch nicht entschieden hatte, galt und gilt der Leistungsantrag gem. § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V als genehmigt. Diese Genehmigung ist ein Verwaltungsakt. Angesichts des Umstandes, dass der Verwaltungsakt nicht erlassen, sondern fingiert wird, muss sich der Inhalt der fingierten Genehmigung aus dem Antrag in Verbindung mit den einschlägigen Genehmigungsvorschriften hinreichend bestimmen lassen. Die Fiktion kann somit nur dann eintreten, wenn der Antrag so bestimmt gestellt ist, dass die aufgrund des Antrags fingierte Genehmigung bereits im Sinne von § 33 Abs. 1 SGB X hinreichend bestimmt ist (BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R). Gleichwohl dürfen an die Bestimmtheit keine überzogenen Anforderungen gestellt werden. Da der fingierte Verwaltungsakt einem in einem ordnungsgemäßen Verfahren erlassenen – ausdrücklich erteilten – Verwaltungsakt gleichgestellt ist, reicht es aus, wenn sich sein Inhalt aus dem Antrag in Verbindung mit dem einschlägigen Akten im Wege der Auslegung ermitteln lässt (LSG NRW, Urteil vom 06.12.2016 – L 1 R 680/15). In diesem Sinne sind sowohl der Leistungsantrag der Klägerin vom 15.04.2016 ("Antrag auf Kostenübernahme für folgende postbariatrischen Wiederherstellungs-Operationen: 1. Liposuktion Unterschenkel beidseits 2. Bruststraffung beidseits") als auch dessen Genehmigung hinreichend bestimmt.

Der Antrag der Klägerin betraf eine Leistung, die sie für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) lag. Die Regelung des § 13 Abs. 3a SGB V ordnet diese Einschränkungen für die Genehmigungsfiktion zwar nicht ausdrücklich, aber sinngemäß nach dem Regelungszusammenhang und -zweck an. Denn die Genehmigungsfiktion begründet zugunsten des Leistungsberechtigten einen Naturalleistungsanspruch, dem der im Anschluss hieran geregelte, den Eintritt der Genehmigungsfiktion voraussetzende naturalleistungsersetzende Kostenerstattungsanspruch im Ansatz entspricht. Die Begrenzung auf erforderliche Leistungen bewirkt eine Beschränkung auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen (BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R). Die beantragten Leistungen "Liposuktion der Unterschenkel" und "Bruststraffung" unterfallen ihrer Art nach dem Leistungskatalog der GKV. Die Beklagte hatte der bereits durch früheren Bescheid eine operative Straffung des Oberarm-/Oberschenkelgewebes mittels Dermolipektomie bzw. Liposuktion bewilligt.

Aufgrund des Eintritts der Genehmigungsfiktion kann die Klägerin die begehrte Leistung als Sachleistung unmittelbar von der Beklagten verlangen. Dem steht die Ablehnungsentscheidung vom 24.05.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2016 nicht entgegen. Denn die fingierte Genehmigung bleibt wirksam, solange und soweit sie nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (§ 39 Abs. 2 SGB X; vgl. auch BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R). Soweit die Beklagte die fiktive Genehmigung durch Bescheid vom 06.02.2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.04.2017 – gestützt auf § 45 SGB X – zurückgenommen hat, war diese Entscheidung aufzuheben, da sie ihrerseits rechtswidrig ist. Denn die Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 SGB X liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift setzt die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes zuallererst voraus, dass dieser rechtswidrig ist. Dies trifft aber auf die fiktive Genehmigung nicht zu. Entgegen der Auffassung der Beklagten beurteilt sich die Rechtmäßigkeit in Fällen einer fiktiven Genehmigung allein nach den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 13 Abs. 3a SGB V, nicht aber nach den Voraussetzungen des geltend gemachten Naturalleistungsanspruchs (BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R; LSG Saarland, Urteil vom 17.05.2017 – L 2 KR 24/15). Weder hat sich im Fall der Klägerin etwas ergeben, was im Nachhinein die Genehmigung als rechtswidrig ausschließen könnte (z.B. Erwirken der Genehmigung durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung oder Beruhen des Verwaltungsakts auf vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtigen Angaben) noch hat sich die fingierte Genehmigung – für die Versicherte erkennbar – auf andere Weise erledigt (z.B. durch Heilung der ursprünglich behandlungsbedürftigen Krankheit; vgl. dazu: BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R, Rn. 31). Nach der o.g. Rechtsprechung durfte die Beklagte auch nicht auf die materiell-rechtliche Situation abstellen, die sie im Fall der Klägerin als nicht erfüllt ansieht. Da die Genehmigungsfiktion der rechtlichen Grundlage des § 13 Abs. 3a SGB V entspricht, kommt es für die Rechtmäßigkeit der Fiktion nicht darauf an, wie der geltend gemachte Anspruch materiell-rechtlich zu beurteilen ist. Wäre – wie die Beklagte meint – die (fiktive) Genehmigung als rechtswidrig zu qualifizieren, wenn die jeweiligen materiellen Sachleistungsvoraussetzungen nicht vorliegen, käme der Norm des § 13 Abs.3a SGB V keinerlei Regelungsgehalt zu. Könnte die Genehmigungsfiktion durch eine – außerhalb der Frist erfolgende – nachträgliche Prüfung der einzelnen Leistungsvoraussetzungen wieder zurückgenommen werden, würde das Ziel des Gesetzgebers, generalpräventiv die Zügigkeit des Verwaltungsverfahren zu verbessern, ins Leere laufen. Die Möglichkeit der Rücknahme einer (fiktiven) Genehmigung nach § 45 SGB X würde im Übrigen die Versicherten, die nach Ablauf der Frist nicht in der Lage sind, sich die begehrte Leistung selbst zu beschaffen, entgegen des Gleichbehandlungsgebotes nach Artikel 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) praktisch aus dem Schutzbereich des § 13 Abs. 3a SGB V ausschließen (LSG NRW, Beschluss vom 23.05.2014 – L 5 KR 222/14 B ER; SG Aachen, Urteil vom 27.04.2017 – S 15 KR 359/15).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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