S 106 AS 8875/06 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
106
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 106 AS 8875/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Sozialgericht Berlin Invalidenstraße 52

10557 Berlin

Az.: S 106 AS 8875/06 ER

Beschluss In dem Verfahren

- Antragsteller -

Prozessbevollmächtigte:

gegen

JobCenter Marzahn-Hellersdorf, Allee der Kosmonauten 29, 12681 Berlin, - Antragsgegner -

hat die 106. Kammer des Sozialgerichts Berlin am 14. November 2006 durch die Richterin am Verwaltungsgericht Schneidereit beschlossen:
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Entziehungsbescheid vom 7. August 2006 des Antragsgegners in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 2006 wird angeordnet. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Gründe:

I. Der Antragsteller begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Weitergewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der Antragsgegner bewilligte dem Antragsteller durch Bescheid vom 4. Januar 2006 für den Zeitraum vom 1. Juni 2006 bis zum 30. November 2006 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von monatlich 534,50 Euro. Einen Termin des Prüfdienstes zu Überprüfung der Wohnverhältnisse des Antragstellers wegen des Verdachts einer eheähnlichen Gemeinschaft mit Frau B. sagte der Antragsteller am 20. Juli 2006 ab und teilte mit, dass er den Prüfdienst nicht in die Wohnung lassen werde. Mit "Versagungs-/Entziehungsbescheid" vom 7. August 2006, gegen den der Antragsteller Widerspruch eingelegt hat, entzog der Antragsgegner unter Bezugnahme auf § 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) die Leistungen ab 1. September 2006. Der Antragsteller habe trotz Belehrung über die Rechtsfolgen die erforderlichen Angaben nicht gemacht bzw. die Überprüfung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse durch den Prüfdienst nicht zugelassen.

Am 29. September 2006 hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht Berlin einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt. Während des Verfahrens hat der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 5. Oktober 2006, gegen der der Antragsteller rechtzeitig Klage erhoben hat (S 106 AS 8875/06), den Widerspruch des Antragstellers zurückgewiesen. Für November 2006 hat der Antragsteller keine Leistungen erhalten.

Der Antragsteller beantragt,

den Antragsgegner zu verpflichten, ihm Leistungen nach dem SGB II in ungekürzter Höhe zu zahlen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der den Antragsteller betreffenden Verwaltungsakten des Antragsgegners Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

II. Der Antrag des anwaltlich vertretenen Antragstellers war gemäß § 123 SGG als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 7. August 2006 bzw. nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 2006 und Klageerhebung hiergegen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage zu verstehen.

Der so verstandene Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung für die Anfechtungsklage ist zulässig. Gemäß § 86 a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung, diese entfällt jedoch nach § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG, wenn ein Bundesgesetz dies vorschreibt. Eine solche bundesgesetzliche Regelung ist in § 39 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) enthalten. Danach haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung. Mit dem Bescheid vom 7. August 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 2006 hat der Antragsgegner über die Entziehung der an den Antragsteller zu zahlenden Leistungen der Grundsicherung entschieden, so dass weder der Widerspruch noch die Klage gegen den Bescheid aufschiebende Wirkung haben. Der Antrag ist auch nicht deswegen unzulässig geworden, weil der Antragsgegner zwischenzeitlich über den Widerspruch entschieden hat. Zwar mag nunmehr die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nicht mehr möglich sein, jedoch ist eine Umstellung des Antragsverfahrens dahingehend, dass die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet werden soll, unproblematisch zulässig.

Das Aussetzungsbegehren des Antragstellers ist auch begründet. Im Rahmen der bei jeder Entscheidung über die Aussetzung des sofortigen Vollzuges gebotenen Interessenabwägung (vgl. dazu im Einzelnen Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl. 2005, § 86 b Rdnr. 12 a ff.) überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheides vom 7. August 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 2006. An der Rechtmäßigkeit dieses Bescheides bestehen nämlich erhebliche Zweifel, so dass an seiner sofortigen Vollziehung schon deshalb kein durchgreifendes öffentliches Interesse besteht.

Der Bescheid begegnet schon in formell rechtlicher Hinsicht erheblichen Bedenken.

Soweit der Bescheid auf § 66 SGB I gestützt wird, mangelt es ihm schon an dem nach Abs. 3 der Vorschrift zwingend erforderlichen, vorgängigen Hinweis unter Fristsetzung. Von einer der in § 66 Abs. 1 oder Abs. 2 SGB I vorgesehenen Rechtsfolgen darf der Leistungsträger nur Gebrauch machen, sofern der Mitwirkungspflichtige zuvor schriftlich auf die Rechtsfolge hingewiesen und ihm eine angemessene Frist zur Nachholung gesetzt worden ist. Es handelt sich hierbei um eine spezielle Regelung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auch im Verhältnis zu der in § 24 SGB X nominierten Anhörungspflicht. Ein den Anforderungen des § 66 Abs. 3 SGB I entsprechender Hinweis darf sich nicht in einer allgemeinen Belehrung oder der Wiedergabe des Gesetzestextes erschöpfen, sondern es ist ein konkreter unmissverständlich auf den Fall des Antragstellers/Leistungsempfängers bezogener Hinweis mit Ausführungen darüber erforderlich, weshalb gerade in seinem Fall eine bestimmte Mitwirkungshandlung geboten sei, mit welchen konkreten Leistungseinschränkungen - teilweise oder ganz - er zu rechnen habe, wenn er ohne triftigen Grund der Pflicht nicht nachkomme, und gegebenenfalls auch, warum der Leistungsträger solche Gründe hier für nicht gegeben halte ( vgl. Urteil des BSG vom 20. März 1980 - 7 RAr 21/97 - SozR 4100 § 132 Nr. 1; Urteil des BSG vom 25.Oktober1988 – 7 RAr 70/87 - SozR 1200 § 66 Nr. 13). Der Bescheid vom 7. August 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 2006 lässt ein diesen Anforderungen genügendes vorgängiges Verwaltungsverfahren in jeder Hinsicht vermissen. Er ist schon deswegen rechtswidrig.

Daneben hat das Gericht Zweifel, ob sich der Antragsgegner bei Erlass des Bescheides vom 7. August 2006 wie auch bei Erlass des Widerspruchsbescheides darüber im Klaren war, dass ihm § 66 SGB I Ermessen einräumt, wie er im Fall der Nichterfüllung von Mitwirkungspflichten weiter verfahren will. Eine Ermessensausübung im Sinne von § 39 Abs. 1 SGB I ist weder dem Ausgangsbescheid noch dem Widerspruchsbescheid zu entnehmen, so dass hier von Ermessensnichtgebrauch auszugehen ist.

Ist der angegriffene Verwaltungsakt – wie dargestellt - offensichtlich rechtswidrig, kann auch kein überwiegendes Interesse der Allgemeinheit oder eines Dritten an der sofortigen Vollziehbarkeit bestehen. Dies gilt umso mehr vor dem besonderen grundgesetzlichen Gewicht der begehrten Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch. Denn die Leistungen dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens als einer aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip folgenden Pflicht des Staates (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05).

Auf die Frage, ob zwischen dem Antragsteller und der Frau B. eine eheähnliche Gemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 Nr. 3 b SGB II besteht, kam es in diesem Verfahren – das allein die Entziehung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I betrifft – nicht an.

Mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage darf der "Versagungs-/ Entziehungsbescheid" vom 7. August 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 2006 nicht vollzogen werden. Dies bedeutet zugleich, dass von dem Antragsgegner Leistungen aus dem Bewilligungsbescheid vom 4. Januar 2006 über den 1. September 2006 hinaus – vorläufig - weiter zu gewähren sind, soweit dieses nicht bereits geschehen ist. Eine Befristung der Anordnung der aufschiebenden Wirkung hielt das Gericht nicht für erforderlich, da der Bewilligungszeitraum zum 30. November 2006 endet. Das Gericht weist vorsorglich darauf hin, dass für die Leistungen ab Dezember 2006 – sofern bereits ein Folgeantrag gestellt ist -, ggf. ein gesondertes Verfahren zu führen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache. Angesichts dessen bedurfte es keiner Entscheidung über den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe.
Rechtskraft
Aus
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