S 104 AS 6129/07 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
104
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 104 AS 6129/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen. Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten findet nicht statt.

Gründe:

Der (sinngemäße) Antrag der Antragsteller, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verurteilen, ihnen für die Zeit ab 1. Februar 2007 Arbeitslosengeld II (Alg II) ohne Berücksichtigung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des O L I zu gewähren, hat keinen Erfolg.

Der zulässige Antrag ist unbegründet. Soweit die Antragsteller die Gewährung eines höheren Alg II für die Zeit vom 1. Februar 2007 bis zum 11. März 2007, also für die Zeit vor der Antragstellung bei Gericht am 12. März 2007, geltend machen, besteht für die von ihnen begehrte Regelungsanordnung (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –) zumindest kein Anordnungsgrund. Denn den Antragstellern ist es in den in der Vergangenheit liegenden Zeiträumen offensichtlich gelungen, mit den ihnen zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln, den Bedarf der Familie zu sichern. Insoweit erscheint der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht nötig, um wesentliche Nachteile abzuwenden (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig / Keller / Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 8. Auflage, § 86 b, Rndnr. 28).

Gleiches gilt jedoch auch für die Zeit ab dem 12. März 2007 (Tag der Antragstellung). Ob insoweit ein erforderlicher Anordnungsanspruch, d.h. ein nach der Rechtslage gegebener Anspruch auf die einstweilig begehrte Leistung, vorliegt kann in dem hier anhängigen vorläufigen Rechtsschutz- Verfahren nicht abschließend geklärt werden. Die Kammer hält eine vollständige Prüfung der materiellen Rechtslage angesichts deren Komplexität im vorliegenden Eilverfahren nicht für möglich. Hierbei lässt es die Kammer im Ergebnis offen, ob § 9 Abs. 2 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) in der seit dem 1. August 2006 geltenden Fassung mit dem Grundgesetz (GG), insbesondere mit den allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Artikel 1 GG i.V.n. Artikel 2 Abs. 1 GG, vereinbar ist (verneinend: SG Berlin, Beschluss vom 8. Januar 2007 – S 103 AS 10869/06 ER –; SG Berlin, Beschluss vom 7. Mai 2007 – S 119 AS 3841/07 ER –; SG Düsseldorf, Beschluss vom 1. März 2007 – S 24 AS 27/07 ER –; SG Duisburg, Beschluss vom 7. März 2007 – S 17 AS 60/07 ER –). Nach dieser Vorschrift sind bei unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes nicht aus ihrem eigenen Einkommen oder Vermögen beschaffen können, auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Partners zu berücksichtigen. Nach der gegenwärtigen Rechtslage ist also auch das Einkommen und Vermögen des Herrn O L I, der trotz seines beruflich bedingten Aufenthalts in der Schweiz als Ehemann der Antragstellerin zu 1. und damit als Partner nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 a SGB II Mitglied der Bedarfsgemeinschaft ist, in Bezug auf die Hilfebedürftigkeit seiner Stiefkinder, der Antragsteller zu 3. bis 5. zu berücksichtigen. Insoweit bestehen aber jedenfalls Zweifel daran, ob das verfassungsrechtliche Gebot der Sicherung des Existenzminimums aus Art 1 Abs. 1 GG (s.o.) vom Gesetzgeber noch beachtet wurde. Denn die Regelung hat allein die schematische Anrechnung von Einkommen zum Inhalt, ohne dass darauf Rücksicht genommen wird, ob das Existenzminimum des jeweiligen Kindes durch den Stiefvater auch tatsächlich gesichert ist. Soweit dieses nicht der Fall sein sollte, steht dem Kind auch keine (rechtliche) Möglichkeit zur Verfügung (etwa in Form zivilrechtlicher Ansprüche gegenüber dem Stiefvater), zu einer tatsächlichen Deckung seines Bedarfs zu gelangen. Diese Norm ist vorliegend auch entscheidungserheblich, denn im Fall der Verfassungswidrigkeit stünde den Antragstellern zu 3. bis 5. ein Anspruch auf Alg II zu, ohne das eine Anrechnung vorhandenen Vermögens oder Einkommens des Herrn O L I erfolgen könnte. Eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Artikel 100 GG – die Kammer müsste in diesem Fall von der Verfassungswidrigkeit des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II voll überzeugt sein – scheidet vorliegend aus. Dabei kann dahinstehen, ob Artikel 100 Abs. 1 GG grundsätzlich im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht eingreift, da diese Vorschrift lediglich die endgültige Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten will, oder ob eine Vorlage im einstweiligen Anordnungsverfahren jedenfalls dann geboten ist, wenn die beantragte vorläufige Regelung die endgültige Entscheidung weitgehend vorwegnehmen würde (vgl. BVerfGE 46, 43); denn vorliegend würde die Hauptsache durch die Verpflichtung zur nur vorläufigen und zeitlich begrenzten Gewährung von Leistungen jedenfalls nicht vorweg genommen.

Der Antrag war aber abzuweisen, weil jedenfalls kein Anordnungsgrund besteht. Weil eine vollständige Aufklärung der Rechtslage im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Bedenken im vorliegenden Eilverfahren nicht möglich ist, ergeht die Entscheidung anhand einer Folgenabwägung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 596/05 –). Nach eigener Ermessensausübung gelangte die Kammer zu dem Ergebnis, dass die auf Seiten der Antragsteller bestehenden Belastungen den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht rechtfertigen. Hierbei war es der Kammer durchaus bewusst, dass die von den Antragstellern begehrten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen und damit das Existenzminimum absichern; diese Leistungen in Bezug auf die im allgemeinen Persönlichkeitsrecht verankerte Menschenwürde mithin von überragender Bedeutung sind. Unter Berücksichtigung des während des Antragsverfahrens ergangenen Bescheides der Antragsgegnerin vom 19. März 2007 steht jedoch eine Verletzung der Menschenwürde der Antragsteller durch Nichtgewährung des finanziellen Existenzminimums nicht zu befürchten. Hierbei war zu berücksichtigen, dass sich der Streitgegenstand dieses vorläufigen Rechtsschutzverfahrens entsprechend der ergangenen Bescheide vom 2. November 2006 und vom 19. März 2007 auch nur auf die Zeit bis zum 30. April 2007 bezieht. Für den Zeitraum ab dem 1. Mai 2007 ist nach § 37 SGB II ein weiterer Antrag der Antragsteller erforderlich mit der Folge, dass hieraufhin ergehende Bewilligungsbescheide eigenständig anzufechten sind und keinen Bezug zu einem Streitgegenstand aufweisen, der durch vorangegangene Bewilligungsabschnitte gekennzeichnet ist (vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7 b AS 14/06 R). Angesichts der Kürze des relevanten Bewilligungszeitraums (12. März 2007 bis zum 30. April 2007) und den den Antragstellern zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln (Barzahlung i.H.v. 430,00 Euro an die Antragstellerin zu 1. am 15. März 2007 und Überweisung von 435,44 Euro im Monat April 2007 sowie die verfassungsrechtlich unbedenkliche Berücksichtigung des Einkommens von Herrn L I in Bezug auf die Antragstellerin zu 1. [Ehefrau] und die Antragstellerin zu 2. [leibliche Tochter]) konnte das Vorliegen einer existentiellen Notlage nicht glaubhaft gemacht werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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