S 37 AS 2006/13 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
37
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 37 AS 2006/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegner wird verpflichtet, bei Zustandekommen eines Mietvertrages über die Wohnung im B die Unterkunfts- und Heizkosten in Höhe von 340 EUR zu übernehmen. Der Antragsgegner erstattet die außergerichtlichen Kosten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller (Ast.) beantragte am 22.1.2013 die Zusicherung für die Übernahme der Unterkunfts- und Heizkosten einer neuen Wohnung. Als Gründe für einen Umzug hatte er Lärmbelästigungen durch Nachbarn und Schimmel in der bisherigen Wohnung bei Untätigkeit der Hausverwaltung angegeben.

Der Antragsgegner (Ag.) hat die Erforderlichkeit eines Umzugs dem Grunde nach anerkannt, das dem Antrag beigefügte Wohnungsangebot einer 27 qm großen 1-Raum-Wohnung im , B mit 235 EUR Kaltmiete, 65 EUR kalten Betriebskosten und 40 EUR Vorauszahlung für Heizung und Warmwasser aber wegen einer Überschreitung der Quadratmeterhöchstmiete nach § 5 der Verordnung zur Bestimmung der Höhe der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (Wohnaufwendungenverordnung – WAV) als unangemessen beurteilt.

Mit 8,70 EUR/qm Kaltmiete liege der maßgebliche monatliche Quadratmeterpreis der avisierten Wohnung um mehr als 50% über dem gewichteten Mittelwert einfacher Wohnungen in einfacher Wohnlage nach dem Berliner Mietspiegel 2011 (= 4,91 EUR/qm).

Die mit Bescheid vom 23.1.2013 verfügte Ablehnung der Zusicherung einer Übernahme der Unterkunfts- und Heizkosten für die Wohnung im E war dem Ast. telefonisch am 22.1.2013 bekanntgegeben worden. Der Ast. hat deshalb am selben Tag beim Sozialgericht Berlin einen Eilantrag auf Verpflichtung des Jobcenters zur "Übernahme einer Mietgarantie" gestellt; ohne diese Mietgarantie könne er die nur kurze Zeit reservierte Wohnung nicht bekommen. Die hohe Nachfrage nach kleinen Wohnungen, die im Gesamtpreis den WAV-Werten entsprechen, wie es bei der Wohnung im E der Fall sei, erfordere eine schnelle Regelung. In der Vergangenheit seien ihm schon mehrfach Wohnungsangebote wegen anderweitiger Vermietung als Folge einer zu langsamen Prüfung des Jobcenters verloren gegangen. Für einen Bezieher von Alg II sei die Suche nach einer zumutbaren Wohnung inzwischen sehr schwierig geworden.

II.

Der zulässige Eilantrag nach § 86b Abs. 2 SGG ist mit dem tenorierten Regelungsinhalt auch begründet. Der Antrag auf Übernahme einer Mietgarantie war sachdienlich so auszulegen, dass der Ag. verpflichtet wird, die Unterkunfts- und Heizkosten im Falle des Zustandekommens eines Mietvertrages zu übernehmen.

Das erkennende Gericht folgt insoweit der Auffassung, dass eine im Eilverfahren erstrittene Zusicherung nach § 22 Abs. 4 SGB II gegenüber dem Begehren auf Übernahme der poten-tiellen Unterkunfts- und Heizkosten keine Sicherheit bietet. Denn die Zusicherung nach § 22 Abs. 4 SGB II ist für die Übernahme angemessener Unterkunftskosten nicht konstitutiv und gewährleistet daher nicht die Übernahme der künftigen Mietkosten (s. dazu SG Chemnitz vom 26.7.2012 – S 14 AS 3078/12 ER). Das gilt vor allem dann, wenn die bisherigen Unterkunfts- und Heizkosten - insgesamt - unter denen der angestrebten Wohnung liegen, wie es hier der Fall ist. Dann muss der Ag. ungeachtet der hier streitigen Beurteilung der Angemessenheit bis in Höhe der bisher gezahlten Unterkunfts- und Heizkosten auch die Mietkosten für eine neue (unangemessene) Wohnung übernehmen (§ 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II).

Hinreichende Rechtssicherheit kann der Ast. daher nur über eine Verpflichtung des Jobcenters zur vollen Übernahme der Mietkosten der neuen Wohnung, vorbehaltlich des Abschlusses eines Mietvertrages, erlangen.

Die angestrebte Wohnung im E ist entgegen der Ansicht des Ag. angemessen. § 5 WAV steht dem bei sachgerechter Auslegung nicht entgegen.

Die auf § 22b Abs. 1 Satz 3 SGB II gestützte Quadratmeter-Höchstgrenze zielt darauf ab, Mietpreisüberhöhungen "in Anlehnung an den Tatbestand des Mietwuchers" (so ausdrücklich die geplante Neufassung von § 5 WAV) zu verhindern. Die schematische Errechnung einer als unangemessenen gewerteten Qm-Höchstmiete in § 5 Abs. 2 WAV:

"Wird der maßgebliche monatliche Quadratmeterpreis gemäß Spalte 3 der Tabelle A der Anlage 1 zu dieser Verordnung um mehr als 50 vom Hundert überschritten, gelten die tatsächlichen Aufwendungen auch dann nicht als angemessen, wenn der Richtwert für angemessene Aufwendungen nach § 4 nicht überschritten wird".

geht über dieses Regelungsziel hinaus und führt im Ergebnis zu einer Abkehr von der Produkt-theorie. Bei wortgetreuer Anwendung wäre § 5 Abs. 2 WAV daher nicht mehr von der Satzungsermächtigung nach § 22a Abs. 1 Satz 3 SGB II gedeckt. Denn der Gesetzesbegrün-dung zu § 22b Abs. 1 SGB II (BT-Drs. 17/3404, S. 101) lässt sich entnehmen, dass mit der in Satz 3 geschaffenen Regelungsbefugnis eine erweiterte Produkttheorie mit Einbeziehung der Heizkosten ermöglicht werden sollte. Von einem Spielraum dahingehend, die Angemessenheit einer Wohnung gegen die Produkttheorie nach einzelnen Faktoren des Mietpreises beurteilen zu können, ist keine Rede, worauf die Rechenweise in § 5 Abs. 2 WAV aber hinausläuft.

Überdies ist fraglich, ob die Übernahme eines nach der Produkttheorie als angemessen zu bewertenden Mietpreises seitens der SGB II-Träger auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt überzogene Quadratmeterpreise in Richtung Mietwucher nach sich zieht. Tatsächlich dürfte die mit einer QM-Höchstgrenze verbundene Einschränkung der Wohnungssuche eher zu einem Preisschub auf dem für leistungsberechtigte Personen zugänglichen Wohnungsmarkt führen. Berlit hat schon im Jahr 2005 in einer Anmerkungen zum Urteil des BVerwG zur Produkt-theorie (Urteil vom 28.04.2005 – 5 C 15/04) auf solche Effekte hingewiesen:

"Das Urteil führt zu mehr Flexibilität bei den Leistungsberechtigten. Es eröffnet ihnen ein breiteres Spektrum leistungsunschädlich anzumietender Unterkünfte und entlastet so auch den Wohnungsmarkt. Ein Leistungsberechtigter kann eine nach Lage oder sonstigen Ausstattungsmerkmalen bei isolierter Betrachtung partiell unangemessene, weil aus sozialhilferechtlicher Sicht "zu gute" Unterkunft anmieten, wenn sie zu einem besonders günstigen Preis angeboten wird ("Schnäppchen") oder der Endpreis angemessen ist, weil er sich hinsichtlich anderer Ausstattungsmerkmale oder der Wohnungsgröße beschränkt. Der nach dem Urteil mögliche Ausgleich zwischen den einzelnen Parametern, die im Ergebnis die Unterkunftskosten bestimmen, beugt auch einer (räumlichen) Konzentration der Leistungsberechtigten auf die nur in begrenzter Zahl zur Verfügung stehenden, hinsichtlich jedes einzelnen Merkmals (insb. Größe, Lage, Ausstattung, Wohnumfeld) auf Sozial- bzw. Grundsicherungsniveau liegenden Unterkünfte vor und vermeidet eine potenziell kostentreibende Nachfragebündelung auf ein eingegrenztes Wohnungsmarktsegment. Eine Pauschalierung der Unterkunftskosten liegt hierin nicht, weil Leistungen stets nur für tatsächliche Aufwendungen gewährt werden"

Die Ausgestaltung der Qm-Höchstgrenze in § 5 Abs. 2 WAV steht unter diesem Blickwinkel sogar in Konflikt zum Regelungsziel in § 22a Abs. 3 Nr. 1 SGB II.

Ermächtigungskonform muss § 5 WAV mithin so ausgelegt werden, dass die Übernahme eines Mietpreises, der die ortsübliche Miete erheblich überschreitet und eine preissteigernde Wirkung i. S. von § 22a Abs. 3 Nr. 1 SGB II auslösen kann, als unangemessen abgelehnt werden darf, auch wenn die Voraussetzungen für Mietwucher oder eine Mietpreisüberhöhung nach § 5 Wirtschaftsstrafgesetz 1954 – WiStG nicht erfüllt sind (denn wären sie erfüllt, bestünde schon nach §§ 134, 138 BGB keine durchsetzbare Mietzinsforderung, so dass die Miete bereits nach bisheriger BSG-Rechtsprechung, z. B. BSG vom 24.11.2011 – B 14 AS 15/11 R, unangemessen wäre).

Vergleicht man die Mietwerte der vom Ast. avisierten Wohnung mit aktuellen Internet-Angeboten, kann ohne nähere Ermittlungen (zur Notwendigkeit eines Sachverständigen-gutachtens zur Feststellung mietwucherischer Preise s. LG Berlin vom 7.12.2001 - 64 S 553/00) eine auffällige Abweichung von ortsüblichen Mieten ausgeschlossen werden.

Der IBB-Wohnungsmarktbericht 2011 (Seite 50) beschreibt in Überstimmung mit sonstigen Beobachtungen des Berliner Wohnungsmarktes insbesondere im Segment kleiner Single-Wohnungen überdurchschnittliche Preissteigerungen. Trotz einfacher Ausstattung liegen die Mieten für Wohnungen in citynahen Bezirken nicht nur vereinzelt zwischen 8,00 EUR und 9,00 EUR pro Qm.

Dem Ast. kann nicht entgegengehalten werden, dass es in Spandau oder Marzahn-Hellersdorf günstigere Wohnungen gibt. Weil er sich durch Bescheidung auf eine sehr kleine Wohnung im Gesamtpreis im Bereich der WAV-Werte nach § 4 WAV bewegt, steht ihm nach der Produkt-theorie die Wahl frei, trotz Alg II-Bezug in anderen Bezirken wohnen zu können.

Beschränkte man über § 5 WAV dieses Wahlrecht, ergäbe sich gegen § 22a Abs. 3 Nr. 4 SGB II die Gefahr einer Konzentration von Armutsbevölkerung in bestimmten Wohnbezirken.

Ergänzend sei angemerkt, dass die Berechnung der Höchstpreisgrenze für eine 2013 angebo-tene Wohnung anhand der gewichteten Mietspiegelwerte 2011, d. h. aus Datenbeständen mit Stichtag 1.9.2010, angesichts der rasanten Mietpreissteigerungen auch wegen eines veralteten Datenmaterials keine realitätsgerechte Bestimmung überhöhter Mietpreise ermöglicht.

Es besteht nach alldem kein Zweifel daran, dass die avisierte Wohnung inklusive der Heiz- und Warmwasserkosten derzeit angemessen i. S. von § 4 WAV ist. Die sehr üppig bemessenen Abschläge lassen nicht befürchten, dass die Wohnung infolge erhöhter Vorauszahlungen alsbald zu teuer wird.

Das Erfordernis einer einstweiligen Sicherung des Wohnungsangebots ergibt sich aus der vom Vermieter verlangten Mietübernahmegarantie und der vom Ast. glaubhaft berichteten Schwierigkeiten, auf dem immer enger werdenden Berliner Wohnungsmarkt Vermieter zu finden, die bereit sind, trotz hoher Nachfrage nicht hilfebedürftiger Personen auch an Alg II-Bezieher zu vermieten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Rechtskraft
Aus
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