S 89 KR 2044/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
89
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 89 KR 2044/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Begrenzung des Leistungsanspruchs bei der Versorgung mit Sehhilfen auf besonders schwer sehbeeinträchtigte Versicherte gem. § 33 Abs. 2 Satz 2 SGB V ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Eine grundrechtkonforme Auslegung ist nicht geboten (entgegen SG Dresden, Urteil vom 23. November 2011 - S 18 KR 597/08 -).
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Erstattung von Kosten in Höhe von 140,- EUR (150,- EUR abzüglich Zuzahlung i.H.v. 10,- EUR), die ihm für die Ersatzbeschaffung einer Kontaktlinse entstanden sind.

Der 1941 geborene Kläger erlitt im Jahr 2007 eine Netzhautablösung im rechten Auge, die zur fast vollständigen Erblindung dieses Auges führte. Im Juni 2008 wurde das linke Auge des Klägers durch einen Metallsplitter verletzt, wodurch sich eine Hornhautnarbe mit Delle bildete und nunmehr ein irregulärer Hornhautastigmatismus vorliegt. Mit bester Korrektur wird auf dem rechten Auge eine Sehfähigkeit von 10 % erreicht. Bzgl. des linken Auges erreicht der Kläger mit Brillenkorrektur eine Sehschärfe von etwa 20 % bis 30 %. Bei Einsatz einer Kontaktlinse wird eine Sehschärfe von rund 120 % erzielt. Eine relevante Gesichtsfeldeinschränkung liegt nicht vor.

Aufgrund einer Verordnung des Facharztes für Augenheilkunde Dr. D. übernahm die Beklagte im Februar 2009 die Kosten einer Kontaktlinse in Einzelanfertigung in Höhe von 320,- EUR (abzüglich Zuzahlung i.H.v. 10,- EUR).

Nachdem diese Kontaktlinse zerbrochen war, beantragte der Kläger unter Vorlage einer weiteren Verordnung seines Augenarztes vom 18. September 2009 die Ersatzbeschaffung einer Kontaktlinse zum Preis von 150,- EUR. Der von der Beklagten beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) stellte in einem Gutachten nach Aktenlage vom 3. Dezember 2009 fest, aufgrund der Einäugigkeit des Klägers komme zwar eine Versorgung mit einer Kunststoffbrille zu Lasten der Versichertengemeinschaft in Betracht, um der erhöhten Selbstverletzungsgefahr des faktisch Einäugigen bei Mobilität Rechnung zu tragen. Die Abgabe einer Kontaktlinse hingegen sei nach den Bestimmungen der einschlägigen Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (HilfsM-RL) nicht vorgesehen.

Mit Bescheid vom 21. Dezember 2009 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme für die Kontaktlinse ab und bot die Übernahme der Kosten für Kunststoffbrillengläser an.

Der Kläger erteilte am 7. Januar 2010 dem Contactlinseninstitut B. den Auftrag zur Fertigung einer Ersatzlinse und bezahlte am 21. Januar 2010 die Rechnung in Höhe von 150,- EUR in bar. Den gegen den Bescheid vom 21. Dezember 2009 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31. August 2010 nach Einholung eines Befundberichtes des Augenarztes Dr. D. und eines Zweitgutachtens des externen Sachverständigen Dr. R. (Leiter des Instituts für wissenschaftliche Kontaktoptik in U.) zurück. Zur Begründung führte sie aus: Voraussetzung der Verordnung und Abgabe von Kontaktlinsen sei eine schwere Sehbeeinträchtigung der Stufe 1 gemäß der Klassifikation der World Health Organisation (WHO). Diese liege vor, wenn die Sehschärfe bei bestmöglicher Korrektur auf dem besseren Auge maximal 0,3 betrage oder das beidäugige Gesichtsfeld kleiner oder gleich 10 Grad bei zentraler Fixation sei. Die Sehschärfenbestimmung habe beidseits bei bester Korrektur mit Brillengläsern oder möglichen Kontaktlinsen zu erfolgen. Da auf dem besseren Auges des Klägers ein Visus von 1,0 bestehe und keine Gesichtsfeldeinschränkung vorliege, komme eine Versorgung mit einer Kontaktlinse nicht in Betracht.

Zwei Versuche der Beklagten, den Widerspruchsbescheid mittels Einschreiben mit Rückschein zuzustellen, schlugen fehl. Eine Abholung der beim Postamt niedergelegten Sendungen durch den Kläger erfolgte nicht. Mit Schreiben vom 4. Oktober 2010 übersandte die Beklagte dem Kläger mit einfacher Post eine Ausfertigung des Widerspruchsbescheides.

Am 1. November 2010 hat der Kläger Klage erhoben. Er trägt vor: Es sei willkürlich, dass nach § 17 Nr. 16 HilfsM-RL bei der bei ihm bestehenden funktionellen Einäugigkeit nur Brillengläser und keine Kontaktlinsen verordnungsfähig seien. Das Argument, eine Brille mit Kunststoffgläsern schütze besser vor Augenverletzungen als eine Kontaktlinse, überzeuge nicht. Vielmehr bewirkten Kontaktlinsen den höchstmöglichen Schutz vor Verletzungen der Augen durch Unfälle. Dass nach § 12 HilfsM-RL Kontaktlinsen bei der Visusermittlung einzubeziehen seien, begegne erheblichen rechtlichen Bedenken. Denn dies habe den Effekt, dass bei Versicherten wie ihm, die mit Brille stark sehbehindert seien, aber mit Kontaktlinse gut sehen könnten, nunmehr keine Kontaktlinse mehr verordnet werden dürfe. Sachgerecht sei alleine, bei der Bestimmung des Visus ausschließlich auf die Sehschärfe mit bestmöglicher Brillenkorrektur abzustellen. Dass ihm die Versorgung mit der Kontaktlinse vorenthalten werde, verstoße gegen das Ziel, im Bereich des unmittelbaren Behinderungsausgleichs einen vollständigen funktionellen Ausgleich zu erreichen. Die Regelungen der HilfsM-RL enthielten eine vom Gesetz abweichende Leistungsbestimmung zu Lasten der Versicherten. Der Gesetzgeber habe in § 33 Abs. 3 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) einen Anspruch auf Kontaktlinsen für nach Abs. 2 anspruchsberechtigte Versicherte in medizinisch zwingend erforderlichen Ausnahmefällen anerkannt. Mit dieser Regelung habe der Gesetzgeber sicherlich nicht Versorgungsfälle ausschließen wollen, bei denen alleine eine Versorgung mit Kontaktlinsen zum Erfolg verhelfe, sondern er habe eine Versorgung mit Kontaktlinsen gerade für Fälle vorsehen wollen, in denen eine Versorgung mit einer Brille weder sinnvoll sei noch zum gewünschten Erfolg führe. Eine andere Auslegung der gesetzlichen Vorgaben begegne verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21. Dezember 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2010 zu verurteilen, ihm die für die Beschaffung einer Kontaktlinse entstandenen Kosten in Höhe von 150,- EUR abzüglich der Zuzahlung in Höhe von 10,- EUR zu erstatten.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie ist der Klage unter Bezugnahme auf die Gründe des angefochtenen Widerspruchsbescheides entgegengetreten und hält sich an die Vorgaben der HilfsM-RL für gebunden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der vorliegenden Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

Entscheidungsgründe:

Die Klage hat keinen Erfolg.

Zwar verfolgt der Kläger den geltend gemachten Anspruch in zulässiger Weise mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz – SGG -). Die Klage ist insbesondere nicht verfristet. Vielmehr wurde mit Erhebung der Klage am 1. November 2010 die Klagefrist des § 87 SGG gewahrt. Danach ist die Klage binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides (vgl. § 87 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGG) zu erheben. Vorliegend wurde dem Kläger der Widerspruchsbescheid vom 31. August 2010 erst bekannt gegeben, nachdem die Beklagte diesen mit einfachem Brief vom 4. Oktober 2010 übersandt hatte. Eine vorherige Zustellung mittels eingeschriebenen Briefes mit Rückschein wurde nicht bewirkt. Hat die Behörde – wie sie es hier zunächst tat - den Weg der förmlichen Zustellung gewählt, sind nach § 85 Abs. 3 Satz 2 SGG die §§ 2 bis 10 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwGZ) anzuwenden (vgl. BSG, Urteil vom 9. Dezember 2008 – B 8/9b SO 13/07 R -, juris, dort Rndnr. 11). An die Stelle der Bekanntgabe tritt für den Beginn der Klagefrist die Zustellung des Widerspruchsbescheides nach dem VwZG. Eine Zustellung mittels eingeschriebenen Briefes setzt nach § 4 VwZG die Übergabe des Schriftstücks voraus (vgl. BSG, Urteil vom 15. August 2002 – B 7 AL 96/01 R -, juris). Wird – wie vorliegend - das Einschreiben beim Postamt hinterlegt und nicht abgeholt, ist die Zustellung nicht bewirkt. Eine Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2010 erfolgte erst, nachdem die Beklagte diesen mit einfachem Brief vom 4. Oktober 2010 an den Kläger übersandt hatte.

Die Klage hat indes in der Sache keinen Erfolg. Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Kostenerstattung sind nicht erfüllt, weil das Gesetz i.V.m. den hierzu erlassenen HilfsM-RL den geltend gemachten Anspruch auf Versorgung mit einer Kontaktlinse nicht vorsieht.

Für die begehrte Kostenerstattung kommt allein § 13 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB V in Betracht. Nach dieser Vorschrift sind dem Versicherten Kosten zu erstatten, die dadurch entstehen, dass die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und sich der Versicherte die Leistung deshalb selbst beschafft.

Die Beklagte hat die Leistung nicht zu Unrecht abgelehnt. Ein Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch. Er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Leistung zu den denjenigen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sachleistungen zu erbringen haben (st. Rspr., vgl. z.B. BSGE 79, 125, 126 f; BSG, Urteil vom 30. Juni 2009 – B 1 KR 5/09 R -, juris). Die vom Kläger begehrte Kontaktlinse gehört nicht zu den von der Beklagten zu erbringenden Leistungen.

Rechtsgrundlage des geltend gemachten Versorgungsanspruchs ist § 33 SGB V. Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Nach § 33 Abs. 1 Satz 4 SGB V umfasst der Anspruch u.a. auch die Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln, wie sie hier der Kläger hinsichtlich seiner zerbrochenen Kontaktlinse begehrt.

Die Versorgung mit Sehhilfen ist in § 33 Abs. 2 – 4 SGB V geregelt. Anspruch auf Versorgung mit Sehhilfen entsprechend den Voraussetzungen nach Abs. 1 haben gem. § 33 Abs. 2 Satz 1 SGB V Versicherte nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Für Versicherte, die - wie der Kläger – das 18. Lebensjahr vollendet haben, besteht der Anspruch auf Sehhilfen, wenn sie auf Grund ihrer Sehschwäche oder Blindheit, entsprechend der von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Klassifikation des Schweregrades der Sehbeeinträchtigung, auf beiden Augen eine schwere Sehbeeinträchtigung mindestens der Stufe 1 aufweisen; Anspruch auf therapeutische Sehhilfen besteht, wenn diese der Behandlung von Augenverletzungen oder Augenerkrankungen dienen.

Anspruch auf Versorgung mit Kontaktlinsen besteht für anspruchsberechtigte Versicherte nach § 33 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 SGB V nur in medizinisch zwingend erforderlichen Ausnahmefällen. Bei welchen Indikationen Kontaktlinsen verordnet werden, hat der Gesetzgeber selbst nicht geregelt. Vielmehr hat er dem Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) die Aufgabe übertragen, dies in Richtlinien zu bestimmen (vgl. § 33 Abs. 3 Satz 2 SGB V i.V.m. § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V). Dem ist der GBA mit der HilfsM-RL nachgekommen.

Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 HilfsM-RL in der im vorliegenden Erstattungsstreit maßgeblichen Fassung vom 16. Oktober 2008 (vgl. zur maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Erstattungsstreit Helbig in jurisPK, § 13 SGB V, Rndnr. 60) ist eine Sehhilfe zur Verbesserung der Sehschärfe (§§ 13 bis 16), wie sie der Kläger vorliegend begehrt, bei erwachsenen Versicherten verordnungsfähig, wenn diese entsprechend der von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Klassifikation des Schweregrades der Sehbeeinträchtigung auf beiden Augen eine schwere Sehbeeinträchtigung mindestens der Stufe 1 aufweisen. Diese liegt nach Satz 2 unter anderem vor, wenn die Sehschärfe (Visus) bei bestmöglicher Korrektur mit einer Brillen- oder möglichen Kontaktlinsenversorgung auf dem besseren Auge &8804; 0,3 beträgt oder das beidäugige Gesichtsfeld &8804; 10 Grad bei zentraler Fixation ist. Die Sehschärfenbestimmung hat beidseits mit bester Korrektur mit Brillengläsern oder möglichen Kontaktlinsen zu erfolgen. Eine Visuserhebung mit Kontaktlinsen ist nur dann erforderlich, wenn der Versicherte – wie vorliegend der Kläger - eine Kontaktlinse verträgt und eine Kontaktlinse hatte, hat oder haben möchte. Die Voraussetzungen einer solchen Sehbeeinträchtigung sind beim Kläger – worüber Einigkeit zwischen den Beteiligten besteht - nicht erfüllt, da sein Visus auf dem besseren Auge bei bestmöglicher Korrektur mit der von ihm begehrten Kontaktlinse 1,0 beträgt und eine relevante Gesichtsfeldeinschränkung nicht vorliegt.

Entgegen der Auffassung des Klägers verstößt die Einschränkung der Verordnungsfähigkeit von Sehhilfen nicht gegen höherrangiges Recht.

Die HilfsM-RL unterliegen als untergesetzliche Normen (vgl. hierzu grundlegend BSGE 78, 70 = SozR 3-2500 § 92 Nr. 6 und BSGE 81, 73 = SozR 3-2500 § 92 Nr. 7), die innerhalb des Leistungsrechts zu beachten sind, der Prüfung dahingehend, ob sie mit höherrangigem Recht vereinbar sind (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 10. November 2005 – B 3 KR 38/04 R -, juris). Der hier einschlägige § 12 Abs. 1 HilfsM-RL ist an den gesetzlichen Vorgaben in § 33 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 SGB V zu messen. Mit diesen stimmt er bereits dem Wortlaut nach weitgehend überein. Sowohl § 33 Abs. 2 Satz 2 SGB V als auch § 12 Abs. 1 HilfsM-RL nehmen hinsichtlich der Verordnungsfähigkeit von Sehhilfen bei Versicherten, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, auf die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlene Klassifikation des Schweregrades der Sehbeeinträchtigung Bezug. In der Gesetzesbegründung zu § 33 SGB V heißt es in diesem Zusammenhang (vgl. BT-Drs. 15/1525, S. 85): "Die Vorschrift begrenzt den Leistungsanspruch bei der Versorgung mit Sehhilfen auf Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres sowie auf schwer sehbeeinträchtigte Versicherte. ( ) Bei Erwachsenen wird der Leistungsanspruch auf zwingend medizinisch notwendige Ausnahmefälle begrenzt. Derartige Ausnahmen liegen dann vor, wenn Versicherte aufgrund ihrer Sehschwäche oder Blindheit, entsprechend der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlenen Klassifikation des Schweregrades der Sehbeeinträchtigung (WHO Technical Report Series No. 518, 1973), auf beiden Augen eine schwere Sehbeeinträchtigung mindestens der Stufe 1 aufweisen." In dem entsprechenden WHO-Dokument wird hinsichtlich der unterschiedlichen Kategorien von Sehbeeinträchtigung auf die Sehschärfe ("visual acuity") beider Augen unter Benutzung der bestmöglichen Korrektur ("with both eyes, using the best possible correction") abgestellt. Soweit der Kläger meint, es entspreche der Intention des Gesetzgebers, die Sehschärfe ohne Nutzung einer Korrekturhilfe (Brillengläser oder Kontaktlinsen) zu bestimmen, ergeben sich für diese Auffassung weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus der Begründung hierzu Anhaltspunkte.

Nach Überzeugung der Kammer ist die gesetzliche Regelung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Insbesondere liegt kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz vor.

Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber. Differenzierungen bedürfen stets der Rechtsfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind.

Vorliegend rügt der Kläger die ungleiche Behandlung von erwachsenen Versicherten, die – wie er - eine korrigierbare Sehbehinderung haben, und erwachsenen Versicherten, die eine nur begrenzt korrigierbare Sehbehinderung aufweisen. Zutreffend führt er an, dass nach § 12 Abs. 1 Satz 2 HilfsM-RL nur bei solchen erwachsenen Versicherten eine Sehhilfe zur Verbesserung der Sehschärfe verordnungsfähig ist, deren Sehschärfe (Visus) bei bestmöglicher Korrektur mit einer Brillen- oder möglichen Kontaktlinsenversorgung auf dem besseren Auge &8804; 0,3 beträgt (und die damit im Ergebnis – auch bei Einsatz der bestmöglichen Korrektur – noch eine erhebliche Sehschwäche aufweisen). Diese Differenzierung zwischen besonders schwerwiegend Sehbeeinträchtigten und weniger schwerwiegend Sehbehinderten ist nach Auffassung der Kammer verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. Die Krankenkassen müssen von Verfassungs wegen nicht alles leisten, was zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist (vgl. BVerfGE 115, 25). Vielmehr ist die Schwere einer Erkrankung im Rahmen eines Krankenversicherungssystems ein naheliegendes Sachkriterium, um innerhalb des Leistungskataloges zu differenzieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 2012 – 1 BvR 69/09 -, juris). Die Privilegierung besonders schwer betroffener Versicherter, die auch bei optimaler Versorgung noch eine erhebliche Sehschwäche aufweisen und damit nur noch eine Minderung der Sehschwäche zur Aufrechterhaltung einer gewissen Alltagskompetenz erreichen können, ist vor diesem Hintergrund nicht zu beanstanden (so auch SG Hamburg, Urteil vom 14. Januar 2011 – S 48 KR 905/09 -, juris; i.E. ebenso: LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. Mai 2007 – L 16 KR 237/06 -, juris). Eine erweiternde, grundrechtsorientierte Auslegung der einschlägigen Bestimmungen der HilfM-RL bzw. des § 33 Abs. 2 SGB V dahingehend, dass auf den Visus ohne die beantragte Sehhilfe abzustellen ist, ist nicht geboten (a.A.: SG Dresden, Urteil vom 23. November 2011 – S 18 KR 597/08 -, juris).

Die vom Kläger gerügte gesetzliche Leistungseinschränkung verstößt auch nicht gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz – GG -. Danach darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die Leistungseinschränkungen des § 33 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 SGB V i.V.m. § 12 Abs. 1 Satz 2 HilfsM-RL indes knüpfen nicht an eine Behinderung im verfassungsrechtlichen Sinne, also an eine langfristige Sinnesbeeinträchtigung, an, sondern erfassen weitergehend alle Fälle von Sehschwäche, also z.B. auch solche vorübergehender Art.

Auch soweit § 33 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 SGB V i.V.m. § 12 Abs. 1 Satz 2 HilfsM-RL zugleich behinderte Menschen im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG oder im Sinne von Regelungen der UN-Behindertenrechtskonvention - UN-BRK - (vgl. hierzu im Einzelnen BSG, Urteil vom 6. März 2012 – B 1 KR 10/11 R -, juris) treffen, sind diese Bestimmungen wegen des Gestaltungsspielraumes des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) noch gerechtfertigt. Wie das Grundgesetz fordert auch die UN-BRK zur Achtung des Diskriminierungsverbots keine unverhältnismäßigen oder unbilligen Belastungen. Die sich daraus ergebenden Rechtfertigungsanforderungen sind nicht höher als diejenigen nach dem GG. Nach der st. Rpsr. des BVerfG ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die GKV den Versicherten Leistungen nach Maßgabe eines allgemeinen Leistungskataloges (§ 11 SGB V) unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes (§ 12 SGB V) zur Verfügung stellt, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung des Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Es steht mit dem GG in Einklang, wenn der Gesetzgeber vorsieht, dass die Leistungen der GKV ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich zu sein haben und nicht das Maß des Notwendigen überschreiten dürfen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Der GKV-Leistungskatalog darf auch von finanzpolitischen Erwägungen mitbestimmt sein. Gerade im Gesundheitswesen hat der Kostenaspekt für gesetzgeberische Entscheidungen erhebliches Gewicht (BVerfGE 103, 172, 184). Angesichts der Vielzahl von Menschen mit Sehfehlern (so ist z.B. aufgrund des altersgemäßen Nachlassens der Elastizität der Augenlinse fast jeder Versicherte von Alterssichtigkeit betroffen) ist die Begrenzung des Leistungsanspruchs bei der Versorgung mit Sehhilfen auf besonderes schwer sehbeeinträchtigte erwachsene Versicherte nicht zu beanstanden.

Bei alledem verkennt die Kammer nicht, dass eine Regelung wünschenswert wäre, wonach eine Kostenübernahme für Sehhilfen bei erwachsenen Versicherten auch – und gerade – in Fällen erfolgen könnte, in denen mit der bestmöglichen Korrektur das Sehvermögen wieder ganz oder weitgehend hergestellt werden kann. Der Petitionsausschuss des Bundestages hält eine diesbezügliche Überprüfung der HilfsM-RL für geboten (vgl. BT-Drs. 16/6270, S. 46). Auch die Patientenvertretung im GBA sieht insoweit Bedarf für eine Anpassung der HilfsM-RL (vgl. die im vorliegenden Verfahren eingeholte Auskunft des GBA vom 19. April 2013), so dass möglicherweise in absehbarer Zeit mit einer Veränderung der Regelungen zugunsten des Klägers zu rechnen ist. Ein Anspruch auf Erstattung der Kosten für die von ihm im Jahr 2010 beschaffte Kontaktlinse resultiert hieraus aber nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer hat die Berufung gem. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage zugelassen, ob die Regelungen in § 33 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 SGB V i.V.m. § 12 Abs. 1 HilfsM-RL verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen.
Rechtskraft
Aus
Saved