Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
42
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 42 SO 541/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Kosten für die auditiv-verbale Therapie für die Zeit vom 29.11.2011 (Antragstellung bei Gericht) bis 28.11.2012, längstens jedoch bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens gegen den Ablehnungsbe-scheid vom 29.07.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2011, nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu übernehmen. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der Kosten für die auditiv-verbale Therapie (AVT) im Rahmen der Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. Sozialgesetzbuch, Zwölftes Buch (SGB XII).
Der am 00.00.2010 geborene Antragsteller leidet seit seiner Geburt an einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit. Bei ihm wurden ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche Gl, G, B, H und RF anerkannt. Am 23.03.2011 wurde der Antragsteller an beiden Ohren mit Cochlea-Implantaten versorgt. Anfang Mai 2011 wurden an der Medizinischen Hochschule I1 erstmals die Sprachprozessoren angepasst. Die Medizinische Hochschule I1 sowie der behandelnde Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde M halten in ihren Schreiben vom 13.10.2011 bzw. 30.03.2011 eine AVT für medizinisch indiziert. Seit dem 11.05.2011 absolviert der Antragsteller - zusammen mit seinen Eltern - die AVT in der Praxis X in E. Die Sitzung erfolgt in der Regel einmal wöchentlich, hierfür entstehen pro Sitzung Kosten in Höhe von 80,00 EUR.
Der Antragsteller hat gegenüber dem Landesamt für Besoldung und Versorgung einen 80%-igen Beihilfeanspruch. Daneben besteht zu 20 % eine private Krankenversicherung bei der I2-D. Mit Bescheid vom 13.10.2011 lehnte das Landesamt für Besoldung und Versorgung die Übernahme der Kosten für die AVT ab. Dagegen erhob der Antragsteller Widerspruch, über den bislang noch nicht entschieden wurde. Die private Krankenversicherung teilte mit Schreiben vom 18.04.2011 mit, dass Aufwendungen für die AVT nicht unter die Aufwendungen für medizinisch notwendige Heilbehandlungen fallen würden. Anhand der vorliegenden Unterlagen sei es jedoch nachvollziehbar, dass bei dem Antragsteller die Therapie sinnvoll sei. Entgegenkommend würde sie die Aufwendungen für die AVT im tariflichen Rahmen (20% des anfallenden Betrages in Höhe von 80,00 EUR wöchent¬lich) vorerst für ein Jahr übernehmen. Dabei handele es sich um eine freiwillige Leistung.
Mit Schreiben vom 27.06.2011 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner die Über-nahme der Kosten für die AVT aus Mitteln der Eingliederungshilfe. Dazu fügte er u.a. ein Schreiben der Praxis X vom 27.03.2011 bei. Danach begleitet die AVT die technische Anpassung der Cochlea-Implantate, um den Prozess des Hörens zu optimieren, legt ihren Schwerpunkt auf das Hören und die Verarbeitung auditiver Reize und begleitet vor allem die Eltern im Umgang mit dem Kind, damit diese durch aktive Teilnahme an den Sitzungen angeleitet werden, das Kind zu Hause im Alltag zu fördern. Die AVT-Sitzung diene als Modell und Leitfaden. Erste Ziele der Behandlung bestünden in der Entwicklung einer auditiven Aufmerksamkeit, dem Entdecken, Unterscheiden, Erkennen und Verstehen auditiver Reize sowie in der Entwicklung einer natürlichen Stimme, von Lauten, Lautverbindungen, Wörtern und 1-2-Wort-Sätzen. Der Antragsteller solle motiviert werden, sprachlich zu kommunizieren: zu einem Sprecher zu schauen, erste Dialoge entdecken, verfolgen und entwickeln, seine Stimme entdecken, variieren und gezielt einsetzen.
Mit Bescheid vom 29.07.2011 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Kostenübernahme für die AVT ab. Gemäß § 54 Abs. 1 S. 2 SGB XII könnten Leistungen der medizinischen Rehabilitation im Rahmen der Eingliederungshilfe nur übernommen werden, wenn sie Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprächen. Bei der AVT handele es sich jedoch um eine außervertragliche Therapie, die nicht in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen worden sei. Im Rahmen der Einglie-derungshilfe seien keine geringeren, aber auch keine weitergehenden Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu erbringen als in der gesetzlichen Krankenversicherung. Eine Kostenübernahme im Rahmen der Eingliederungshilfe scheide somit aus.
Dagegen erhob der Antragsteller am 09.08.2011 Widerspruch. Die AVT sei als heilpädagogische Maßnahme anzuerkennen. Er bezieht sich insoweit auf das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 28.04.2009 (S 16 (35) SO 13/06). Nach seiner Information würden im Übrigen auch die Sozialämter O und N die Kosten der AVT im Rahmen der Eingliederungshilfe übernehmen. Er bzw. seine Eltern könnten die Therapie aus finanziellen Gründen nicht selbst zahlen.
Der Antragsgegner wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18.10.2011 zurück. Zwar werde nicht an der Notwendigkeit der Therapie für den Antragsteller gezweifelt. Der Antragsgegner sei jedoch nicht der zuständige Kostenträger. Da die gesetzliche Krankenversicherung bzw. die Beihilfestelle die Kostenübernahme abgelehnt habe, komme auch die Übernahme der Kosten einer medizinischen Rehabilitation aus Mitteln der Eingliederungshilfe nicht in Betracht. Sofern es sich bei der Therapie um eine heilpädagogische Maßnahme handeln würde, könnte eine Gewährung von Sozialhilfemitteln in Betracht kommen. Dies sei jedoch nicht der Fall. Zur Begründung bezog sich der Antragsgegner auf das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22.04.2008 (S 9 KR 47/05).
Der Antragsteller hat am 09.11.2011 Klage erhoben und am 29.11.2011 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Bei einem Abwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache verlöre er unabdingbar notwendige Sitzungen.
Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, für die Zeit ab dem 27.06.2011 die für die AVT entstehenden Kosten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,
den Antrag abzulehnen.
Zwar werde die Notwendigkeit der AVT für den Antragsteller derzeit nicht bestritten. Aufgrund des medizinischen Charakters der Behandlung sei jedoch nicht von einer heilpädagogischen Maßnahme, sondern von einem Heilmittel auszugehen. Dafür sei die Krankenkasse/Beihilfestelle der zuständige Kostenträger.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und auf die Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen. Sie waren Gegenstand der Entscheidung.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und - im Umfang des aus dem Rubrum ersichtlichen Tenors - auch begründet.
Gemäß § 86 b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Nach § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes voraus. Ein Anordnungsgrund ist gegeben, wenn es bei Abwägung aller betroffenen Interessen unzumutbar erscheint, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (vgl. § 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund müssen gemäß § 86 b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung glaubhaft gemacht sein. Erforderlich ist der Nachweis der überwiegenden Wahrscheinlichkeit; trotz der Möglichkeit des Gegenteils dürfen Zweifel nicht überwiegen. Dies ist grundsätzlich im Rahmen einer summarischen Prüfung zu ermitteln. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes orientierte Folgenabwägung zu entscheiden (vgl. BVerfG Beschl. v. 12.05.2005 - 1 BvR 569/05, juris).
Der Antragsteller hat zunächst einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Nach den nachvollziehbaren - und von dem Antragsgegner unwidersprochenen - Angaben der Praxis X sollte die Förderung so früh wie möglich einsetzen, wenn möglich im Säuglingsalter (vgl. Flyer der Praxis X sowie vom Antragsteller eingereichter Ausdruck aus www.wikipedia.de Stichwort: auditiv-verbale Erziehung). Vor diesem Hintergrund ist ein Abwarten der Entscheidung im Hauptsachverfahren, die regelmäßig jedenfalls mehrerer Monate in Anspruch nimmt, nicht zumutbar. Die Eltern des Antragstellers haben zudem eidesstattlich versichert, eine Vorfinanzierung der wöchentlichen Sitzungen nicht leisten zu können.
Darüber hinaus hat der Antragsteller nach Ansicht des Gerichts auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Er hat im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes dem Grunde nach einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die AVT nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen für die Zeit vom 29.11.2011 (Antragstellung bei Gericht) bis 28.11.2012, längstens jedoch bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens gegen den Ablehnungsbescheid vom 29.07.2011 in Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 18.10.2011.
Nach § 53 Abs. 1 S. 1 SB XII erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 S. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzunehmen, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Zu beachten ist die besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe (§ 53 Abs. 1 S. 1 2. Hs. und Abs. 3 S. 1 und 2 SGB XII). Ziel ist es, den behinderten Menschen durch die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und durch Eingliederung in das Arbeitsleben nach Möglichkeit einem Nichtbehinderten gleichzustellen; der Bedürftige soll die Hilfen finden, die es ihm - durch Ausräumen behinderungsbedingter Hindernisse und Erschwernisse - ermöglichen, in der Umgebung von Nicht-Hilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben (vgl. LSG Baden-Württemberg Beschl. v. 29.03.2006 L 7 SO 259/06 ER B).
Der Antragsteller gehört - auch nach Ansicht des Antragsgegners - zum Personenkreis des § 53 SGB XII, d.h. er ist dem Grunde nach leistungsberechtigt im Rahmen der Eingliederungshilfe.
Aus § 54 Abs. 1 S. 1 SGB XII ergibt sich, dass Leistungen der Eingliederungshilfe (auch) Leistungen nach den §§ 26, 33, 41 und 55 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind. Als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft werden nach § 55 Abs. 1 SGB IX die Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern oder sie so weit wie möglich unab¬hängig von Pflege machen und nach den Kapiteln 4 bis 6 nicht erbracht werden. Leistungen nach Absatz 1 sind insbesondere heilpädagogische Leistungen für Kinder, die noch nicht eingeschult sind (§ 55 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX).
Bei der beim Antragsteller durchgeführten AVT handelt es sich nach Ansicht des Gerichts um eine heilpädagogische Leistung, und nicht etwa - wie der Antragsgegner meint - um ein Heilmittel, für das die Zuständigkeit der Krankenversicherung/Beihilfestelle gegeben wäre. Die erforderliche Abgrenzung ist danach vorzunehmen haben, ob die jeweilige Leistung ihren Schwerpunkt nach Gegenstand und Art der Ausführung im medizinischen oder sozialen Bereich hat (vgl. juris-PK- SGB IX, Stand: 01.02.2010, § 56 Rn. 17).
Heilpädagogische Leistungen nach § 56 SGB IX umfassen nach § 6 Frühförderungsverordnung (FrühV) alle Maßnahmen, die die Entwicklung des Kindes und die Entfaltung seiner Persönlichkeit mit pädagogischen Maßnahmen anregen, einschließlich der jeweils erforderlichen sozial- und sonderpädagogischen, psychologischen und psychosozialen Hilfen sowie der Beratung der Erziehungsberechtigten (etwa Spieltherapie, Musiktherapie, Sonderkindergärten, integrative Förderung in allgemeinen Kindergärten). Dabei ist die Erbringung heilpädagogischer Leistungen nicht daran geknüpft, dass sie von Heilpädagogen und -pädagoginnen erbracht werden. Es ist vielmehr ein offenes Begriffsverständnis zugrunde zu legen, so dass auch - wie hier Frau X als Sonderschullehrerin für Hörgeschädigte - andere Disziplinen (Psychologen, Sozialarbeiter, Sonderpädagogen) mit der Aufgabenerfüllung betraut werden können (vgl. juris-PK- SGB IX, Stand: 01.02.2010, § 56 Rn. 17). Allerdings können heilpädagogische Leistungen in Abgrenzung zu § 30 SGB IX ihrer Art nach nur nichtmedizinische Leistungen sein.
Die AVT hat aus Sicht des Gerichts ihren Schwerpunkt nach Gegenstand und Art der Ausführung im sozialen und nicht im medizinischen Bereich. Nach den Ausführungen im Schreiben der Praxis X vom 27.03.2011 begleitet die AVT die technische Anpassung der Cochlea-Implantate, um den Prozess des Hörens zu optimieren, legt ihren Schwerpunkt auf das Hören und die Verarbeitung auditiver Reize und begleitet vor allem die Eltern im Umgang mit dem Kind, damit diese durch aktive Teilnahme an den Sitzungen angeleitet werden, das Kind zu Hause im Alltag zu fördern. Erste Ziele der Behandlung bestünden in der Entwicklung einer auditiven Aufmerksamkeit sowie in der Entwicklung einer natürlichen Stimme, von Lauten, Lautverbindungen, Wörtern und 1-2-Wort-Sätzen. Der Antragsteller solle motiviert werden, sprachlich zu kommunizieren: zu einem Sprecher zu schauen und erste Dialoge entdecken sowie seine Stimme einzusetzen. Die AVT-Sitzung dient danach als Modell und Leitfaden. Demensprechend beschreibt auch der Flyer der Praxis X, dass die Eltern des Kindes von größter Bedeutung seien. Sie würden beraten und angeleitet, die Hör- und Sprachentwicklung ihres Kindes zu fördern. Im Spiel mit den Kindern würden die Eltern Strategien und Techniken einüben, die sie zu Hause in den Alltag einbinden, um dem Kind das Hören und Sprechen lernen zu erleichtern. Daraus schließt das Gericht, dass die pädagogischen Elemente überwiegen. Dementsprechend versteht sich die AVT auch als Teil auditiv-verbaler Praxis (vgl. Flyer der Praxis X). In dem von dem Antragsteller eingereichten Ausdruck aus www.wikipedia.de Stichwort: auditiv-verbale Erziehung heißt es zudem, dass manchmal auch der Begriff AVT verwendet werde. Dieser Begriff sei jedoch wenig hilfreich, weil eine Therapiesituation (d.h. Schulung des Kindes für einige Stunden pro Tag) gerade nicht bzw. nur eingeschränkt stattfinden soll. Denn mindestens der Hauptteil solle fließend im Alltag eingebunden werden. Auch vor diesem Hintergrund vermag das Gericht einen vorrangig medizinischen Aspekt der AVT weder nach Gegenstand noch nach Art der Ausfüh-rung nicht zu erkennen.
Das Gericht schließt sich damit den zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts Duisburg im Urteil vom 28.04.2009 - S 16 (36) SO 13/06 vollumfänglich an. Das Gericht geht gleichfalls davon aus, dass es sich - entgegen den Ausführungen im Urteil des Sozialge¬richts Düsseldorf vom 22.04.2008 (S 9 KR 47/05) - nicht um ein Heilmittel, insbesondere nicht um eine Maßnahme der Simm-, Sprech- und Sprachtherapie handelt. Denn hierbei zählen insbesondere logopädische Behandlungen, mit denen die AVT nicht gerade nicht vergleichbar ist, da es zunächst um die Entwicklung eines "Hörbewusstseins" geht, d.h. zu entdecken, ob überhaupt ein auditiver Reiz da ist oder nicht. Die Sprachschwierigkeiten des Antragstellers beruhen nicht auf Behinderungen im Mundbereich oder sprachliche Störungen (z.B. Lispeln oder Stottern), sondern sind allein darauf zurückzuführen, dass der Antragsteller von Geburt an nicht hören und dementsprechend auch keine Sprache entwickeln konnte. Demzufolge geht es aus Sicht des Gerichts auch nicht vorrangig um die motorische oder sensorische Sprechleistung, sondern schwerpunktmäßig um die Entwicklungsförderung in den Bereichen Hören, Sprache und Kognition sowie entsprechende intensive Elternbegleitung, -beratung und -anleitung.
Bei der hier vorliegenden AVT handelt es sich auch nicht um eine Leistung zur Früherken¬nung und Frühförderung nach § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB IX. Danach umfassen die medizinischen Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder nach § 26 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX auch nichtärztliche sozialpädiatrische, psychologische, heilpädagogische, psychosoziale Leistungen und die Beratung der Erziehungsberechtigten, auch in fachübergreifend arbeitenden Diensten und Einrichtungen, wenn sie unter ärztlicher Verantwortung erbracht werden und erforderlich sind, um eine drohende oder bereits eingetretene Behinderung zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu erkennen und einen individuellen Behandlungsplan aufzustellen. Auch wenn die Praxis X nach den Angaben im Schreiben vom 27.03.2011 in der Nachsorge nach Cochlea-Implantat-Versorgung eng mit mehreren Kliniken, z.B. Hannover, zusammenarbeitet, so wird doch die AVT nicht unter ärztlicher Verantwortung erbracht. Darüber hinaus wird die Früherkennung und Frühförderung ausschließlich durch interdisziplinäre Frühförderstellen und sozialpädiatrische Zentren erbracht (§ 1 FrühV), zu denen die Praxis X nicht gehört.
Die AVT ist im vorliegenden Fall - unstreitig -, auch geeignet und erforderlich, um die Behinderung des Antragstellers bzw. deren Folgen zu beseitigen bzw. zu mildern und den Antragsteller in die Gesellschaft einzugliedern.
Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes, der grundsätzlich nur auf eine vorläufige Regelung gerichtet ist, hat das Gericht die Verpflichtung zur Kostenübernahme zunächst auf den Zeitraum ab 29.11.2011 (Antragstellung bei Gericht) bis 29.11.2012 beschränkt. Leistungen nach dem SGB XII kommen im Rahmen einer einstweiligen Anordnung in der Regel erst ab dem Zeitpunkt der Antragstellung bei Gericht in Betracht (vgl. Meyer-Ladewig u.a., SGG, 9. Aufl. 2008, § 86 b Rn. 35 f). Ein Ausnahmefall, in dem die Nichtgewährung vor Antragstellung bei Gericht in die Zukunft fortwirkt (z.B. Kündigung eines Wohnraummietvertrages wegen vor Antragstellung bei Gericht aufgelaufener Mietschulden), liegt hier nicht vor. Das Gericht hat die Übernahme der Kosten für die AVT auf ein Jahr begrenzt. Es ist davon auszugehen, dass dann ein entsprechender Entwicklungsbericht vorgelegt werden kann, der auch Aussage über die weitere Erforderlichkeit der Therapie geben kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Auch wenn der Antragsteller insoweit unterlegen ist, als eine Kostenübernahme für die AVT für die Zeit vor Antragstellung bei Gericht nicht in Betracht kommt, hält es das Gericht nicht für sachgerecht, insoweit eine Kostenquote zu bilden. Denn die Beteiligten haben im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes vorrangig über die Frage gestritten, ob die AVT als heilpädagogische Leistung durch den Sozialhilfeträger zu übernehmen ist. Das (zeitliche) Unterliegen des Antragstellers ist aus Sicht des Gerichts im Rahmen der Kostenentscheidung nicht zu seinen Lasten zu berücksichtigen, da dieses insoweit als gering zu bewerten ist.
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der Kosten für die auditiv-verbale Therapie (AVT) im Rahmen der Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. Sozialgesetzbuch, Zwölftes Buch (SGB XII).
Der am 00.00.2010 geborene Antragsteller leidet seit seiner Geburt an einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit. Bei ihm wurden ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche Gl, G, B, H und RF anerkannt. Am 23.03.2011 wurde der Antragsteller an beiden Ohren mit Cochlea-Implantaten versorgt. Anfang Mai 2011 wurden an der Medizinischen Hochschule I1 erstmals die Sprachprozessoren angepasst. Die Medizinische Hochschule I1 sowie der behandelnde Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde M halten in ihren Schreiben vom 13.10.2011 bzw. 30.03.2011 eine AVT für medizinisch indiziert. Seit dem 11.05.2011 absolviert der Antragsteller - zusammen mit seinen Eltern - die AVT in der Praxis X in E. Die Sitzung erfolgt in der Regel einmal wöchentlich, hierfür entstehen pro Sitzung Kosten in Höhe von 80,00 EUR.
Der Antragsteller hat gegenüber dem Landesamt für Besoldung und Versorgung einen 80%-igen Beihilfeanspruch. Daneben besteht zu 20 % eine private Krankenversicherung bei der I2-D. Mit Bescheid vom 13.10.2011 lehnte das Landesamt für Besoldung und Versorgung die Übernahme der Kosten für die AVT ab. Dagegen erhob der Antragsteller Widerspruch, über den bislang noch nicht entschieden wurde. Die private Krankenversicherung teilte mit Schreiben vom 18.04.2011 mit, dass Aufwendungen für die AVT nicht unter die Aufwendungen für medizinisch notwendige Heilbehandlungen fallen würden. Anhand der vorliegenden Unterlagen sei es jedoch nachvollziehbar, dass bei dem Antragsteller die Therapie sinnvoll sei. Entgegenkommend würde sie die Aufwendungen für die AVT im tariflichen Rahmen (20% des anfallenden Betrages in Höhe von 80,00 EUR wöchent¬lich) vorerst für ein Jahr übernehmen. Dabei handele es sich um eine freiwillige Leistung.
Mit Schreiben vom 27.06.2011 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner die Über-nahme der Kosten für die AVT aus Mitteln der Eingliederungshilfe. Dazu fügte er u.a. ein Schreiben der Praxis X vom 27.03.2011 bei. Danach begleitet die AVT die technische Anpassung der Cochlea-Implantate, um den Prozess des Hörens zu optimieren, legt ihren Schwerpunkt auf das Hören und die Verarbeitung auditiver Reize und begleitet vor allem die Eltern im Umgang mit dem Kind, damit diese durch aktive Teilnahme an den Sitzungen angeleitet werden, das Kind zu Hause im Alltag zu fördern. Die AVT-Sitzung diene als Modell und Leitfaden. Erste Ziele der Behandlung bestünden in der Entwicklung einer auditiven Aufmerksamkeit, dem Entdecken, Unterscheiden, Erkennen und Verstehen auditiver Reize sowie in der Entwicklung einer natürlichen Stimme, von Lauten, Lautverbindungen, Wörtern und 1-2-Wort-Sätzen. Der Antragsteller solle motiviert werden, sprachlich zu kommunizieren: zu einem Sprecher zu schauen, erste Dialoge entdecken, verfolgen und entwickeln, seine Stimme entdecken, variieren und gezielt einsetzen.
Mit Bescheid vom 29.07.2011 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Kostenübernahme für die AVT ab. Gemäß § 54 Abs. 1 S. 2 SGB XII könnten Leistungen der medizinischen Rehabilitation im Rahmen der Eingliederungshilfe nur übernommen werden, wenn sie Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprächen. Bei der AVT handele es sich jedoch um eine außervertragliche Therapie, die nicht in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen worden sei. Im Rahmen der Einglie-derungshilfe seien keine geringeren, aber auch keine weitergehenden Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu erbringen als in der gesetzlichen Krankenversicherung. Eine Kostenübernahme im Rahmen der Eingliederungshilfe scheide somit aus.
Dagegen erhob der Antragsteller am 09.08.2011 Widerspruch. Die AVT sei als heilpädagogische Maßnahme anzuerkennen. Er bezieht sich insoweit auf das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 28.04.2009 (S 16 (35) SO 13/06). Nach seiner Information würden im Übrigen auch die Sozialämter O und N die Kosten der AVT im Rahmen der Eingliederungshilfe übernehmen. Er bzw. seine Eltern könnten die Therapie aus finanziellen Gründen nicht selbst zahlen.
Der Antragsgegner wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18.10.2011 zurück. Zwar werde nicht an der Notwendigkeit der Therapie für den Antragsteller gezweifelt. Der Antragsgegner sei jedoch nicht der zuständige Kostenträger. Da die gesetzliche Krankenversicherung bzw. die Beihilfestelle die Kostenübernahme abgelehnt habe, komme auch die Übernahme der Kosten einer medizinischen Rehabilitation aus Mitteln der Eingliederungshilfe nicht in Betracht. Sofern es sich bei der Therapie um eine heilpädagogische Maßnahme handeln würde, könnte eine Gewährung von Sozialhilfemitteln in Betracht kommen. Dies sei jedoch nicht der Fall. Zur Begründung bezog sich der Antragsgegner auf das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22.04.2008 (S 9 KR 47/05).
Der Antragsteller hat am 09.11.2011 Klage erhoben und am 29.11.2011 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Bei einem Abwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache verlöre er unabdingbar notwendige Sitzungen.
Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, für die Zeit ab dem 27.06.2011 die für die AVT entstehenden Kosten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,
den Antrag abzulehnen.
Zwar werde die Notwendigkeit der AVT für den Antragsteller derzeit nicht bestritten. Aufgrund des medizinischen Charakters der Behandlung sei jedoch nicht von einer heilpädagogischen Maßnahme, sondern von einem Heilmittel auszugehen. Dafür sei die Krankenkasse/Beihilfestelle der zuständige Kostenträger.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und auf die Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen. Sie waren Gegenstand der Entscheidung.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und - im Umfang des aus dem Rubrum ersichtlichen Tenors - auch begründet.
Gemäß § 86 b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Nach § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes voraus. Ein Anordnungsgrund ist gegeben, wenn es bei Abwägung aller betroffenen Interessen unzumutbar erscheint, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (vgl. § 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund müssen gemäß § 86 b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung glaubhaft gemacht sein. Erforderlich ist der Nachweis der überwiegenden Wahrscheinlichkeit; trotz der Möglichkeit des Gegenteils dürfen Zweifel nicht überwiegen. Dies ist grundsätzlich im Rahmen einer summarischen Prüfung zu ermitteln. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes orientierte Folgenabwägung zu entscheiden (vgl. BVerfG Beschl. v. 12.05.2005 - 1 BvR 569/05, juris).
Der Antragsteller hat zunächst einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Nach den nachvollziehbaren - und von dem Antragsgegner unwidersprochenen - Angaben der Praxis X sollte die Förderung so früh wie möglich einsetzen, wenn möglich im Säuglingsalter (vgl. Flyer der Praxis X sowie vom Antragsteller eingereichter Ausdruck aus www.wikipedia.de Stichwort: auditiv-verbale Erziehung). Vor diesem Hintergrund ist ein Abwarten der Entscheidung im Hauptsachverfahren, die regelmäßig jedenfalls mehrerer Monate in Anspruch nimmt, nicht zumutbar. Die Eltern des Antragstellers haben zudem eidesstattlich versichert, eine Vorfinanzierung der wöchentlichen Sitzungen nicht leisten zu können.
Darüber hinaus hat der Antragsteller nach Ansicht des Gerichts auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Er hat im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes dem Grunde nach einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die AVT nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen für die Zeit vom 29.11.2011 (Antragstellung bei Gericht) bis 28.11.2012, längstens jedoch bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens gegen den Ablehnungsbescheid vom 29.07.2011 in Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 18.10.2011.
Nach § 53 Abs. 1 S. 1 SB XII erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 S. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzunehmen, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Zu beachten ist die besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe (§ 53 Abs. 1 S. 1 2. Hs. und Abs. 3 S. 1 und 2 SGB XII). Ziel ist es, den behinderten Menschen durch die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und durch Eingliederung in das Arbeitsleben nach Möglichkeit einem Nichtbehinderten gleichzustellen; der Bedürftige soll die Hilfen finden, die es ihm - durch Ausräumen behinderungsbedingter Hindernisse und Erschwernisse - ermöglichen, in der Umgebung von Nicht-Hilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben (vgl. LSG Baden-Württemberg Beschl. v. 29.03.2006 L 7 SO 259/06 ER B).
Der Antragsteller gehört - auch nach Ansicht des Antragsgegners - zum Personenkreis des § 53 SGB XII, d.h. er ist dem Grunde nach leistungsberechtigt im Rahmen der Eingliederungshilfe.
Aus § 54 Abs. 1 S. 1 SGB XII ergibt sich, dass Leistungen der Eingliederungshilfe (auch) Leistungen nach den §§ 26, 33, 41 und 55 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind. Als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft werden nach § 55 Abs. 1 SGB IX die Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern oder sie so weit wie möglich unab¬hängig von Pflege machen und nach den Kapiteln 4 bis 6 nicht erbracht werden. Leistungen nach Absatz 1 sind insbesondere heilpädagogische Leistungen für Kinder, die noch nicht eingeschult sind (§ 55 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX).
Bei der beim Antragsteller durchgeführten AVT handelt es sich nach Ansicht des Gerichts um eine heilpädagogische Leistung, und nicht etwa - wie der Antragsgegner meint - um ein Heilmittel, für das die Zuständigkeit der Krankenversicherung/Beihilfestelle gegeben wäre. Die erforderliche Abgrenzung ist danach vorzunehmen haben, ob die jeweilige Leistung ihren Schwerpunkt nach Gegenstand und Art der Ausführung im medizinischen oder sozialen Bereich hat (vgl. juris-PK- SGB IX, Stand: 01.02.2010, § 56 Rn. 17).
Heilpädagogische Leistungen nach § 56 SGB IX umfassen nach § 6 Frühförderungsverordnung (FrühV) alle Maßnahmen, die die Entwicklung des Kindes und die Entfaltung seiner Persönlichkeit mit pädagogischen Maßnahmen anregen, einschließlich der jeweils erforderlichen sozial- und sonderpädagogischen, psychologischen und psychosozialen Hilfen sowie der Beratung der Erziehungsberechtigten (etwa Spieltherapie, Musiktherapie, Sonderkindergärten, integrative Förderung in allgemeinen Kindergärten). Dabei ist die Erbringung heilpädagogischer Leistungen nicht daran geknüpft, dass sie von Heilpädagogen und -pädagoginnen erbracht werden. Es ist vielmehr ein offenes Begriffsverständnis zugrunde zu legen, so dass auch - wie hier Frau X als Sonderschullehrerin für Hörgeschädigte - andere Disziplinen (Psychologen, Sozialarbeiter, Sonderpädagogen) mit der Aufgabenerfüllung betraut werden können (vgl. juris-PK- SGB IX, Stand: 01.02.2010, § 56 Rn. 17). Allerdings können heilpädagogische Leistungen in Abgrenzung zu § 30 SGB IX ihrer Art nach nur nichtmedizinische Leistungen sein.
Die AVT hat aus Sicht des Gerichts ihren Schwerpunkt nach Gegenstand und Art der Ausführung im sozialen und nicht im medizinischen Bereich. Nach den Ausführungen im Schreiben der Praxis X vom 27.03.2011 begleitet die AVT die technische Anpassung der Cochlea-Implantate, um den Prozess des Hörens zu optimieren, legt ihren Schwerpunkt auf das Hören und die Verarbeitung auditiver Reize und begleitet vor allem die Eltern im Umgang mit dem Kind, damit diese durch aktive Teilnahme an den Sitzungen angeleitet werden, das Kind zu Hause im Alltag zu fördern. Erste Ziele der Behandlung bestünden in der Entwicklung einer auditiven Aufmerksamkeit sowie in der Entwicklung einer natürlichen Stimme, von Lauten, Lautverbindungen, Wörtern und 1-2-Wort-Sätzen. Der Antragsteller solle motiviert werden, sprachlich zu kommunizieren: zu einem Sprecher zu schauen und erste Dialoge entdecken sowie seine Stimme einzusetzen. Die AVT-Sitzung dient danach als Modell und Leitfaden. Demensprechend beschreibt auch der Flyer der Praxis X, dass die Eltern des Kindes von größter Bedeutung seien. Sie würden beraten und angeleitet, die Hör- und Sprachentwicklung ihres Kindes zu fördern. Im Spiel mit den Kindern würden die Eltern Strategien und Techniken einüben, die sie zu Hause in den Alltag einbinden, um dem Kind das Hören und Sprechen lernen zu erleichtern. Daraus schließt das Gericht, dass die pädagogischen Elemente überwiegen. Dementsprechend versteht sich die AVT auch als Teil auditiv-verbaler Praxis (vgl. Flyer der Praxis X). In dem von dem Antragsteller eingereichten Ausdruck aus www.wikipedia.de Stichwort: auditiv-verbale Erziehung heißt es zudem, dass manchmal auch der Begriff AVT verwendet werde. Dieser Begriff sei jedoch wenig hilfreich, weil eine Therapiesituation (d.h. Schulung des Kindes für einige Stunden pro Tag) gerade nicht bzw. nur eingeschränkt stattfinden soll. Denn mindestens der Hauptteil solle fließend im Alltag eingebunden werden. Auch vor diesem Hintergrund vermag das Gericht einen vorrangig medizinischen Aspekt der AVT weder nach Gegenstand noch nach Art der Ausfüh-rung nicht zu erkennen.
Das Gericht schließt sich damit den zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts Duisburg im Urteil vom 28.04.2009 - S 16 (36) SO 13/06 vollumfänglich an. Das Gericht geht gleichfalls davon aus, dass es sich - entgegen den Ausführungen im Urteil des Sozialge¬richts Düsseldorf vom 22.04.2008 (S 9 KR 47/05) - nicht um ein Heilmittel, insbesondere nicht um eine Maßnahme der Simm-, Sprech- und Sprachtherapie handelt. Denn hierbei zählen insbesondere logopädische Behandlungen, mit denen die AVT nicht gerade nicht vergleichbar ist, da es zunächst um die Entwicklung eines "Hörbewusstseins" geht, d.h. zu entdecken, ob überhaupt ein auditiver Reiz da ist oder nicht. Die Sprachschwierigkeiten des Antragstellers beruhen nicht auf Behinderungen im Mundbereich oder sprachliche Störungen (z.B. Lispeln oder Stottern), sondern sind allein darauf zurückzuführen, dass der Antragsteller von Geburt an nicht hören und dementsprechend auch keine Sprache entwickeln konnte. Demzufolge geht es aus Sicht des Gerichts auch nicht vorrangig um die motorische oder sensorische Sprechleistung, sondern schwerpunktmäßig um die Entwicklungsförderung in den Bereichen Hören, Sprache und Kognition sowie entsprechende intensive Elternbegleitung, -beratung und -anleitung.
Bei der hier vorliegenden AVT handelt es sich auch nicht um eine Leistung zur Früherken¬nung und Frühförderung nach § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB IX. Danach umfassen die medizinischen Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder nach § 26 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX auch nichtärztliche sozialpädiatrische, psychologische, heilpädagogische, psychosoziale Leistungen und die Beratung der Erziehungsberechtigten, auch in fachübergreifend arbeitenden Diensten und Einrichtungen, wenn sie unter ärztlicher Verantwortung erbracht werden und erforderlich sind, um eine drohende oder bereits eingetretene Behinderung zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu erkennen und einen individuellen Behandlungsplan aufzustellen. Auch wenn die Praxis X nach den Angaben im Schreiben vom 27.03.2011 in der Nachsorge nach Cochlea-Implantat-Versorgung eng mit mehreren Kliniken, z.B. Hannover, zusammenarbeitet, so wird doch die AVT nicht unter ärztlicher Verantwortung erbracht. Darüber hinaus wird die Früherkennung und Frühförderung ausschließlich durch interdisziplinäre Frühförderstellen und sozialpädiatrische Zentren erbracht (§ 1 FrühV), zu denen die Praxis X nicht gehört.
Die AVT ist im vorliegenden Fall - unstreitig -, auch geeignet und erforderlich, um die Behinderung des Antragstellers bzw. deren Folgen zu beseitigen bzw. zu mildern und den Antragsteller in die Gesellschaft einzugliedern.
Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes, der grundsätzlich nur auf eine vorläufige Regelung gerichtet ist, hat das Gericht die Verpflichtung zur Kostenübernahme zunächst auf den Zeitraum ab 29.11.2011 (Antragstellung bei Gericht) bis 29.11.2012 beschränkt. Leistungen nach dem SGB XII kommen im Rahmen einer einstweiligen Anordnung in der Regel erst ab dem Zeitpunkt der Antragstellung bei Gericht in Betracht (vgl. Meyer-Ladewig u.a., SGG, 9. Aufl. 2008, § 86 b Rn. 35 f). Ein Ausnahmefall, in dem die Nichtgewährung vor Antragstellung bei Gericht in die Zukunft fortwirkt (z.B. Kündigung eines Wohnraummietvertrages wegen vor Antragstellung bei Gericht aufgelaufener Mietschulden), liegt hier nicht vor. Das Gericht hat die Übernahme der Kosten für die AVT auf ein Jahr begrenzt. Es ist davon auszugehen, dass dann ein entsprechender Entwicklungsbericht vorgelegt werden kann, der auch Aussage über die weitere Erforderlichkeit der Therapie geben kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Auch wenn der Antragsteller insoweit unterlegen ist, als eine Kostenübernahme für die AVT für die Zeit vor Antragstellung bei Gericht nicht in Betracht kommt, hält es das Gericht nicht für sachgerecht, insoweit eine Kostenquote zu bilden. Denn die Beteiligten haben im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes vorrangig über die Frage gestritten, ob die AVT als heilpädagogische Leistung durch den Sozialhilfeträger zu übernehmen ist. Das (zeitliche) Unterliegen des Antragstellers ist aus Sicht des Gerichts im Rahmen der Kostenentscheidung nicht zu seinen Lasten zu berücksichtigen, da dieses insoweit als gering zu bewerten ist.
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