S 26 R 2060/10 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
26
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 26 R 2060/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Der aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 15.07.2010 gegen den Beitragsbescheid der Antragsgegnerin vom 07.07.2010 wird angeordnet. 2. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin und die gerichtlichen Kosten für das Antragsverfahren.

Gründe:

I. Die Antragsgegnerin hat unter dem 07.07.2010 nach Anhörung einen Beitragsbescheid erlassen, mit dem sie von der Antragstellerin Sozialversicherungsbeiträge und Säumniszuschläge fordert, insgesamt in Höhe von 115.446,49 EUR. Die Antragstellerin hat gegen diesen Bescheid fristgerecht Widerspruch eingelegt. Die Antragsgegnerin ist nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen nicht bereit, von der sofortigen Vollstreckbarkeit ihres Beitragsbescheides abzusehen. Sie trägt vor, es bestünden keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Beitragsforderungsbescheides. Damit ist die Antragstellerin nicht einverstanden und macht geltend, sie sei aufgrund von Verlusten und Finanzierung der Verluste durch neue Darlehen nicht weiter belastbar. Eine Zahlung der erhobenen Forderung sei für sie wirtschaftlich nicht möglich. Die Beitreibung dieser Forderung würde zwangsläufig zur Insolvenz der Antragstellerin führen. Im übrigen bestünden ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide. Es seien an sie ausländische Praktikanten aus der Ukraine vermittelt worden, über das Deutsche Komitee im Rahmen des akademischen Austauschdienstes. Sie sei aufgrund der bisherigen Kommunikation auch mit dem DAAD davon ausgegangen, dass die ukrainischen Studenten studienbezogene Praktika absolvieren würden. Auch sei ihr nicht bekannt gewesen, ob und inwieweit diese Studenten auch bei anderen Betrieben eingesetzt worden seien. Sie sei von ordnungsgemäßer sozialversicherungsfreier Praktikantentätigkeit ausgegangen, zumal auch ein Steuerberaterbüro eingeschaltet gewesen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II. Dem Antrag der Antragstellerin war stattzugeben.

Der Antrag der Antragstellerin ist zulässig. Denn der Widerspruch der Antragstellerin gegen den Beitragsbescheid hat keine aufschiebende Wirkung, § 86 a Abs. 2 Nr. 1 SGG. Auf die schon mit Schreiben vom 02.07.2010 beantragte außergerichtliche Aufschiebung der Vollziehbarkeit ist die Antragsgegnerin nicht eingegangen. In diesem Fall kann - wie hier - ein einstweiliger Rechtsschutz nach Maßgabe des § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG beantragt werden dahingehend, die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs des Widerspruchs anzuordnen.

Der Antrag der Antragstellerin ist hier auch als begründet anzusehen. Angesichts der Höhe der geltend gemachten Beitragsforderung nebst Säumniszuschlägen und angesichts des Umstandes, dass die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 25.11.2009 an die Bevollmächtigten der Antragstellerin viel zu unkritisch pauschal davon ausgeht, dass alle Studenten "zweifellos studienfachfremd" bei der Antragstellerin eingesetzt worden seien (mit der unausgesprochenen Vermutung, hier seien nur Billig-Arbeitskräfte allein für Zwecke der Antragstellerin eingesetzt worden), ist hier nicht auszuschließen, dass der Bescheid vom 07.07.2010 zumindest teilweise aufheben ist; mithin ist hier summarisch eine Abwägung vorzunehmen, also unter Berücksichtigung der Interessen der Antragstellerin einerseits sowie der öffentlichen Interessen oder Interessen anderer Personen andererseits abzuwägen, ob es der Antragstellerin zuzumuten ist, die Hauptsacheentscheidung - also das Ergebnis des Widerspruchsverfahrens - abzuwarten (vgl. Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 04.10.2005 - L 10 B 472/05 AS ER allgemein zur Abwägung). Hier ist angesichts des bisherigen sinngemäßem schriftsätzlichen Vortrages zur Existenzgefährdung der Antragstellerin, wenn die streitige Forderung schon jetzt so vollzogen werden sollte, angesichts auch durchaus ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit bzw. vollen Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beitragssummenbescheides es nicht als zumutbar anzusehen, dass die Antragstellerin bereits jetzt mit der Vollstreckung des angefochtenen Bescheides gefährdet wird. Wie bereits oben wiedergegeben, hat die Antragsgegnerin den Beitragsbescheid offenbar in der Vermutung erlassen, es würden hier ausländische Studenten in einem Agrarbetrieb als einfache Arbeitskräfte eingesetzt, mit rein formalem Status von Studenten, ohne dass auch ein Bezug zwischen dem Studium und der Tätigkeit für die Antragstellerin bestünde. Die Antragsgegnerin geht zwar zunächst zu Recht davon aus, dass ausländische Studenten durchaus sozialversicherungsfrei eingesetzt werden können, auch soweit es Studenten aus der Ukraine sind und nicht aus einem EU-Land, pauschalisiert dabei aber zu Lasten der Antragstellerin unkritisch. So heißt es auf Seite 3 des bereits erwähnten Schriftsatzes vom 25.11.2009 an die Bevollmächtigten der Antragstellerin (Bl. 209 ff der Verwaltungsakte), es seien die Studienbescheinigungen ausgewertet worden und die Studenten hätten in der Regel branchenfremde Studienfächer belegt (die nichts mit Agrarindustrie zu tun hätten). Die Antragsgegnerin erwähnt zwar Zweifelsfälle wie Energietechnik und Tiermedizin und Wirtschaftswissenschaften und Volkswirtschaftslehre u. a., jedoch auch andere Studienfächer, die - für jedermann nachvollziehbar - doch einen Bezug zur Tätigkeit in einem Agrar-Betrieb für D aufweisen. So sind z. B. zu nennen: Ökologie, landwirtschaftliche Ökonomie, Mechanisierung der Landwirtschaft, Biotechnologie und Nahrungsmitteltechnik. Studenten aus diesen Fachbereichen würden also in einem Agrarbetrieb bzw. auch in einem Pilzzuchtbetrieb nicht, wie die Antragsgegnerin dies bisher annimmt, "zweifellos studienfachfremd" eingesetzt werden. Außerdem ist die Antragsgegnerin selbst von ihrer ursprünglichen Forderung von 323.948,15 EUR abgerückt und geht also aufgrund des bisherigen Vortrags der Antragstellerin auch nicht mehr davon aus, dass hier vorsätzlich Sozialversicherungsbeiträge nicht eingezogen worden seien. Für mangelnde Vorsätzlichkeit spricht also durchaus wie auch für Rechtsunsicherheit bzw. Rechtsunklarheit, dass die ukrainischen Studenten nicht einfach eingesetzt bzw. angeworben wurden, sondern dass sie vielmehr über den akademischen Austauschdienst bei der Antragstellerin eingesetzt wurden. Im Widerspruchsverfahren wird die Antragsgegnerin daher noch näher zu prüfen haben, inwieweit hier wirklich ein "studienfachfremder" Einsatz erfolgt sei und noch näher aufzuklären haben, ob und inwieweit die Studenten durch z. B. internationale Vereinbarungen doch sozialversicherungsfrei sein könnten, auch vor dem Hintergrund der Einbindung des akademischen Austauschdienstes. Die Antragsgegnerin hätte sich also nicht ohne weitere kritische Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt lediglich bisher streitigen Feststellungen der Zollverwaltung anschließen dürfen, und nur aufgrund von Schätzungen - die das Gericht so anhand der Verwaltungsakte auch noch gar nicht nachvollziehen kann - eine Beitragsforderung in dieser Höhe erlassen dürfen. Bestehen - wie hier - somit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beitragssummenbescheides, so spricht dies regelmäßig für die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs bzw. für Aussetzung der Vollziehbarkeit (vgl. LSG NRW Beschluss vom 29.06.2007 - L 11 B 1/07 R ER und auch Hessisches Landessozialgericht Beschluss vom 26.03.2009 - L 1 KR 331/08 B ER). Ist es also nach bisheriger Sachlage nicht mehr auszuschließen, dass der Beitragsbescheid zumindest teilweise aufzuheben ist, lässt dies den Beitragsbescheid insgesamt nicht mehr rechtmäßig erscheinen mit der Folge, dass eine Vollstreckung daraus als unbillig anzusehen wäre - jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt.

Die Kostenentscheidung für das Antragsverfahren folgt aus §§ 154 Abs. 1, 161 VwGO in Verbindung mit § 197 a SGG.
Rechtskraft
Aus
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