S 6 U 25/08

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 6 U 25/08
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 15 U 137/09
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides 04.06.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2008 verurteilt, der Berechnung der Verletztenrente des Klägers einen anderen Jahresarbeitsverdienst unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zugrunde zu legen und ihm hierüber einen neuen Bescheid zu erteilen. 2. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergericht-lichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Berücksichtigung eines höheren JAV (Jahresarbeitsverdienst) bei der von der Beklagten nach § 90 Abs. 1 SGB VII (Sozialgesetzbuch – Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung) vorzunehmenden Neufestsetzung seiner Unfallrente.

Der am 00.00.1978 geborene Kläger wurde am 25.09.1986 gegen 13:40 Uhr auf dem Heimweg von der Schule von einem LKW angefahren und zog sich dadurch erhebliche Verletzungen zu. Der S H (als damals zuständiger Unfallversicherungsträger – die Beklagte ist hier Rechtsnachfolgerin) erkannte das Ereignis als sog. Arbeitsunfall (Wegeunfall) an (nach §§ 548 Abs. 1 Satz 1, 550 Abs. 1, 539 Abs. 1 Nr. 14 lit. b RVO (Reichsve¬sicherungsordnung) - vgl. jetzt: §§ 8 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 2 Abs. 1 Nr. 8 lit. b SGB VII). Der Kläger erhielt wegen der Unfallfolgen von der Rechtsvorgängerin der Beklagten eine entsprechende Verletztenrente zugesprochen (vgl. Bescheide vom 22.07.1988 und 31.01.1994). Als JAV wurde der Rentenberechnung - wie in § 575 Abs. 1 RVO vorgesehen - bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres 40 v.H. der im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls maßgebenden Bezugsgröße (vgl. § 18 SGB IV (Sozialgesetzbuch – Viertes Buch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung)) zugrunde gelegt, ab Vollendung des 18. Lebensjahres sodann 60 v.H. (Bescheid vom 12.07.1996).

Nach der – am 01.01.1997 in Kraft getretenen (Art. 36 S. 1 UVEG (Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz)) - und gem. § 214 Abs. 2 S. 1 SGB VII bei Neufestsetzung des JAV auch auf Versicherungsfälle vor seinem Inkrafttreten anzuwendenden – Vorschrift des § 90 Abs. 1 SGB VII wird der JAV, sofern dies für den Versicherten günstiger ist, von dem Zeitpunkt an neu festgesetzt, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre, wenn der Versicherungsfall vor Beginn einer Schulausbildung oder während einer Schul- oder Berufsausbildung eingetreten ist. Der Neufestsetzung wird dann das Arbeitsentgelt zugrunde gelegt, welches in diesem Zeitpunkt für Personen gleicher Ausbil-dung und gleichen Alters durch Tarifvertrag vorgesehen ist; bei Fehlen einer tariflichen Regelung ist das Arbeitsentgelt maßgeblich, welches für derartige Tätigkeiten am Beschäftigungsort maßgebend ist.

Im Juni 2000 beendete der Kläger erfolgreich eine Ausbildung zum Fachinformatiker – Anwendungsentwicklung (Zeugnisse der Berufsschule vom 21.06.2000 und der IHK (Industrie- und Handelskammer) Mittler Niederrhein vom 15.06.2000 sowie des Ausbildungsbetriebs JUA J-A S2/N) vom 30.06.2000).

Die Beklagte erhöhte den der Rentenberechnung zugrunde zu legenden JAV ab dem 16.06.2000. Sie ging dabei von dem Verdienst eines Datenverarbeitungskaufmanns - Fachrichtung Fachinformatiker (JAV &61620; 21.381,09 EUR) aus (Bescheid vom 04.06.2004).

Der Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 13.02.2008).

Mit seiner hiergegen gerichteten Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er weist mit Nachdruck darauf hin, dass er keine Ausbildung zum Datenverarbeitungskaufmann im Einzelhandel absolviert habe, sondern eine Ausbildung zum Fachinformatiker mit der Fachrichtung Anwendungsentwicklung. Seine Ausbildung sei nicht im kaufmännischen, sondern im technischen Bereich erfolgt. Er sei schwerpunktmäßig mit der Entwicklung und Konzeption von Software ausgebildet worden. Ein Vertrieb von Waren sei nicht Aus-bildungsinhalt gewesen. Er hält es deshalb für falsch, wenn die Beklagte bei der Berechnung der Rente das Gehalt eines Datenverarbeitungskaufmannes im Einzelhandel zugrunde legt. Er ist der Meinung, dass bei ihm aufgrund der erfolgreich absolvierten Ausbildung ein JAV von mindestens 30.000,00 EUR angemessen sei. Wegen der näheren Einzelheiten seines Vortrags wird auf den weiteren Inhalt der von ihm zu den Akten gereichten Schriftsätze Bezug genommen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte - unter Abänderung des Bescheides vom 04.06.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2008 - zu verurteilen, der Berechnung der Unfallrente einen höheren Jahresarbeitsverdienst zugrunde zu legen und hierüber einen neuen Bescheid zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Verwaltungsakte und ist nach wie vor davon überzeugt, dass der Tarifvertrag des Ausbildungsunternehmens für die Bewertung heranzuziehen ist. Auch hier wird wegen der Einzelheiten – zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen wie es § 136 Abs. 2 SGG (Sozialgerichtsgesetz) vorsieht – auf den weiteren Inhalt der von ihr zu den Akten gereichten Schriftsätze verwiesen.

Das Gericht hat die umfangreichen Verwaltungsakten der Beklagten beigezogen und ausgewertet. Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf ihren Inhalt ebenso wie auf den weiteren Inhalt der Streitakten Bezug genommen. Auch dieser ist Gegenstand der ausführlichen mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und im Umfang des zuletzt gestellten Antrags begründet.

Die Entscheidung der Beklagten kann nach Auffassung des Gerichts keinen Bestand haben. Zu Unrecht geht die Beklagte davon aus, dass bei der Neufestsetzung des JAV von dem Tarifvertrag für den Ausbildungsbetrieb auszugehen ist. Diese Auffassung findet im Gesetz keine Stütze.

Nach § 90 Abs. 1 Satz 1 wird der JAV von dem Zeitpunkt an neu festgesetzt, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre, wenn der Versicherungsfall bereits vor Beginn der Schulausbildung oder während einer Schul- oder Berufsausbildung eingetreten ist.

Obwohl die Berufsausbildung des Klägers sich hier tatsächlich nicht verzögert hat, ist eine entsprechende Neufestsetzung trotzdem vorzunehmen. Hiervon gehen die Beteiligten auch übereinstimmend aus. Der Fall, dass jemand vor oder während seiner Ausbildung einen Arbeitsunfall erleidet, gleichwohl aber hierdurch seine Ausbildung weder abge¬brochen noch verzögert wird, ist nicht ausdrücklich geregelt. Die Auslegung der Vorschrift ergibt aber, dass in diesem Fall die Neufestsetzung des JAV nicht ausgeschlossen ist, sondern von dem Zeitpunkt des wirklichen Endes der Ausbildung an neu festzusetzen ist (siehe dazu nur das Urteil des BSG (Bundessozialgericht) - B 2 U 31/99 R - vom 07.11.2000 (Rn. 20-22) sowie das Urteil des LSG (Landessozialgericht) Rheinland-Pfalz - L 3 U 123/03 - vom 06.04.2004 (Rn. 18 und 20)).

Nach § 90 Abs. 1 Satz 2 wird der Neufestsetzung das Arbeitsentgelt zugrunde gelegt, welches in diesem Zeitpunkt für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarifvertrag vorgesehen ist; soweit keine tarifliche Regelung besteht, ist das Arbeitsentgelt maßgeben, welches für derartige Tätigkeiten am Beschäftigungsort des Versicherten gilt. Der Versicherte wird damit so gestellt, als ob er den Versicherungsfall erst nach Beendigung der Ausbildung und damit mit einem höheren Verdienst erlitten hätte (so Rütenik in: jurisPK-SGB VII § 90 Rn. 46; Urteil des BSG - B 2 U 31/99 R - vom 07.11.2000 (Rn. 17); Urteil des BSG - B 2 U 3/05 R - vom 07.02.2006 (Rn. 17)).

Hierbei ist es – insbesondere in den Fällen, in denen ein Beschäftigter nach Ende seiner Ausbildung im Beschäftigungsbetrieb verbleibt – auch sachgerecht, sachlich und örtlich auf die Verhältnisse im Ausbildungsbetrieb abzustellen und insoweit den am Stichtag – dies ist der Tag nach dem Ende der Ausbildung – geltende branchenspezifische Tarifregelung heranzuziehen (Rütenik a.a.O. Rn. 46/47; Urteil des LSG Rheinland-Pfalz - L 3 U 123/03 - vom 06.04.2004 (Rn. 21 m.w.N.)). Diese Lösung wird den Besonderheiten des hier vorliegenden Sachverhaltes jedoch nicht gerecht.

Aufgrund der Ermittlungen der Beklagten steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger – unabhängig davon, dass er ein Studium aufgenommen hat – nach Ausbildungsende nicht mehr im Ausbildungsbetrieb weiter beschäftigt worden wäre, da aufgrund der von ihm erworbene Berufsqualifikation insoweit dort für ihn keine Verwendung bestand. Insofern erscheint es sachwidrig, die Verhältnisse dieses Betriebes zugrunde zu legen.

Der JAV nach Maßgabe des § 90 Abs. 1 Satz 2 SGB VII ist an dem Entgelt auszurichten, dass dem durch die Ausbildung angestrebten Beruf entspricht (Urteil des BSG - B 2 U 31/99 R - vom 07.11.2000 (Rn. 24)). Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist das Arbeitsentgelt zugrunde zu legen, dass für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters vorgesehen ist. Abgestellt wird damit nach Auffassung der Kammer auf das Ziel der Ausbildung und nicht den konkreten Ausbildungsbetrieb. Dies gilt jedenfalls nach Auffassung des Gerichts für die in diesem Sonderfall tatsächlich absolvierte Ausbildung des Klägers.

Sofern Ricke (Kasseler Kommentar - Sozialversicherungsrecht, § 90 SGB VII Rn. 6 (Stand: EL 55 - September 2007)) zur Begründung der Maßgeblichkeit des Tarifvertrages für das Ausbildungsunternehmen darauf hinweist, dass eine abweichende Handhabung vermeidbare Probleme aufwirft, wenn nach Ausbildungsende keine Tätigkeit aufgenommen wird, folgt hieraus nichts anderes. Eine entsprechende Anordnung hat der Gesetzgeber gerade nicht getroffen. Daher ist auch der insoweit abweichenden Rechtsprechung des LSG Rheinland-Pfalz (Urteil L 3 U 123/03 - vom 06.04.2004 (Rn. 21)) nicht zu folgen (auch die dort in Bezug genommene Fundstelle in Bereiter-Hahn/Mehrtens - Gesetzliche Unfallversicherung - § 90 Anm. 9 - belegt dies nicht).

Wird die betreffende Berufstätigkeit von Tarifverträgen für verschiedene Wirtschaftszweige erfasst, die zu verschiedenen Entgelthöhen führen, wird dabei hinsichtlich der beabsichtigten Tätigkeit in einem dieser Wirtschaftszweige von den glaubhaften Angaben des Versicherten auszugehen sein (ebenso Kater in: Kater/Leube, Gesetzliche Unfallversicherung - SGB VII, § 90 Rn 30). Die Ermittlung des Arbeitsentgelts über das ortsübliche Entgelt ist allerdings gegenüber der Anwendung eines Tarifvertrages nachrangig, diese Möglichkeit kommt nur dann in Betracht, wenn kein entsprechender Tarifvertrag - was hier nicht der Fall sein dürfte - existiert (Rütenik a.a.O. Rn. 49; Kater a.a.O. Rn. 32; Bereiter-Hahn/Mehrtens a.a.O. Anm. 10).

Die Beklagte wird daher zunächst zu klären haben, welcher Tarifvertrag nach den Angaben des Klägers in Betracht kommt, um sodann die entsprechende Entgelthöhe über eine weitere Anfrage beim Tarifregister ermitteln zu können und dem Kläger sodann einen neuen Bescheid zu erteilen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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