S 2 KA 395/12

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
2
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 2 KA 395/12
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 KA 62/13
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid des Beklagten vom 02.07.2012 wird mit der Maßgabe aufgehoben, dass der Klägerin eine individuelle Beratung gemäß § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V anzubieten ist. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit eines Regresses wegen Über-schreitung der Arzneimittel-Richtgrößen im Jahre 2009.

Die Klägerin ist Ärztin für Allgemeinmedizin mit den Zusatzbezeichnungen Chirotherapie und Rehabilitationswesen und war bis zum Quartal 4/2010 in L zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen.

Mit Bescheid vom 26.10.2011 setzte die Prüfungsstelle der Ärzte und Kranken-kassen Nordrhein für die Quartale 1/2009 bis 4/2009 wegen Überschreitung der Arzneimittel-Richtgrößen einen Regress in Höhe von 22.228,17 EUR fest. Diesem Bescheid widersprach die Klägerin. Hierbei wies sie auf ihre unterdurchschnittlichen Fallzahlen hin, die nur geringere "Verdünnungen" der Statistiken ermöglichten. Dies wirke sich vor allem in bezug auf ihre Praxisbesonderheiten aus. Diese lägen schwerpunktmäßig in der Diagnostik und Therapie der Lyme-Borreliose. Diese Erkrankung würde insbesondere antibiotisch und mit antibiotischen Kombinationsbehandlungen therapiert. Der Anteil der Borreliose-Patienten in der Praxis liege bei z.T. weit über 50 %. Im Quartal 1/2009 seien allein 326 Patienten mit Borrelioe entsprechend 66 % der Gesamtfallzahl dieses Quartals betreut worden. Demgegenüber zeigten die Morbiditätsstatistiken der KV Nordrhein in den Praxen der Vergleichsgruppe eine Häufigkeit der Lyme-Borreliose (A69) von weniger als 1,1 % der Fälle. Herauszurechnen seien auch die Mehrkosten zur Behandlung der Lyme-Borreliose für Makrolide (J01FA), Sulfonamide (J01E), alle Generationen der Chephalosporine (J01D), Metronidozol (J01XD01/P01AB01) und Hydroxychloroquin (P01BA02) sowie Antiepileptika zur Versorgung von Schmerzpatienten und magenprophylaktische Präparate.

Mit Bescheid vom 02.07.2012 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.

Dabei ging er davon aus, dass es sich um eine Praxis handele, die der Fach-gruppe der Allgemeinmediziner/praktischen Ärzte nach Anlage B der Richtgrö-ßenvereinbarung 2009 [(RgV 2009)] zuzuordnen sei. Tabellarisch listete er die Fallzahlen der Klägerin sowie die statistischen Abweichungen von der Ver-gleichsgruppe bei den Fallzahlen (- 51,51 % bis - 65,53 %), den Anteilen der Rentner, den Notfällen, Vertreterfällen, Zuweisungen und Überweisungen, Gesamtleistungen (Honorar), außergebührenmäßigen Kosten (Sprechstundenbedarf, Heilmittelkosten (Abweichung zur Richtgrößensumme + 600,07 %)) auf. Bei den Arzneiverordnungskosten ermittelte der Beklagte in der Summe von Allgemeinversicherten (AV) und Rentnern (RV) im Jahre 2009 eine Abweichung zur Richtgrößensumme in Höhe von 144.437,29 EUR entsprechend + 108,06 %.

Zugunsten der Klägerin zog der Beklagte von den Arzneiverordnungskosten zu-nächst Nichtarzneimittel (2.440,35 EUR) ab und brachte gemäß § 5 Abs. 3 RgV 2009 Arzneimitteltherapien nach den Symbolnummern 90906, 90909, 90912 und 90913 zu 100 % in Abzug (18.157,00 EUR). Weiterhin berücksichtigte er gemäß § 5 Abs. 4 RgV 2009 Mehrkosten gegenüber der Vergleichsgruppe bei den Praxisbesonderheiten nach den Symbolnummern 90915, 90916, 90923, 90924, 90925, 90926, 90927, 90929, 90932 und 90933 im Gesamtumfang von 46.090,06 EUR. Ferner berücksichtigte er gemäß § 5 Abs. 5 RgV 2009 die Mehrkosten gegenüber der Vergleichsgruppe bei den ATC-Klassifikationen J01AA (Tetracycline), J01FA09 (Clarithromycin), J01DD (Cephalosporine der 3. Generation), J02AC01 (Fluconazol), N02B (Andere Analgetika und Antipyretika) und ZZZ - Misteltherapie als Besonderheit und brachte diese in Höhe von 16.294,72 EUR in Abzug.

Darüber hinausgehende Praxisbesonderheiten erkannte der Beklagte nicht an.

Eine Berücksichtigung weiterer Antibiotika wie Metronidozol (J01XD01/P01AB01) und Hydroxychloroquin (P01BA02) könne nicht erfolgen, da diese Wirkstoffe zur Behandlung der Lyme-Borreliose nicht zugelassen seien.

Von den für das Quartal 1/2009 in der eingereichten Liste aufgezählten 326 Lyme-Borreliose-Patienten seien 29 doppelt und einer dreifach aufgeführt, eine Angabe von den verordneten Antibiotika sei nicht enthalten.

Ausweislich der Aufstellung über die 100 häufigsten ICD-10-Schlüssel und Kurztexte finde sich bei der Klägerin die Diagnose "Sonstige Spirochäteninfektionen" (A69) mit 53,2 % (Quartal 1/2009), 59,2 % (2/2009), 48,1 % (3/2009) und 46,1 % (4/2009) jeweils auf Rang 1 der Morbiditätsstatistik. Betrachte man aber die Liste WP09, so finde man häufig bei Patienten diese Diagnose, ohne dass ein Antibiotikum verordnet worden sei. Der Beklagte stelle fest, dass die Klägerin diese Codierung als Dauerdiagnose aufführe.

Nach weiterem Abzug von Verordnungskosten für Arzneimittel und Rezepturen ohne PZN in Höhe von 125,17 EUR verblieben bereinigte Arzneiverordnungskosten unter Berücksichtigung aller Abzüge und Feststellungen von 194.992,72 EUR und eine Abweichung gegenüber der Richtgrößensumme von 45,88 %. Den über 25 % hinausgehenden Betrag regressierte der Beklagte. Abzüglich des günstigsten Nettokostenindexes von 79,63 % ergab sich ein Regressbetrag von netto 22.228,17 EUR.

Hiergegen richtet sich die am 06.08.2012 (Montag) erhobene Klage.

Die Klägerin wiederholt ihre Ansicht, der angefochtene Bescheid berücksichtige nicht hinreichend ihre Praxisbesonderheiten. Soweit nach § 5 Abs. 5 RgV 2009 andere (als die von Amts wegen zu berücksichtigenden) Praxisbesonderheiten nur dann zu berücksichtigen seien, wenn sowohl der Art als auch der Anzahl nach besondere von der Arztgruppentypik abweichende Erkrankungen behandelt worden seien, widerspreche dies der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Praxisbesonderheiten seien aus dem Patientengut resultierende Gegebenheiten, die entweder ihrer Art oder - wie hier - ihrer Häufigkeit nach in Relation zur Vergleichsgruppe als atypisch zu bezeichnen seien und einen Mehraufwand rechtfertigen könnten. Im Übrigen bezieht sich die Klägerin auf ihre Darlegungen zum Prüfverfahren für das Jahr 2007 (Gegenstand des Rechtsstreits S 2 KA 228/10, nunmehr L 11 KA 27/12).

Die Klägerin beantragt,

die Entscheidung des Beklagten aus seiner Sitzung vom 09.05.2012 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu über ihren Widerspruch zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält seinen Bescheid für rechtmäßig.

Die Beigeladenen stellen keine Prozessanträge.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte in Abwesenheit von Vertretern der Beigeladenen zu 1) bis 7) verhandeln und entscheiden, da auf diese Möglichkeit in den form- und fristgerecht zugestellten Terminbenachrichtigungen hingewiesen worden ist.

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid des Beklagten beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), da dieser rechtswidrig ist.

Rechtsgrundlage für einen Bescheid, der einen Vertragsarzt auf Grund seiner Arzneiverordnungen wegen Überschreitung der Richtgrößen in Regress nimmt, sind § 84 Abs. 6 in Verbindung mit § 106 Abs. 5 a Sozialgesetzbuch - Gesetzli¬che Krankenversicherung (SGB V).

Nach § 84 Abs. 6 SGB V vereinbaren die Gesamtvertragspartner bis zum 15.11. für das jeweils folgende Kalenderjahr zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung für das auf das Kalenderjahr bezogene Volumen der je Arzt verordneten Arznei- und Verbandmittel (Richtgrößenvolumen) arztgruppenspezifische fallbezogene Richtgrößen als Durchschnittswerte unter Berücksichtigung der nach Abs. 1 getroffenen Arzneimittelvereinbarung. Zusätzlich sollen die Vertragspartner die Richtgrößen nach altersgemäß gegliederten Patientengruppen und darüber hinaus auch nach Krankheitsarten bestimmen. Die Richtgrößen leiten den Vertragsarzt bei seinen Entscheidungen über die Verordnung von Arzneimitteln nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot. Die Überschreitung des Richtgrößenvolumens löst eine Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 Abs. 5a SGB V unter den dort genannten Voraussetzungen aus.

Nach § 106 Abs. 5 a Satz 3 SGB V hat der Vertragsarzt bei einer Überschrei¬tung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 v.H. nach Feststellung durch den Prüfungsausschuss den sich daraus ergebenden Mehraufwand den Kran-kenkassen zu erstatten, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten be¬gründet ist. Die Vertragspartner bestimmen in Vereinbarungen nach Abs. 3 die Maßstäbe zur Prüfung der Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten (§ 106 Abs. 5 a Satz 5 SGB V).

Auf dieser Grundlage haben die Vertragspartner mit Wirkung vom 01.01.2009 eine Vereinbarung über "Richtgrößen für Arznei- und Verbandmittel und Verfah¬ren der Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Überschreiten der Richtgrößen" (RgV 2009) getroffen und im Rhein. Ärzteblatt 1/2009, S. 84 ff. bekannt gemacht. Der angefochtene Bescheid entspricht den Maßgaben dieser RgV 2009.

Rechtsfehlerfrei hat der Beklagte auf der Grundlage der RgV 2009 die Abweichungen zu den Arzneimittel-Richtgrößen festgestellt, die sich in der Praxis der Klägerin für das Jahr 2009 auf insgesamt 144.437,29 EUR (+ 108,06 %) belaufen. Nach Korrektur sachfremder Kosten von 2.440,5 EUR und Rezepturen ohne PZN in Höhe von 125,17 EUR hat er vollständig in Abzug zu bringende Kosten (§ 5 Abs. 3 RgV 2009) in Höhe von 18.157,00 EUR und hinsichtlich der Mehraufwendungen von Amts wegen abzuziehende Kosten (§ 5 Abs. 4 RgV 2009) mit 46.090,06 EUR als Praxisbesonderheiten berücksichtigt.

Ferner hat der Beklagte gemäß § 5 Abs. 5 RgV 2009 weitere Praxisbesonderheiten in Höhe von insgesamt 16.294,72 EUR anerkannt. Die Ablehnung weiterer Praxisbesonderheiten auf dieser Grundlage ist nicht zu beanstanden.

Praxisbesonderheiten sind danach - soweit objektivierbar - zu berücksichtigen, wenn der Arzt nachweist, dass er der Art und der Anzahl nach besondere von der Arztgruppentypik abweichende Erkrankungen behandelt hat und hierdurch notwendige Mehrkosten entstanden sind. Die Anerkennung als Praxisbesonderheit ist auf die Höhe der hierdurch bedingten Mehrkosten begrenzt. Die schlüssige Darlegung dieser Praxisbesonderheiten sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach obliegt dem zu prüfenden Arzt. Ergänzend bestimmt § 5 Abs. 6 RgV 2009, dass der Arzt für die von ihm gesehenen Praxisbesonderheiten im Sinne des Abs. 5 darzulegen hat, aufgrund welcher besonderen, der Art und der Anzahl nach von der Typik in der Arztgruppe abweichenden Erkrankung er welche Arzneitherapien mit welchen (ggf. geschätzten) Mehrkosten je Behandlungsfall veranlasst hat.

Praxisbesonderheiten in diesem Sinne sind - nach den Richtgrößenvereinbarungen ebenso wie nach der Rechtskonkretisierung durch die Rechtsprechung bei Durchschnittsprüfungen (vgl. Clemens in juris PK-SGB V, 2. Aufl. 2012, § 106 Rn. 154) - aus der Zusammensetzung der Patienten herrührende Umstände, die sich auf das Behandlungsverhalten des Arztes auswirken und in den Praxen der Vergleichsgruppe nicht in entsprechender Weise anzutreffen sind (u.v.a. BSG, Urteil vom 21.06.1995 - 6 RKa 35/94 -). Die betroffene Praxis muss sich nach der Zusammensetzung der Patienten und hinsichtlich der schwerpunktmäßig zu behandelnden Gesundheitsstörungen vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe unterscheiden (u.v.a. BSG, Urteil vom 06.09.2000 - B 6 KA 24/99 R -). Dabei ist es grundsätzlich Sache des geprüften Arztes, Praxisbesonderheiten darzulegen und nachzuweisen; ihn trifft die Darlegungslast (u.v.a. BSG, Urteil vom 11.12.2002 - B 6 KA 1/02 R -). Es ist also Angelegenheit des Vertragsarztes und nicht des Beklagten, entscheidungserhebliche Umstände vorzutragen, die auf eine Abweichung von der Typik der Praxen der Fachgruppe schließen lassen. Der Vertragsarzt ist nicht nur gemäß § 21 Abs. 2 Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) allgemein gehalten, bei der Ermittlung des Sachverhalts mitzuwirken, insbesondere die ihm bekannten Tatsachen und Beweismittel anzugeben. Im Rahmen der Abrechnung der vertragsärztlichen Leistungen hat er vielmehr eine entsprechende besondere Mitwirkungspflicht aus der Sache selbst, wie sie immer dann besteht, wenn ein Arzt sich auf ihm günstige Tatsachen berufen will und diese Tatsachen allein ihm bekannt oder nur durch seine Mithilfe aufgeklärt werden können (u.v.a. BSG, Urteil vom 15.11.1995 - 6 RKa 58/04 - m.w.N.). Die Regelungen des § 5 Abs. 5 und 6 RgV 2009 ändern diese von der Rechtsprechung bei Durchschnittsprüfungen entwickelte Rechtskonkretisierung zu Praxisbesonderheiten im Übrigen nicht ab, sondern wiederholen diese nur bzw. erläutern diese (so LSG NRW, Urteile vom 09.02.2011 - L 11 KA 38/09 - und vom 14.12.2011 - L 11 KA 75/10 - zu § 5 Abs. 6, 7 RgV Arzneimittel 2005 und RgV Arzneimittel 2006).

Bei einer Richtgrößenprüfung kommt den Prüfgremien ein Beurteilungsspielraum zu, soweit es um die Feststellung und Bewertung von Praxisbesonderheiten geht (BSG, Urteil vom 02.11.2005 - B 6 KA 63/04 R -). Dieser unterliegt nur eingeschränkter richterlicher Kontrolle. Die gerichtliche Überprüfung beschränkt sich auf die Prüfung, ob das Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, ob der Verwaltungsentscheidung ein richtig und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, ob die Verwaltung die Grenzen eingehalten hat, die sich bei Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs "Wirtschaftlichkeit" ergeben, und ob sie ihre Subsumtionserwägungen so verdeutlicht und begründet hat, dass im Rahmen des Möglichen die zutreffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe nachvollziehbar ist (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 27.06.2007 - B 6 KA 27/06 R - ). Dies hat der Beklagte hier in rechtsfehlerfreier Weise getan.

Die Klägerin macht einen gegenüber der Vergleichsgruppe erhöhten Anteil von Patienten mit Lyme-Borreliose-Erkrankungen geltend, aus dem sich ein Mehrbedarf an Arzneimitteln ergebe. Die Therapie der Lyme-Borreliose ist wissenschaftlich noch nicht in Gänze erforscht. Insbesondere ist die wissenschaftliche Basis für die antibiotische Behandlung der Lyme-Borreliose mit Ausnahme des lokalisierten Frühstadiums (Erythema migrans (EM)) immer noch unzureichend (Deutsche Borreliose-Gesellschaft e.V., Leitlinien zur Diagnostik und Therapie der Lyme-Borreliose, S. 11). Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) existieren gegenwärtig zur "Neuroborreliose" (Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN)) und zu "Kutanen Manifestationen der Lyme Borreliose" (Deutsche Dermatologische Gesellschaft (DDG)). Eine S3-Leitlinie "Lyme Borreliose, Diagnostik und Therapie" der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG) ist am 01.05.2011 angemeldet worden, geplante Fertigstellung: 31.12.2014 (Registernummer 013 - 080).

Aus den vorhandenen Leitlinien lässt sich trotz gewisser Unterschiede im Detail erkennen, dass sowohl zur Therapie der akuten als auch der chronischen Lyme-Borreliose die Wirksamkeit von Doxycyclin belegt ist, wobei eine Gabe von 2-3 × 100 mg/Tag über 14-21 Tage eine sinnvolle Dosierung darstellt. Spätinfektionen mit Organmanifestationen sollten 3 bis 4 Wochen behandelt werden. Das hat der Beklagte berücksichtigt, indem er gemäß § 5 Abs. 5 RgV 2009 die Mehrkosten bei den Tetracyclinen (Doxycyclin), bei Makroliden (Clarithromycin) und Cephalosporinen der 3. Generation abgezogen hat. Schließlich hat er außerhalb der Antibiotika weitere bei der Behandlung der Lyme-Borreliose denkbar einsetzbare Mittel in Gestalt von Antimykotika (Fluconazol), Analgetika und Antipyretika sowie der Misteltherapie herausgerechnet. Damit hat er in hinreichendem Maße die auf die Behandlung der Lyme-Borreliose entfallenden Mehrkosten berücksichtigt.

Zwar werden aus fachmedizinischer Sicht mitunter erheblich höhere Dosierungen, erheblich längere Behandlungszeiträume und verschiedene Kombinationen von Antibiotika für Erfolg versprechender gehalten, wobei die Spannbreite wissenschaftlich-klinischer Analysen bei begrenzter Evidenzbasis außerordentlich breit ist. Indes ist zu beachten, dass nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1, § 70 Abs. 1 SGB V die Versorgung der Versicherten ausreichend und zweckmäßig sein muss. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer (auch Vertragsärzte) nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. Das bedeutet, dass Untersuchungen und Behandlungen, die sich nicht auf gesicherte Erkenntnisse stützen, sondern eher forschenden Charakter haben, nicht zur vertragsärztlichen Versorgung gehören (vgl. bereits BSG, Urteil vom 13.03.1991 - 6 RKa 33/89 -). Solche Diagnostik und Therapie, so ethisch anerkennenswert für das Wohl der Patienten sie ist, bleibt Spezialambulanzen in universitären Einrichtungen vorbehalten und geht über den Bereich einer hausärztlichen Kassenpraxis hinaus.

Nachdem der Beklagte die Mehrkosten aus Listen WP08/05 gemäß § 5 Abs. 5 RgV 2009 in Abzug gebracht hat, spielen die unterdurchschnittlichen Fallzahlen in der Praxis der Klägerin keine Rolle mehr. Der Vortrag der Klägerin, sie habe weit mehr an Lyme-Borreliose erkrankte Patienten behandelt als die Fachgruppe, erbringt weder Erkenntnisse über den Schweregrad der Erkrankung dieser Patienten noch über den damit verbundenen Mehraufwand. Für die Beurteilung unzureichender Verdünnungsmöglichkeiten - soweit hierfür im Rahmen der Richtgrößenprüfung überhaupt Raum sein sollte - gibt dieses Vorbringen nichts her.

Rechtsfehlerfrei hat der Beklagte damit im Ergebnis eine Überschreitung der Richtgrößensumme von + 45,88 % festgestellt. Gleichwohl hätte als Rechtsfolge kein Regress festgesetzt werden dürfen.

Nach der zum 01.01.2012 durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz in Kraft getretenen Vorschrift des § 106 Abs. 5e Sätze 1-3 SGB V (BGBl. 2011 I, 2983) erfolgt abweichend von Abs. 5a Satz 3 bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % eine individuelle Beratung nach Abs. 5a Satz 1. Ein Erstattungsbetrag (= Regress) kann bei künftiger Überschreitung erstmals für den Prüfzeitraum nach der Beratung festgesetzt werden. Dies gilt entsprechend, wenn ein Vertragsarzt die ihm angebotene Beratung abgelehnt hat.

Soweit das SGB V keine ausdrückliche Übergangsregelung enthält, bestimmt sich der zeitliche Anwendungsbereich der Regelung nach den allgemeinen für das intertemporale Sozialrecht geltenden Grundsätzen. Danach ist ein Rechtssatz grundsätzlich nur auf solche Sachverhalte anwendbar, die nach seinem Inkrafttreten verwirklicht werden. Dementsprechend hat das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass sich die Entstehung und der Fortbestand sozialrechtlicher Ansprüche bzw. Rechtsverhältnisse nach dem Recht beurteilen, das zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände gegolten hat, soweit nicht später in Kraft getretenes Recht etwas anderes bestimmt (z.B. Urteile vom 22.06.2010 - B 1 KR 29/09 R -; vom 27.08.2008 - B 11 AL 11/07 R - jeweils m.w.N.; vgl. auch Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 3/09 R -). Insbesondere erfassen Änderungen der materiell-rechtlichen Vorgaben der Wirtschaftlichkeitsprüfung grundsätzlich nur Quartale nach dem Inkrafttreten der Neuregelung. Nach welchen Grundsätzen die Wirtschaftlichkeitsprüfung stattfindet und was ihr Gegenstand ist, richtet sich nach den Vorschriften, die im jeweils geprüften Zeitraum gegolten haben. Etwas anderes kommt nur dann in Betracht, wenn es gesetzlich ausdrücklich angeordnet ist (BSG, Urteil vom 09.04.2008 - B 6 KA 34/07 R - m.w.N.). Eine gesetzliche Vorgabe, die Wirtschaftlichkeitsprüfung auch für Quartale aus der Zeit bis zum Ende des Jahres 2011 nach den neuen materiell-rechtlichen Regelungen des § 106 Abs. 5e Sätze 1-3 SGB V durchzuführen, besteht nunmehr seit dem 26.10.2012.

Gemäß § 106 Abs. 5e Satz 7 SGB V - eingeführt durch das Zweite Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 19.10.2012 (BGBl. 2012 l, 2192) mit Wirkung zum 26.10.2012 - gilt § 106 Abs. 5e SGB V auch für Verfahren, die am 31. Dezember 2011 noch nicht abgeschlossen waren. Dabei ist unerheblich, ob es sich insoweit um eine "Klarstellung zur Rechtslage" handelt, wie der Gesundheitsausschuss annimmt (kritisch dazu BSG, Urteil vom 15.08.2012 - B 6 KA 45/11 R -). Maßgeblich ist der durch das Gericht im Wege der Auslegung zu ermittelnde Inhalt des Gesetzes selbst, der "objektivierte Wille des Gesetzgebers", in dessen Bestimmung die Motive des Gesetzgebers ggf. sekundär einfließen können (LSG NRW, Beschluss vom 27.03.2013 - L 11 KA 96/12 B ER - m.w.N.). Die Norm ordnet unzweifelhaft an, dass alle am Jahresende 2011 noch "offenen" Verfahren der Richtgrößenprüfung dem Grundsatz "Beratung vor Regress" unterfallen; insoweit entfaltet die Regelung materiell-rechtlich Rückwirkung. Das wird verdeutlicht durch die Begründung zum Gesetzentwurf des § 106 Abs. 5e Satz 7 SGB V. Danach soll der Grundsatz "Beratung vor Regress" ab dem 01.01.2012 für alle zu diesem Zeitpunkt laufenden und nachfolgenden Verfahren der Prüfgremien - auch soweit sie zurückliegende Prüfzeiträume betreffen - gelten. Die Prüfungsstelle und der Beschwerdeausschuss können seitdem keinen Erstattungsbetrag mehr festsetzen, wenn nicht zu dem früheren Prüfzeitraum die gesetzlich vorgeschriebene individuelle Beratung der Vertragsärztin oder des Vertragsarztes erfolgt ist. Insoweit haben die Prüfgremien das zum Zeitpunkt ihrer abschließenden Entscheidung geltende Recht anzuwenden. Zudem scheidet die Festsetzung eines Erstattungsbetrages für Prüfzeiträume aus, die vor der tatsächlichen Beratung liegen, weil der Zweck der Vorschrift, einer wiederholten Überschreitung des Richtgrößenvolumens durch individuelle Beratung vorzubeugen, nur mit der Möglichkeit zur Anpassung des Verordnungsverhaltens in den nachfolgenden Prüfzeiträumen erreicht werden kann (BT-Drucks. 17/10156 S, 95).

Unter "Verfahren" i.S d. § 106 Abs. 5e Satz 7 SGB V ist das Verwaltungsverfahren vor den Prüfgremien und nicht ein sich daran anschließendes Gerichtsverfahren und hinsichtlich des Verwaltungsverfahrens auch das Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss und nicht nur das vor der Prüfungsstelle zu verstehen (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.02.2013 - L 5 KA 222/13 ER-B -). Das Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss gilt gemäß § 106 Abs. 5 Satz 6 SGB V als Vorverfahren i.S.d. § 78 SGG; es schließt das Verwaltungsverfahren mit dem Widerspruchsbescheid, der allein Gegenstand eines nachfolgenden Klageverfahrens ist, ab (BSG, Urteil vom 29.06.2011 - B 6 KA 16/10 R -). Auch in der Begründung zum Entwurf des § 106 Abs. 5e Satz 7 SGB V ist ausgeführt, dass die Neuregelung (des Grundsatzes "Beratung vor Regress") für ein bereits vor dem Inkrafttreten abgeschlossenes Widerspruchsverfahren nicht gelten soll, auch wenn eine Klage gegen die Entscheidung des Beschwerdeausschusses noch anhängig ist (BT-Drs. 17/10156, S. 95).

Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 106 Abs. 5e Satz 7 SGB V liegen hier vor. Es handelt sich um eine Richtgrößenprüfung; der Bescheid des Beklagten wurde am 02.07.2012 erteilt, das Verfahren war somit am 31.12.2011 noch nicht abgeschlossen.

Vor Erlass des streitbefangenen Bescheides hat eine individuelle Beratung der Klägerin i.S.d. § 106 Abs. 5e Satz 1, Abs. 5a Satz 1, Abs. 1a SGB V zu ihrem Heilmittelverordnungsverhalten nicht stattgefunden. Nach diesen Bestimmungen berät die Prüfungsstelle die Vertragsärzte auf der Grundlage von Übersichten über die von ihnen im Zeitraum eines Jahres oder in einem kürzeren Zeitraum erbrachten, verordneten oder veranlassten Leistungen über Fragen der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Versorgung.

Die Sinnhaftigkeit einer solchen individuellen Beratung, die das Ziel der Verhaltenssteuerung (= Reduzierung der Heilmittelverordnungskosten) verfolgt, zeigt sich namentlich im vorliegenden Fall. Die Klägerin hat nach ihrem Vortrag seit 2001 ein Patientengut mit hohem Anteil an Borreliose-Erkrankungen betreut. Für die Jahre 2007 bis 2009 ist sie Regressen ausgesetzt worden, nachdem sie die Arzneimittel-Richtgrößen in erheblichem Umfang überschritten hatte (2007: + 43,36 %; 2008: + 58,24 %; 2009: + 45,88 % (jeweils nach Abzug der anerkannten Praxisbesonderheiten)). Gerade um der Klägerin zu verdeutlichen, inwieweit bei der Behandlung von Borreliose-Patienten Arzneimittelverordnungen als Praxisbesonderheit berücksichtigt werden können oder auch nicht, aber auch, um ihr ggf. Gelegenheit zu geben, in begründeten Fällen eine Feststellung über die Anerkennung von Praxisbesonderheiten zu beantragen (§ 106 Abs. 5e Sätze 4, 5 SGB V), ist eine individuelle Beratung notwendig, um effektiv eine Änderung ihres Verordnungsverhaltens zu bewirken. Das gilt unabhängig davon, dass die Klägerin zwischenzeitlich ihre Praxis aufgegeben und sich einer anderen ärztlichen Tätigkeit zugewandt hat. Solange sie die vertragsärztlichen Zulassungsvoraussetzungen erfüllt, kann sie als approbierte Ärztin jederzeit erneut eine Praxis eröffnen und dort Borreliose-Patienten therapieren.

Angesichts der Zielsetzung des § 106 Abs. 5e SGB V wird man der Klägerin nicht entgegenhalten können, sie habe das Richtgrößenvolumen im Jahre 2009 nicht zum ersten Mal i.S.d. § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V, sondern bereits mindestens zum dritten Mal um mehr als 25 % überschritten. Die Konzeption des § 106 Abs. 5e SGB V mit dem zum 01.01.2012 neu eingeführten Grundsatz "Beratung vor Regress" sieht vor, dass der Arzt, der mit seinem Verordnungsverhalten die Richtgrößen überschreitet, - jetzt (ab 01.01.2012) - zuerst nach näherer Maßgabe des § 106 Abs. 1a SGB V beraten werden muss. Ein Regress darf erst dann festgesetzt werden, wenn er in einem weiteren Prüfzeitraum nach erfolgter (oder abgelehnter) Beratung i.S.d § 106 Abs. 5e i.V.m. Abs. 1a SGB V die Richtgrößen erneut überschreitet. Für diesen dem Grundsatz "Beratung vor Regress" zugrunde liegenden Verfahrensgang ist es unerheblich, ob die Richtgrößen in der Vergangenheit (ggf. bereits mehrfach) überschritten wurden und deswegen Regressbescheide, die den Anforderungen an eine Beratung nach § 106 Abs. 1a SGB V nicht gerecht werden, ergangen waren. Als erstmalige Überschreitung des Richtgrößenvolumens i.S.d. (neuen) § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V wird diejenige Überschreitung anzusehen sein, auf die erstmals die in der genannten Vorschrift geforderte Beratung stattfindet (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.02.2013 - L 5 KA 222/13 ER-B -).

Im Hinblick darauf wäre die Klägerin wegen der (auch) für 2009 festgestellten Überschreitung des Richtgrößenvolumens jetzt zunächst nach nähere Maßgabe des § 106 Abs. 1a SGB V darüber zu beraten gewesen, wie sie ihr Heilmittelverordnungsverhalten wirtschaftlich gestalten kann. Ein Regress käme erst in Betracht, wenn sie nach einer solchen Beratung künftig das Richtgrößenvolumen erneut um mehr als 25 % überschreiten würde.

Die Kammer hat den angefochtenen Regressbescheid daher aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin eine individuelle Beratung i.S.d. § 106 Abs. 5a Satz 1 SGB V anzubieten. Wie diese Beratung erfolgt, richtet sich nach Maßgabe entsprechender Vereinbarungen der Vertragspartner gemäß § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V, denen es obliegt, das Nähere zur Umsetzung der individuellen Beratung zu regeln (§ 106 Abs. 5e Satz 6 SGB V).

In § 6 Abs. 4 der Vereinbarung über Richtgrößen für Arznei- und Verbandmittel 2013 (RgV 2013) (Rhein. Ärzteblatt 1/2013, 72) haben die Vertragspartner insofern vereinbart, dass die betroffene Praxis bei erstmaliger Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % nach Anerkennung der Praxisbesonderheiten nach § 106 Abs. 5e SGB V individuell beraten wird. Die Beratung erfolgt schriftlich durch die Prüfungsstelle mit dem zusätzlichen Angebot einer ergänzenden persönlichen Beratung innerhalb von 4 Wochen nach Zugang der schriftlichen Beratung der Prüfungsstelle. Das Datum der Aufgabe der schriftlichen Beratung zur Post plus drei Werktage gilt als Datum der individuellen Beratung gemäß § 106 Abs. 5e SGB V. Die ergänzende persönliche Beratung wird gemäß der Vereinbarung zur Intensivierung der Pharmakotherapieberatung als Gemeinschaftsaufgabe vom 01.06.2010 durchgeführt. Diese Regelung gilt auch für Verfahren, für die in 2012 ein Bescheid versandt wurde.

Das ist eine Verfahrensweise, die geeignet ist, den gesetzlichen Auftrag zur individuellen Beratung zu erfüllen. Es muss dabei jedenfalls sichergestellt werden, dass sich die individuelle Beratung nicht allein in Formulierungen im Verfügungssatz von Prüfbescheiden des Inhalts erschöpft: "Dem (Vertragsarzt) wird eine schriftliche Beratung erteilt", sondern darüber hinaus organisatorisch dafür Sorge getragen wird, dass der Vertragsarzt eine individuelle Beratung, die dem Inhalt des § 106 Abs. 1a SGB V entspricht, in einem persönlichen Gespräch mit kompetenten Gesprächspartnern auch tatsächlich wahrnehmen kann.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197 a SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

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Rechtskraft
Aus
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