Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
35
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 35 RJ 1414/04
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Sozialgericht Hamburg
S 35 RJ 1414/04
Typ: Urteil
Datum: 06.12.2007
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um den Anspruch einer Rente nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG).
Die 1924 in K., Polen geborene Klägerin ist Jüdin und wanderte 1971 in die Vereinigten Staaten von Amerika aus, wo sie seither ansässig ist. Im Mai 1993 beantragte sie bei der Claims Conference die Gewährung von Leistungen nach dem Article 2 Fund, die sie auch erhielt. Dort gab sie an, sie habe sich in der Zeit von der zweiten Hälfte des Jahres 1940 bis November 1942 im Ghetto Konskie aufhalten müssen. Danach habe sie sich unter einem polnischen Namen in Warschau, Radom und Starachowice versteckt. Im Ghetto Konskie sei sie zu Sklavenarbeit in der Hitler Jugend Schule (M. Straße) gezwungen worden und habe Böden und Toiletten gescheuert. Unzählige Male sei sie geschlagen, misshandelt und gedemütigt worden. Sie habe unter Überarbeitung, Kälte, Krankheit, Hunger und der Angst vor Deportation gelitten. Ihr Vater sei Zahnarzt gewesen und 1942 als Folge der Folter durch die Gestapo gestorben.
Im Oktober 2002 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Rente nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Im Versicherungsverlauf des Formblatts D/USA 1 gab sie an, von Januar bis Juni 1941 für die Gestapo als Putz- und Waschfrau in der P.-Str ... gearbeitet und dafür einen kleinen Betrag Bargeld in nicht mehr erinnerlicher Höhe erhalten zu haben. Als Sachleistungen habe sie eine Eintopfsuppe, Lebensmittel und Holzschuhe nach Bedarf erhalten. Von Juli 1941 bis Dezember 1941 habe sie in der Hitler Jugend Stelle als Putzfrau und von Januar 1942 bis November 1942 bei der Gestapo in der M. Str. als Gärtnerin gearbeitet. In einer von der Klägerin vorgelegten eidesstattlichen Versicherung aus dem Jahre 2003 der in Polen lebenden Zeugin H. C. heißt es, sie kenne die Klägerin seit ihrer Kindheit und die Familien seien miteinander befreundet gewesen. Die Klägerin habe als Putzfrau für die Ortsgestapo und in der Ortsverwaltung der deutschen Jugend schwer gearbeitet und eine entsprechende deutsche Arbeitsbestätigung gehabt. Sie habe Entgelt erhalten, die hauptsächliche Bezahlung seien aber Lebensmittel, wie Mehl und Salz und Reinigungsmittel gewesen. Diese Lebensmittel hätte die ganze Familie vor dem Hungertod gerettet. In einer weiteren von der Klägerin im Rahmen des Antrags bei der Claims Conference vorgelegten Erklärung des Zeugen J. G. heißt es, die Klägerin sei im Ghetto Konskie zu schweren Zwangsarbeiten gezwungen worden.
Mit Bescheid vom 9.7.2003 lehnte die Beklagte die beantragte Regelaltersrente ab. Zur Begründung ist ausgeführt, bei den angegebenen Arbeiten handele es sich um keine entgeltliche Beschäftigung im Sinne des ZRBG, sondern um Zwangsarbeit.
Hiergegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 9.9.2003. Darin ist ausgeführt, die Klägerin habe die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss aufgenommen, denn darüber habe sie sich einen Kontakt zur Welt außerhalb des Ghettos verschaffen können. Als Tochter eines Zahnarztes habe sie viele nicht jüdische Freunde und Bekannte gehabt, die ihr geholfen hätten. Bei der Beschäftigung für eine deutsche Stelle habe es höherer Sachbezüge gegeben. Es sei der Klägerin nur mit großer Mühe gelungen, die Beschäftigung außerhalb des Ghettos zu bekommen. Dies sei von besonderer Wichtigkeit gewesen, da der Vater der Klägerin als Familienernährer ausgefallen sei. Sie hätte auch eine andere Stelle von der für die Arbeitszuweisung zuständigen jüdischen Stelle erhalten können, habe jedoch an den von ihr ausgeübten Stellen festgehalten um den Kontakt zur Welt außerhalb des Ghettos zu halten. Sie sei nicht bewacht worden. So habe sie sich letztendlich die Deckdokumente verschaffen können, um dem Tod zu entgehen. Die Klägerin legte zwei weitere Zeugenerklärungen von H1 S. und M1 H2 vor, die die Klägerin nach dem Krieg kennengelernt und sich mit ihr befreundet hatten und die Angaben der Klägerin im Wesentlichen bestätigten.
Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.8.2004 zurück. In den Gründen ist ausgeführt, aus den Angaben im Entschädigungsverfahren, denen besondere Bedeutung zukomme, weil sie zeitnah und außerhalb des Rentenverfahrens gemacht worden seien, ergäbe sich, dass sie Zwangsarbeiten in Form von Reinigungs- und Gartenarbeiten ausgeübt habe. Die im Widerspruchsverfahren vorgelegten Zeugenerklärungen beruhten nicht auf eigenen Erkenntnissen, sondern auf Erzählungen aus dem Jahre 1946.
Am 28.9.2004 hat die Klägerin Klage erhoben. In der Begründung heißt es, Angaben über eine freiwillige Arbeitsaufnahme und eine Entlohnung der Arbeit seien im Entschädigungsverfahren (gemeint wohl Verfahren der Claims Conference) nicht von Bedeutung und nicht abgefragt worden. Generell hätten alle Ghetto- Insassen den Aufenthalt und die Tätigkeiten als Zwang empfunden und dies auch hervorgehoben. Auch das BSG habe in seiner "Ghetto- Rechtsprechung" festgestellt, dass frühere Aussagen der Betroffenen, es habe sich um Zwangsarbeit gehandelt, nicht anspruchsvernichtend seien. In einer persönlichen Erklärung der Klägerin ist über das Vorbringen im Widerspruchsverfahren hinaus ausgeführt, sie habe ihre Arbeitsstelle durch Unterstützung von Herrn R., dem Vorsitzenden des Judenrats bekommen, was sehr schwer gewesen sei. Er habe helfen wollen, weil er die schwierige Situation der Familie gekannt habe. Sie habe eine Reihe aufeinanderfolgenden Arbeiten gehabt, die je nach Nachfrage der Deutschen geändert worden sei. Sie habe auch in einem deutschen Pferdestall Fußböden und Fuhrwerke gewaschen. Die Arbeitsbedingungen seien direkt vom deutschen Vorgesetzten abhängig gewesen. Von dem erhaltenen Geld habe sie Lebensmittel kaufen können. Die Schilderung ihrer Arbeit gegenüber der Claims Conference haben sich auf ihre Arbeit bei der Hitler Jugend Schule bezogen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 09.07.03 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.08.04 zu verurteilen, eine Regelaltersrente unter Berücksichtung von Pflichtbeitragszeiten im Ghetto Konskie von Januar 1941 bis November 1942 sowie weiterer Ersatzzeiten nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren ...
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes die Unterlagen der Conference on Jewish Material Claims Against Germany über die Klägerin und das Gutachten von Prof. Dr. F. G1 vom 9.9.2005 über die historischen Verhältnisse in den deutsch besetzten Gebieten Osteuropas und die Lage der jüdischen Bewohner dieser Gebiete, Region Generalgovernement, beigezogen. Es hat Auskünfte des Stadt- und Gemeindeamtes der Stadt Konskie und des jüdischen historischen Instituts eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des das Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Klage ist begründet. Die Bescheide der Beklagten vom 9.7.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.8.2004 sind rechtswidrig und verletzten die Klägerin gemäß § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Regelaltersrente.
Gemäß § 35 Sozialgesetzbuch sechstes Buch – gesetzliche Rentenversicherung (SGB XI) haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65ste Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Die Klägerin hat das 65ste Lebensjahr vollendet und erfüllt auch die Wartezeit. Die allgemeine Wartezeit für einen Anspruch auf Regelaltersrente beträgt fünf Jahre (§ 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI). Auf die allgemeine Wartezeit werden Kalendermonate mit Beitragszeiten und Ersatzzeiten angerechnet (§ 51 Abs. 1 und 4 SGB XI). Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht oder den Reichsversicherungsgesetzen Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind (§ 55 Abs. 1 Satz 1, 247 Abs. 3 SGB XI). Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten (§ 55 Abs. 1 Satz 2 SGB XI).
Die Klägerin macht als Beitragszeit Beschäftigungszeiten während eines Aufenthaltes im Ghetto Konskie geltend. Hierfür wurden für sie weder Pflichtbeiträge noch freiwillige Beiträge nach Bundes- oder Reichsversicherungsrecht entrichtet. Als polnische Staatsangehörige in Konskie, das im so genannten "Generalgouvernements" für die besetzten polnischen Gebiete lag, galt für sie auch nach der Besetzung durch das Deutsche Reich das polnische Sozialversicherungsrecht, so dass eine Beitragsentrichtung nach den Reichsversicherungsgesetzen nicht in Betracht kommt (vgl. BSG Urt. v. 23.08.2001 – B 13 RJ 59/00 R – SOZR 3 – 2290 § 1248 Nr. 17 – S. 67 f. ).
Für die Klägerin gelten Beiträge jedoch nach § 2 Abs. 1 ZRBG als gezahlt. Gemäß § 2 Abs. 1 i.V. mit § 1 Abs. 1 ZRBG gelten Beiträge für Zeiten der Beschäftigten von Verfolgten in einem Ghetto als gezahlt, wenn 1. die Beschäftigung a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und 2. das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeit nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird. Diese Voraussetzungen sind nach § 1 Abs. 2 ZRBG i.V.m. § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) glaubhaft zu machen. Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn sie nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Glaubhaftmachung bedeutet danach mehr als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es genügt die "gute Möglichkeit", dass der entscheidungserhebliche Vorgang sich so zugetragen hat, wie behauptet wird. Es muss also mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt sprechen. Dabei sind gewisse noch verbleibende Zweifel unschädlich.
Nach den Gesetzesmaterialien zum ZRBG knüpft diese gesetzliche Voraussetzung an die von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) aufgestellten Kriterien der Freiwilligkeit und Entgeltlichkeit für eine versicherungspflichtige Beschäftigung in einem Ghetto an und verdeutlicht die Abgrenzung zur Zwangsarbeit (BT- Drucks.14/8583 Seite 6 zu §1; vgl. BSG, Urt. v. 07.10.2004 - B 13 RJ 59/03 - SozR- 4-5050 § 15 Nr. 1 RN 36). Zwangsarbeit ist danach die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichem (hoheitlichem) bzw. gesetzlichem Zwang. Typisch ist dabei die obrigkeitliche Zuweisung von Arbeiten an bestimmte Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf Einfluss haben. Weiter ist charakteristisch für Zwangsarbeit, dass ein Entgelt für die individuell geleistete Arbeit nicht oder nur in geringem Maße an den Arbeiter ausgezahlt wird. Entsprechendes gilt für die Bewachung der Arbeiter während der Arbeit, um zu verhindern, dass diese sich aus dem obrigkeitlichen Gewahrsam entfernen können (14.07.1999 – B 13 RJ 75/98 R –Juris Rn 38). Ein Beschäftigungsverhältnis kommt dagegen durch Vereinbarung zwischen den Beteiligten über den Austausch von Arbeit und Lohn zustande und beruht jeweils auf eigenen Entschlüssen beider Seiten. Je stärker eine verrichtete Arbeit durch hoheitliche Eingriffe überlagert wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann, umso mehr nähert sie sich dem Typus der Zwangsarbeit an (BSG – Urteil vom 18.06.1997 – RJ 66/95 – BSG E 80 250 ff, 252; BSG – Urteil vom 14.07.1999 a.a.O.).
Unter Berücksichtigung der Kriterien des BSG zur Abgrenzung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung zu nicht versicherte Zwangsarbeit ist es überwiegend wahrscheinlich, dass die Klägerin im Ghetto Konskie einer aus eigenem Willensentschluss zu Stande gekommenen entgeltlichen Beschäftigung nachgegangen ist.
Das nordöstlich von Kielce im damaligen Generalgovernement gelegene Ghetto Konskie bestand von Frühling 1940 bis zum Januar 1943 (ACR Ghetto List http://www.deathcamps.org/occupation/ghettolist.htm). Nach den Angaben des Karl Ernst Osthaus Museums ( http://www.keom.de) wurde es am 1.3.1941 eröffnet und am 6.1.1943 liquidiert. Mit einer Anzahl von ca. 10.000 Ghettobewohnern gehörte es zu den mittelgroßen Ghettos des Generalgouvernents. Es war zweigeteilt: ein Teil befand sich im Gebiet der Novy Swiat Str., der andere im Zentrum der Stadt im Gebiet der Zydowska Str ... Ein Judenrat wurde eingerichtet. Die polnischen Besitzer ihrer im Ghetto befindlichen Grundstücke blieben dort wohnen (http://www.jewishgen.org/yizkor/pinkas poland/pol1 00240.html). Auf Grund der Übereinstimmung der Erklärungen der Klägerin im Antrag gegenüber der Claims Conference und im Rentenverfahren, der Zeugenaussagen und der Mitteilung des jüdischen historischen Instituts steht fest, dass sich die Klägerin in der Zeit von Januar 1941 bis November 1942 im Ghetto Konskie aufhalten musste.
Die Klägerin hat nach Auffassung der Kammer die Beschäftigung im Sinne eines wie vom BSG in seinem Urteil vom 18.6.1997 (BSG 5 RJ 66/95) vorausgesetzten aus eigenem Antriebs begründeten Vertragsschlusses aufgenommen. Die Arbeitsplätze wurden ihr durch den Judenrat vermittelt, der im Generalgovernent für die Zuweisung der dem Arbeitszwang unterliegenden Juden zuständig war (vgl. Gutachten G1). Unschädlich ist hierbei, dass sich der eigene Willensentschluss zur Aufnahme der Tätigkeiten sich nicht auf jeden einzelnen Arbeitsplatz bezog, sondern der Judenrat mit der Vermittlung der Klägerin den Anforderungen durch die deutschen Stellen nachkam, denn der eigene Willensentschluss muss sich nur auf die grundsätzliche Aufnahme einer Beschäftigung beziehen (LSG Nordrhein- Westfalen Urt. v. 6.6.2007 L 8 R 54/05 veröffentlicht in: sozialgerichtsbarkeit.de). Es wird nicht verkannt, dass Arbeitseinsätze in militär- oder polizeiähnlichen Einrichtungen wie der Gestapo nach den geschichtlichen Erkenntnissen vielfach unter Zwang erfolgten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle diese Arbeiteinsätze von vornherein als Zwangsarbeit beurteilt werden. Die Beurteilung eines Arbeitseinsatzes richtet sich vielmehr nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls. Auf den vorliegenden Fall bedeutet dies: Hinweise darauf, dass die Klägerin unmittelbar unter Bedrohung von Leib und Leben zur Arbeit gezwungen wurde, liegen nicht vor. Die Klägerin hat die Gründe, die sie zur Arbeitsaufnahme motivierten glaubhaft und überzeugend im Widerspruchs- und Klageverfahren und hinsichtlich der einzelnen Beschäftigungen und im Zeitablauf im wesentlichen Kern widerspruchsfrei dargelegt: Der Vater fiel aufgrund von Krankheit als Familienernährer aus und sie musste bereits als siebzehnjährige junge Frau für den Unterhalt der Familie sorgen. Sie lebte laut der detailreichen, in sich widerspruchsfreien Zeugenaussage der Zeugin C., die die Klägerin bereits aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg kannte, in der Familie ihres Vaters, wobei die Stiefmutter noch ein kleines Kind zu versorgen hatte. Ein Mitglied des Judenrates kannte die Situation und wollte helfen. Durch die Beschäftigungen für deutsche Stellen außerhalb des Ghettos ohne Bewachung konnte ein Kontakt zur nichtjüdischen Bevölkerung gehalten werden, der aufgrund der Tätigkeit des Vaters vor dem Krieg als Zahnarzt intensiv bestand. Durch die dadurch mögliche Hilfe nicht- jüdischer Freunde und Bekannter konnte die Not wenigstens ein wenig gelindert werden. Die Darstellung der Klägerin überzeugt die Kammer insgesamt durch ihren Detailreichtum trotz des aufgrund der vielen Jahrzehnte zurückreichenden Zeitablaufs.
Der Annahme einer eigenverantwortlich aufgenommenen Beschäftigung stehen auch nicht die Aussagen der Klägerin gegenüber der Claims Conference entgegen, sie habe Sklavenarbeit in der Hitler- Jugend- Schule leisten müssen und sei dort gedemütigt und geschlagen worden. Selbstverständlich ist jede Beschäftigung von Juden während des zweiten Weltkriegs unter Herrschaft des Nationalsozialismus von den Betroffenen als Sklavenarbeit empfunden und zu Recht auch so benannt worden. Im Gesamtzusammenhang mit dem zwangsweisen Aufenthalt der Juden im Ghetto und dem bestehenden Arbeitszwang sowie angesichts der Lebensumstände insgesamt ist dieser Begriff sicher auch keine Übertreibung. Dennoch ist historisch und rechtlich eine Arbeit, zu der der Arbeitende von der Obrigkeit unter Ausschluss jeder freien Willensbildung gezwungen wurde von einer Arbeitsaufnahme mit einem eigenen (Rest)willen zu unterscheiden; diese Differenzierung ist von der Klägerin jedoch nicht zu erwarten. Den Betroffenen ist es sicherlich im Rahmen eines Entschädigungsantrags, wie dem gegenüber der Claims Conference aus dem Zwangsarbeiterfond der deutschen Wirtschaft ein Bedürfnis, ihr schweres Verfolgungsschicksal zu schildern. Eine rechtliche Differenzierung zwischen Zwangsarbeit und Beschäftigungen, die den Voraussetzungen des ZRGB entsprechen, ist damit jedoch nicht verbunden. Diese Auffassung vertritt im Übrigen auch die Beklagte selbst, wie in der Anlage 1 zu TOP 1 des Protokolls der Sitzung des Fachausschusses Versicherung und Rente (FAVR) v. 18.6.2002 festgehalten. Die Klägerin hat erklärt, dass die Arbeitsumstände von dem Verhalten des direkten Vorgesetzten abhängig gewesen und im Einzelnen auch mit Misshandlungen verbunden gewesen waren; dennoch hat die Klägerin glaubhaft dargelegt, dass sie trotz der widrigen Umstände wegen der mit der Arbeit verbundenen Vorteile diese fortgesetzt hat, obwohl sie die Möglichkeit einer anderen Zuweisung von Arbeit durch den Judenrat gehabt hat.
Die Klägerin hat die Beschäftigung auch gegen Entgelt ausgeübt. Entgelt im Sinne des ZRBG kann in Geld oder Gegenständen, insbesondere körperlichen Gegenständen (Sachen, § 90 BGB bestehen, das heißt, Bar- oder Sachlohn sein. Eine wirtschaftliche Gleichwertigkeit (Äquivalenz) der Leistungen braucht nicht gegeben zu sein; das Arbeitsentgelt muss allerdings einen Mindestumfang im Verhältnis zur Dauer und Schwere der verrichteten Arbeit erreichen; allerdings sind hieran geringe Anforderungen zu stellen (BSG v. 7.10.2004, B 13 RJ 59/03 veröffentlicht in: juris). Bei der von Zwangsarbeitsbedingungen unterscheidbaren Entgelthöhe ist nach Auffassung der Kammer darauf abzustellen, ob das im Ghetto erhaltene Entgelt objektiv dazu ausreichte, neben dem Arbeitenden selbst auch weitere Menschen über einen erheblichen Zeitraum zu ernähren oder hierzu einen entscheidenden Beitrag zu leisten (LSG NRW v. 6.6.2007 a.a.O.). Die Prämisse, dass die Lohnhöhe nach des im westlichen Polens damals geltende Lohndrittel der §§1227, 1228 für die Entstehung der Versicherungspflicht der Reichsversicherungsordnung (RVO) auch auf die außerhalb der deutschen Reichsgebiet liegenden besetzen Gebiete bei der Ermittlung der nach ZRBG ausreichenden Entgelthöhe Anwendung findet, lässt sich dem ZRBG nicht entnehmen. Zudem bereitet die Ermittlung der ortsüblichen Löhne deshalb Schwierigkeiten, weil sie von der willkürlichen Festsetzung der örtlichen Löhne durch die NS- Machthaber abhängig wäre. Deshalb ist dem LSG Nordrhein- Westfalen (NRW v. 6.6.2007 a.a.O.) zu folgen, für die Frage der erforderlichen Entgelthöhe ein nachweis- und erinnerbares Kriterium zu Grunde zu legen, welches die Unterscheidbarkeit von reiner Zwangsarbeit einerseits und freiwilliger entgeltlicher Tätigkeit andererseits ermöglicht. Da dieses Kriterium das Familienschicksal betrifft, können sich die Betroffenen meist daran erinnern, ob sie von dem für ihre Arbeit erhaltenen Entgeltes andere Familienmitglieder (mit)ernähren konnten. Aus der Zeugenerklärung der H. C. ergibt sich, dass die Klägerin durch das Entgelt und die erhaltenden Sachbezüge die Familie miternähren konnte. Mithin hat die Klägerin die Arbeit im Ghetto Konskie auch gegen Entgelt ausgeübt.
Die Klägerin erhält für die Pflichtbeitragszeit im Ghetto Konskie auch keine Leistung aus einem anderen System der sozialen Sicherheit (§ 1 Abs. 1 s. 1 ZRBG). Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Klägerin aus Polen oder den USA Rentenleistungen für diese Zeiten erhält.
Neben der Ghettobeitragszeit sind auf die allgemeine Wartezeit auch verfolgungsbedingte Ersatzzeiten nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI anzurechnen. Gemäß § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI sind Ersatzzeiten u.a. Zeiten vor dem 1.1.1992, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat und in denen Versicherte, die das 14. Lebensjahr vollendet haben und Verfolgte im Sinne des § 1 BEG sind, in ihrer Freiheit eingeschränkt gewesen oder ihnen die Freiheit entzogen worden ist (§§43 und 47 BEG). Die Klägerin ist Versicherte im Sinne dieser Norm wegen der von ihr zurückgelegten Beitragszeiten für eine Beschäftigung im Ghetto Konskie.
Gemäß § 47 Abs. 1 BEG hat der Verfolgte Anspruch auf Entschädigung, wenn er in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 den Judenstern getragen oder unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Illegalität gelebt hat. Ersatzzeit im Sinne des § 250 Abs. 1 Ziff. 4 SGB VI ist im Falle der Klägerin die Zeit vom Beginn des Tragens des Judensterns von Dezember 1939 in Konskie sowie die Zeit nach dem Aufenthalt im Ghetto von Dezember 1942 bis zur Befreiung im Januar 1945, in der sie in der Illegalität unter menschenunwürdigen Bedingungen leben musste. Außerdem liegen im Anschluss an das Leben in der Illegalität Ersatzzeiten wegen verfolgungsbedingtem Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs der Reichsversicherungsgesetze bis zum 31.12.1949 vor, so dass für die Klägerin auch ohne die bisher nicht geklärten amerikanischen Versicherungszeiten, die auf Grund des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika über soziale Sicherheit vom 7.1.1976 zur Erfüllung der allgemeinen Wartezeit heranzuziehen sind, wenn mindestens 18 Monate deutscher Versicherungszeit vorliegen, die allgemeine Wartezeit für die Klägerin allein nach deutschem Rentenversicherungsrecht erfüllt ist.
Die Kostenentscheidung entspricht dem Ausgang des Rechtstreits und beruht auf § 193 SGG.
S 35 RJ 1414/04
Typ: Urteil
Datum: 06.12.2007
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um den Anspruch einer Rente nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG).
Die 1924 in K., Polen geborene Klägerin ist Jüdin und wanderte 1971 in die Vereinigten Staaten von Amerika aus, wo sie seither ansässig ist. Im Mai 1993 beantragte sie bei der Claims Conference die Gewährung von Leistungen nach dem Article 2 Fund, die sie auch erhielt. Dort gab sie an, sie habe sich in der Zeit von der zweiten Hälfte des Jahres 1940 bis November 1942 im Ghetto Konskie aufhalten müssen. Danach habe sie sich unter einem polnischen Namen in Warschau, Radom und Starachowice versteckt. Im Ghetto Konskie sei sie zu Sklavenarbeit in der Hitler Jugend Schule (M. Straße) gezwungen worden und habe Böden und Toiletten gescheuert. Unzählige Male sei sie geschlagen, misshandelt und gedemütigt worden. Sie habe unter Überarbeitung, Kälte, Krankheit, Hunger und der Angst vor Deportation gelitten. Ihr Vater sei Zahnarzt gewesen und 1942 als Folge der Folter durch die Gestapo gestorben.
Im Oktober 2002 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Rente nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Im Versicherungsverlauf des Formblatts D/USA 1 gab sie an, von Januar bis Juni 1941 für die Gestapo als Putz- und Waschfrau in der P.-Str ... gearbeitet und dafür einen kleinen Betrag Bargeld in nicht mehr erinnerlicher Höhe erhalten zu haben. Als Sachleistungen habe sie eine Eintopfsuppe, Lebensmittel und Holzschuhe nach Bedarf erhalten. Von Juli 1941 bis Dezember 1941 habe sie in der Hitler Jugend Stelle als Putzfrau und von Januar 1942 bis November 1942 bei der Gestapo in der M. Str. als Gärtnerin gearbeitet. In einer von der Klägerin vorgelegten eidesstattlichen Versicherung aus dem Jahre 2003 der in Polen lebenden Zeugin H. C. heißt es, sie kenne die Klägerin seit ihrer Kindheit und die Familien seien miteinander befreundet gewesen. Die Klägerin habe als Putzfrau für die Ortsgestapo und in der Ortsverwaltung der deutschen Jugend schwer gearbeitet und eine entsprechende deutsche Arbeitsbestätigung gehabt. Sie habe Entgelt erhalten, die hauptsächliche Bezahlung seien aber Lebensmittel, wie Mehl und Salz und Reinigungsmittel gewesen. Diese Lebensmittel hätte die ganze Familie vor dem Hungertod gerettet. In einer weiteren von der Klägerin im Rahmen des Antrags bei der Claims Conference vorgelegten Erklärung des Zeugen J. G. heißt es, die Klägerin sei im Ghetto Konskie zu schweren Zwangsarbeiten gezwungen worden.
Mit Bescheid vom 9.7.2003 lehnte die Beklagte die beantragte Regelaltersrente ab. Zur Begründung ist ausgeführt, bei den angegebenen Arbeiten handele es sich um keine entgeltliche Beschäftigung im Sinne des ZRBG, sondern um Zwangsarbeit.
Hiergegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 9.9.2003. Darin ist ausgeführt, die Klägerin habe die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss aufgenommen, denn darüber habe sie sich einen Kontakt zur Welt außerhalb des Ghettos verschaffen können. Als Tochter eines Zahnarztes habe sie viele nicht jüdische Freunde und Bekannte gehabt, die ihr geholfen hätten. Bei der Beschäftigung für eine deutsche Stelle habe es höherer Sachbezüge gegeben. Es sei der Klägerin nur mit großer Mühe gelungen, die Beschäftigung außerhalb des Ghettos zu bekommen. Dies sei von besonderer Wichtigkeit gewesen, da der Vater der Klägerin als Familienernährer ausgefallen sei. Sie hätte auch eine andere Stelle von der für die Arbeitszuweisung zuständigen jüdischen Stelle erhalten können, habe jedoch an den von ihr ausgeübten Stellen festgehalten um den Kontakt zur Welt außerhalb des Ghettos zu halten. Sie sei nicht bewacht worden. So habe sie sich letztendlich die Deckdokumente verschaffen können, um dem Tod zu entgehen. Die Klägerin legte zwei weitere Zeugenerklärungen von H1 S. und M1 H2 vor, die die Klägerin nach dem Krieg kennengelernt und sich mit ihr befreundet hatten und die Angaben der Klägerin im Wesentlichen bestätigten.
Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.8.2004 zurück. In den Gründen ist ausgeführt, aus den Angaben im Entschädigungsverfahren, denen besondere Bedeutung zukomme, weil sie zeitnah und außerhalb des Rentenverfahrens gemacht worden seien, ergäbe sich, dass sie Zwangsarbeiten in Form von Reinigungs- und Gartenarbeiten ausgeübt habe. Die im Widerspruchsverfahren vorgelegten Zeugenerklärungen beruhten nicht auf eigenen Erkenntnissen, sondern auf Erzählungen aus dem Jahre 1946.
Am 28.9.2004 hat die Klägerin Klage erhoben. In der Begründung heißt es, Angaben über eine freiwillige Arbeitsaufnahme und eine Entlohnung der Arbeit seien im Entschädigungsverfahren (gemeint wohl Verfahren der Claims Conference) nicht von Bedeutung und nicht abgefragt worden. Generell hätten alle Ghetto- Insassen den Aufenthalt und die Tätigkeiten als Zwang empfunden und dies auch hervorgehoben. Auch das BSG habe in seiner "Ghetto- Rechtsprechung" festgestellt, dass frühere Aussagen der Betroffenen, es habe sich um Zwangsarbeit gehandelt, nicht anspruchsvernichtend seien. In einer persönlichen Erklärung der Klägerin ist über das Vorbringen im Widerspruchsverfahren hinaus ausgeführt, sie habe ihre Arbeitsstelle durch Unterstützung von Herrn R., dem Vorsitzenden des Judenrats bekommen, was sehr schwer gewesen sei. Er habe helfen wollen, weil er die schwierige Situation der Familie gekannt habe. Sie habe eine Reihe aufeinanderfolgenden Arbeiten gehabt, die je nach Nachfrage der Deutschen geändert worden sei. Sie habe auch in einem deutschen Pferdestall Fußböden und Fuhrwerke gewaschen. Die Arbeitsbedingungen seien direkt vom deutschen Vorgesetzten abhängig gewesen. Von dem erhaltenen Geld habe sie Lebensmittel kaufen können. Die Schilderung ihrer Arbeit gegenüber der Claims Conference haben sich auf ihre Arbeit bei der Hitler Jugend Schule bezogen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 09.07.03 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.08.04 zu verurteilen, eine Regelaltersrente unter Berücksichtung von Pflichtbeitragszeiten im Ghetto Konskie von Januar 1941 bis November 1942 sowie weiterer Ersatzzeiten nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren ...
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes die Unterlagen der Conference on Jewish Material Claims Against Germany über die Klägerin und das Gutachten von Prof. Dr. F. G1 vom 9.9.2005 über die historischen Verhältnisse in den deutsch besetzten Gebieten Osteuropas und die Lage der jüdischen Bewohner dieser Gebiete, Region Generalgovernement, beigezogen. Es hat Auskünfte des Stadt- und Gemeindeamtes der Stadt Konskie und des jüdischen historischen Instituts eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des das Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Klage ist begründet. Die Bescheide der Beklagten vom 9.7.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.8.2004 sind rechtswidrig und verletzten die Klägerin gemäß § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Regelaltersrente.
Gemäß § 35 Sozialgesetzbuch sechstes Buch – gesetzliche Rentenversicherung (SGB XI) haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65ste Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Die Klägerin hat das 65ste Lebensjahr vollendet und erfüllt auch die Wartezeit. Die allgemeine Wartezeit für einen Anspruch auf Regelaltersrente beträgt fünf Jahre (§ 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI). Auf die allgemeine Wartezeit werden Kalendermonate mit Beitragszeiten und Ersatzzeiten angerechnet (§ 51 Abs. 1 und 4 SGB XI). Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht oder den Reichsversicherungsgesetzen Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind (§ 55 Abs. 1 Satz 1, 247 Abs. 3 SGB XI). Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten (§ 55 Abs. 1 Satz 2 SGB XI).
Die Klägerin macht als Beitragszeit Beschäftigungszeiten während eines Aufenthaltes im Ghetto Konskie geltend. Hierfür wurden für sie weder Pflichtbeiträge noch freiwillige Beiträge nach Bundes- oder Reichsversicherungsrecht entrichtet. Als polnische Staatsangehörige in Konskie, das im so genannten "Generalgouvernements" für die besetzten polnischen Gebiete lag, galt für sie auch nach der Besetzung durch das Deutsche Reich das polnische Sozialversicherungsrecht, so dass eine Beitragsentrichtung nach den Reichsversicherungsgesetzen nicht in Betracht kommt (vgl. BSG Urt. v. 23.08.2001 – B 13 RJ 59/00 R – SOZR 3 – 2290 § 1248 Nr. 17 – S. 67 f. ).
Für die Klägerin gelten Beiträge jedoch nach § 2 Abs. 1 ZRBG als gezahlt. Gemäß § 2 Abs. 1 i.V. mit § 1 Abs. 1 ZRBG gelten Beiträge für Zeiten der Beschäftigten von Verfolgten in einem Ghetto als gezahlt, wenn 1. die Beschäftigung a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und 2. das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeit nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird. Diese Voraussetzungen sind nach § 1 Abs. 2 ZRBG i.V.m. § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) glaubhaft zu machen. Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn sie nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Glaubhaftmachung bedeutet danach mehr als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es genügt die "gute Möglichkeit", dass der entscheidungserhebliche Vorgang sich so zugetragen hat, wie behauptet wird. Es muss also mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt sprechen. Dabei sind gewisse noch verbleibende Zweifel unschädlich.
Nach den Gesetzesmaterialien zum ZRBG knüpft diese gesetzliche Voraussetzung an die von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) aufgestellten Kriterien der Freiwilligkeit und Entgeltlichkeit für eine versicherungspflichtige Beschäftigung in einem Ghetto an und verdeutlicht die Abgrenzung zur Zwangsarbeit (BT- Drucks.14/8583 Seite 6 zu §1; vgl. BSG, Urt. v. 07.10.2004 - B 13 RJ 59/03 - SozR- 4-5050 § 15 Nr. 1 RN 36). Zwangsarbeit ist danach die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichem (hoheitlichem) bzw. gesetzlichem Zwang. Typisch ist dabei die obrigkeitliche Zuweisung von Arbeiten an bestimmte Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf Einfluss haben. Weiter ist charakteristisch für Zwangsarbeit, dass ein Entgelt für die individuell geleistete Arbeit nicht oder nur in geringem Maße an den Arbeiter ausgezahlt wird. Entsprechendes gilt für die Bewachung der Arbeiter während der Arbeit, um zu verhindern, dass diese sich aus dem obrigkeitlichen Gewahrsam entfernen können (14.07.1999 – B 13 RJ 75/98 R –Juris Rn 38). Ein Beschäftigungsverhältnis kommt dagegen durch Vereinbarung zwischen den Beteiligten über den Austausch von Arbeit und Lohn zustande und beruht jeweils auf eigenen Entschlüssen beider Seiten. Je stärker eine verrichtete Arbeit durch hoheitliche Eingriffe überlagert wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann, umso mehr nähert sie sich dem Typus der Zwangsarbeit an (BSG – Urteil vom 18.06.1997 – RJ 66/95 – BSG E 80 250 ff, 252; BSG – Urteil vom 14.07.1999 a.a.O.).
Unter Berücksichtigung der Kriterien des BSG zur Abgrenzung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung zu nicht versicherte Zwangsarbeit ist es überwiegend wahrscheinlich, dass die Klägerin im Ghetto Konskie einer aus eigenem Willensentschluss zu Stande gekommenen entgeltlichen Beschäftigung nachgegangen ist.
Das nordöstlich von Kielce im damaligen Generalgovernement gelegene Ghetto Konskie bestand von Frühling 1940 bis zum Januar 1943 (ACR Ghetto List http://www.deathcamps.org/occupation/ghettolist.htm). Nach den Angaben des Karl Ernst Osthaus Museums ( http://www.keom.de) wurde es am 1.3.1941 eröffnet und am 6.1.1943 liquidiert. Mit einer Anzahl von ca. 10.000 Ghettobewohnern gehörte es zu den mittelgroßen Ghettos des Generalgouvernents. Es war zweigeteilt: ein Teil befand sich im Gebiet der Novy Swiat Str., der andere im Zentrum der Stadt im Gebiet der Zydowska Str ... Ein Judenrat wurde eingerichtet. Die polnischen Besitzer ihrer im Ghetto befindlichen Grundstücke blieben dort wohnen (http://www.jewishgen.org/yizkor/pinkas poland/pol1 00240.html). Auf Grund der Übereinstimmung der Erklärungen der Klägerin im Antrag gegenüber der Claims Conference und im Rentenverfahren, der Zeugenaussagen und der Mitteilung des jüdischen historischen Instituts steht fest, dass sich die Klägerin in der Zeit von Januar 1941 bis November 1942 im Ghetto Konskie aufhalten musste.
Die Klägerin hat nach Auffassung der Kammer die Beschäftigung im Sinne eines wie vom BSG in seinem Urteil vom 18.6.1997 (BSG 5 RJ 66/95) vorausgesetzten aus eigenem Antriebs begründeten Vertragsschlusses aufgenommen. Die Arbeitsplätze wurden ihr durch den Judenrat vermittelt, der im Generalgovernent für die Zuweisung der dem Arbeitszwang unterliegenden Juden zuständig war (vgl. Gutachten G1). Unschädlich ist hierbei, dass sich der eigene Willensentschluss zur Aufnahme der Tätigkeiten sich nicht auf jeden einzelnen Arbeitsplatz bezog, sondern der Judenrat mit der Vermittlung der Klägerin den Anforderungen durch die deutschen Stellen nachkam, denn der eigene Willensentschluss muss sich nur auf die grundsätzliche Aufnahme einer Beschäftigung beziehen (LSG Nordrhein- Westfalen Urt. v. 6.6.2007 L 8 R 54/05 veröffentlicht in: sozialgerichtsbarkeit.de). Es wird nicht verkannt, dass Arbeitseinsätze in militär- oder polizeiähnlichen Einrichtungen wie der Gestapo nach den geschichtlichen Erkenntnissen vielfach unter Zwang erfolgten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle diese Arbeiteinsätze von vornherein als Zwangsarbeit beurteilt werden. Die Beurteilung eines Arbeitseinsatzes richtet sich vielmehr nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls. Auf den vorliegenden Fall bedeutet dies: Hinweise darauf, dass die Klägerin unmittelbar unter Bedrohung von Leib und Leben zur Arbeit gezwungen wurde, liegen nicht vor. Die Klägerin hat die Gründe, die sie zur Arbeitsaufnahme motivierten glaubhaft und überzeugend im Widerspruchs- und Klageverfahren und hinsichtlich der einzelnen Beschäftigungen und im Zeitablauf im wesentlichen Kern widerspruchsfrei dargelegt: Der Vater fiel aufgrund von Krankheit als Familienernährer aus und sie musste bereits als siebzehnjährige junge Frau für den Unterhalt der Familie sorgen. Sie lebte laut der detailreichen, in sich widerspruchsfreien Zeugenaussage der Zeugin C., die die Klägerin bereits aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg kannte, in der Familie ihres Vaters, wobei die Stiefmutter noch ein kleines Kind zu versorgen hatte. Ein Mitglied des Judenrates kannte die Situation und wollte helfen. Durch die Beschäftigungen für deutsche Stellen außerhalb des Ghettos ohne Bewachung konnte ein Kontakt zur nichtjüdischen Bevölkerung gehalten werden, der aufgrund der Tätigkeit des Vaters vor dem Krieg als Zahnarzt intensiv bestand. Durch die dadurch mögliche Hilfe nicht- jüdischer Freunde und Bekannter konnte die Not wenigstens ein wenig gelindert werden. Die Darstellung der Klägerin überzeugt die Kammer insgesamt durch ihren Detailreichtum trotz des aufgrund der vielen Jahrzehnte zurückreichenden Zeitablaufs.
Der Annahme einer eigenverantwortlich aufgenommenen Beschäftigung stehen auch nicht die Aussagen der Klägerin gegenüber der Claims Conference entgegen, sie habe Sklavenarbeit in der Hitler- Jugend- Schule leisten müssen und sei dort gedemütigt und geschlagen worden. Selbstverständlich ist jede Beschäftigung von Juden während des zweiten Weltkriegs unter Herrschaft des Nationalsozialismus von den Betroffenen als Sklavenarbeit empfunden und zu Recht auch so benannt worden. Im Gesamtzusammenhang mit dem zwangsweisen Aufenthalt der Juden im Ghetto und dem bestehenden Arbeitszwang sowie angesichts der Lebensumstände insgesamt ist dieser Begriff sicher auch keine Übertreibung. Dennoch ist historisch und rechtlich eine Arbeit, zu der der Arbeitende von der Obrigkeit unter Ausschluss jeder freien Willensbildung gezwungen wurde von einer Arbeitsaufnahme mit einem eigenen (Rest)willen zu unterscheiden; diese Differenzierung ist von der Klägerin jedoch nicht zu erwarten. Den Betroffenen ist es sicherlich im Rahmen eines Entschädigungsantrags, wie dem gegenüber der Claims Conference aus dem Zwangsarbeiterfond der deutschen Wirtschaft ein Bedürfnis, ihr schweres Verfolgungsschicksal zu schildern. Eine rechtliche Differenzierung zwischen Zwangsarbeit und Beschäftigungen, die den Voraussetzungen des ZRGB entsprechen, ist damit jedoch nicht verbunden. Diese Auffassung vertritt im Übrigen auch die Beklagte selbst, wie in der Anlage 1 zu TOP 1 des Protokolls der Sitzung des Fachausschusses Versicherung und Rente (FAVR) v. 18.6.2002 festgehalten. Die Klägerin hat erklärt, dass die Arbeitsumstände von dem Verhalten des direkten Vorgesetzten abhängig gewesen und im Einzelnen auch mit Misshandlungen verbunden gewesen waren; dennoch hat die Klägerin glaubhaft dargelegt, dass sie trotz der widrigen Umstände wegen der mit der Arbeit verbundenen Vorteile diese fortgesetzt hat, obwohl sie die Möglichkeit einer anderen Zuweisung von Arbeit durch den Judenrat gehabt hat.
Die Klägerin hat die Beschäftigung auch gegen Entgelt ausgeübt. Entgelt im Sinne des ZRBG kann in Geld oder Gegenständen, insbesondere körperlichen Gegenständen (Sachen, § 90 BGB bestehen, das heißt, Bar- oder Sachlohn sein. Eine wirtschaftliche Gleichwertigkeit (Äquivalenz) der Leistungen braucht nicht gegeben zu sein; das Arbeitsentgelt muss allerdings einen Mindestumfang im Verhältnis zur Dauer und Schwere der verrichteten Arbeit erreichen; allerdings sind hieran geringe Anforderungen zu stellen (BSG v. 7.10.2004, B 13 RJ 59/03 veröffentlicht in: juris). Bei der von Zwangsarbeitsbedingungen unterscheidbaren Entgelthöhe ist nach Auffassung der Kammer darauf abzustellen, ob das im Ghetto erhaltene Entgelt objektiv dazu ausreichte, neben dem Arbeitenden selbst auch weitere Menschen über einen erheblichen Zeitraum zu ernähren oder hierzu einen entscheidenden Beitrag zu leisten (LSG NRW v. 6.6.2007 a.a.O.). Die Prämisse, dass die Lohnhöhe nach des im westlichen Polens damals geltende Lohndrittel der §§1227, 1228 für die Entstehung der Versicherungspflicht der Reichsversicherungsordnung (RVO) auch auf die außerhalb der deutschen Reichsgebiet liegenden besetzen Gebiete bei der Ermittlung der nach ZRBG ausreichenden Entgelthöhe Anwendung findet, lässt sich dem ZRBG nicht entnehmen. Zudem bereitet die Ermittlung der ortsüblichen Löhne deshalb Schwierigkeiten, weil sie von der willkürlichen Festsetzung der örtlichen Löhne durch die NS- Machthaber abhängig wäre. Deshalb ist dem LSG Nordrhein- Westfalen (NRW v. 6.6.2007 a.a.O.) zu folgen, für die Frage der erforderlichen Entgelthöhe ein nachweis- und erinnerbares Kriterium zu Grunde zu legen, welches die Unterscheidbarkeit von reiner Zwangsarbeit einerseits und freiwilliger entgeltlicher Tätigkeit andererseits ermöglicht. Da dieses Kriterium das Familienschicksal betrifft, können sich die Betroffenen meist daran erinnern, ob sie von dem für ihre Arbeit erhaltenen Entgeltes andere Familienmitglieder (mit)ernähren konnten. Aus der Zeugenerklärung der H. C. ergibt sich, dass die Klägerin durch das Entgelt und die erhaltenden Sachbezüge die Familie miternähren konnte. Mithin hat die Klägerin die Arbeit im Ghetto Konskie auch gegen Entgelt ausgeübt.
Die Klägerin erhält für die Pflichtbeitragszeit im Ghetto Konskie auch keine Leistung aus einem anderen System der sozialen Sicherheit (§ 1 Abs. 1 s. 1 ZRBG). Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Klägerin aus Polen oder den USA Rentenleistungen für diese Zeiten erhält.
Neben der Ghettobeitragszeit sind auf die allgemeine Wartezeit auch verfolgungsbedingte Ersatzzeiten nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI anzurechnen. Gemäß § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI sind Ersatzzeiten u.a. Zeiten vor dem 1.1.1992, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat und in denen Versicherte, die das 14. Lebensjahr vollendet haben und Verfolgte im Sinne des § 1 BEG sind, in ihrer Freiheit eingeschränkt gewesen oder ihnen die Freiheit entzogen worden ist (§§43 und 47 BEG). Die Klägerin ist Versicherte im Sinne dieser Norm wegen der von ihr zurückgelegten Beitragszeiten für eine Beschäftigung im Ghetto Konskie.
Gemäß § 47 Abs. 1 BEG hat der Verfolgte Anspruch auf Entschädigung, wenn er in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 den Judenstern getragen oder unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Illegalität gelebt hat. Ersatzzeit im Sinne des § 250 Abs. 1 Ziff. 4 SGB VI ist im Falle der Klägerin die Zeit vom Beginn des Tragens des Judensterns von Dezember 1939 in Konskie sowie die Zeit nach dem Aufenthalt im Ghetto von Dezember 1942 bis zur Befreiung im Januar 1945, in der sie in der Illegalität unter menschenunwürdigen Bedingungen leben musste. Außerdem liegen im Anschluss an das Leben in der Illegalität Ersatzzeiten wegen verfolgungsbedingtem Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs der Reichsversicherungsgesetze bis zum 31.12.1949 vor, so dass für die Klägerin auch ohne die bisher nicht geklärten amerikanischen Versicherungszeiten, die auf Grund des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika über soziale Sicherheit vom 7.1.1976 zur Erfüllung der allgemeinen Wartezeit heranzuziehen sind, wenn mindestens 18 Monate deutscher Versicherungszeit vorliegen, die allgemeine Wartezeit für die Klägerin allein nach deutschem Rentenversicherungsrecht erfüllt ist.
Die Kostenentscheidung entspricht dem Ausgang des Rechtstreits und beruht auf § 193 SGG.
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