S 21 AS 530/18 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
21
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 21 AS 530/18 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 462/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragstellern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab dem 01.06.2018 bis zur endgültigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens aber bis zum 31.08.2018, zu erbringen.

2. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

3. Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern 1/3 der außergerichtlichen Kosten im notwendigen Umfang zu erstatten.

Gründe:

Der Antrag,

der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, an die Antragsteller bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – (SGB II) ab dem 01.05.2018 zu erbringen,

ist zulässig und teilweise begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Insoweit gilt § 920 der Zivilprozessordnung (ZPO) entsprechend. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist damit die Glaubhaftmachung von Tatsachen, die einen Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO). Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander. Zwischen beiden besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit oder Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System. Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenwertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine abschließende Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden.

Vorliegend sind den Antragstellern wegen eines offenen Ausgangs des Hauptsacheverfahrens im Wege der Folgenabwägung vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im tenorierten Umfang zuzusprechen.

Die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II sind dem Grunde nach unstreitig erfüllt. Das Gericht sieht insofern von weitergehenden Ausführungen ab.

Rechtlich unklar ist, ob vorliegend der von der Antragsgegnerseite zuletzt geltend gemachte Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 c SGB II eingreift. Ausgenommen von den Leistungen sind nach dieser Vorschrift solche Ausländerinnen und Ausländer,

"die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.5.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.4.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten, ( )".

Wie auch die Antragsgegnerin zuletzt konzediert hat, können sich die Antragsteller auf ein solches Aufenthaltsrecht berufen. Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 hat bundesgesetzlich in § 3 Abs. 4 Freizügigkeitsgesetz/EU seinen Niederschlag gefunden:

"Die Kinder eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers und der Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich ausübt, behalten auch nach dem Tod oder Wegzug des Unionsbürgers, von dem sie ihr Aufenthaltsrecht ableiten, bis zum Abschluss einer Ausbildung ihr Aufenthaltsrecht, wenn sich die Kinder im Bundesgebiet aufhalten und eine Ausbildungseinrichtung besuchen."

Vorliegend sind die Antragsteller zu 1. - 3. Kinder des im November 2017 unbekannt verzogenen Vaters F. A., der italienischer Staatsangehörigkeit ist. Der Vater übte jedenfalls ab dem 10.01.2017 eine Beschäftigung in Vollzeit als Kassierer bei der Fa. G. Agentur in B-Stadt aus. Die Antragstellerin zu 3. besucht schon seit Beginn des Schuljahres 2016/2017 durchgehend die Grundstufe der H-schule in A-Stadt und kann daher eine Freizügigkeitsberechtigung aus der o.g. Vorschrift ableiten.

Gleiches gilt für demnach die Antragstellerin zu 4., die nach dem Wegzug des Vaters die tatsächliche Personensorge für die minderjährige Antragstellerin zu 3. ausübt. Auch den minderjährigen Antragstellern zu 1. und 2. ist demnach eine Freizügigkeitsberechtigung nach den §§ 2 Abs. 2 Nr. 6 und 3 Abs. 4 FreizügG/EU – zumindest in entsprechender Anwendung – zuzubilligen.

Nicht problematisiert wurde bislang in der dem Gericht bekannten sozialgerichtlichen Judikatur und auch Literatur allerdings die Frage, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 c SGB II unter allen Umständen auch auf solche Familienangehörige Anwendung finden kann, die selbst nicht Unionsbürger sondern - wie die ghanaischen Antragsteller hier - Drittstaatsangehörige sind. Der Wortlaut der Vorschrift differenziert insoweit nicht. Die Begründung des Gesetzesentwurfes der Bundesregierung (BT-Drucks 18/10211) führt auf Seite 14 sogar ausdrücklich aus, die Leistungsausschlüsse gälten auch für Drittstaatsangehörige. Andererseits werden die Ausschlüsse dort im Folgenden damit gerechtfertigt, dass Unionsbürger im Gegensatz zu Asylbewerbern "in ihren Heimatstaaten ohne Gefahr für Leib und Leben wohnen und existenzsichernde Unterstützungsleistungen erlangen" könnten, da in der EU soziale Mindeststandards beständen. Diese Argumentation trifft offensichtlich in dieser Allgemeinheit nicht auf Drittstaatsangehörige zu. Es ist anhand der Gesetzgebungsmaterialien nicht zu beantworten, ob der Gesetzgeber die besonders prekäre Situation von solchen Drittstaatsangehörigen, die dem Wortlaut nach dem Leistungsausschluss unterfallen, im Blick gehabt hat, zumal diese im SGB XII einem gleichlautenden Leistungsausschluss unterliegen und auch nicht im Katalog der Leistungsberechtigten des Asylbewerberleistungsgesetzes enthalten sind.

Aus Sicht des erkennenden Gerichts müsste aufgrund der Widersprüchlichkeiten der Gesetzesbegründung daher durchaus eine teleologische Reduktion des Gesetzeswortlauts dahingehend, dass der Leistungsausschluss nicht für Drittstaatsangehörige oder jedenfalls nicht ohne Betrachtung der Umstände des Einzelfalls gilt, in Betracht gezogen werden.

Darüber hinaus wird mit gewichtiger Argumentation geltend gemacht, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c SGB II schon insgesamt gegen das europäische Gemeinschaftsrecht verstößt (LSG Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 21.08.2017 - L 19 AS 1577/17 B ER, vom 12.07.2017 - L 12 AS 596/17 B ER und vom 01.08.2017 - L 6 AS 860/17 B ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.02.2017 L 6 AS 11/17 B ER; Derksen, info also 2016, 257; Devetzi/Janda, ZESAR 2017, 197). Da die Rechtsfrage, ob § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 c SGB II mit europäischem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, im Hauptsacheverfahren eine Vorlage an den EuGH erfordern würde, ist unter Beachtung des Gebots der Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. BVerfG Beschluss vom 17.01.2017 - 2 BvR 2013/16 mwN), in die insbesondere die grundrechtlich relevanten Belange der Antragsteller einzustellen sind. Aus dem Gebot effektiven Rechtschutzes kann sich die Verpflichtung ergeben, entgegen einer gesetzlichen Norm vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, also eine Gesetzesvorschrift nicht anwenden (so im Ergebnis auch LSG Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 14.09.2017 - L 21 AS 782/17 B ER, vom 21.08.2017 - L 19 AS 1577/17 B ER, vom 16.08.2017 - L 19 AS 1429/17 B ER und vom 12.07.2017 - L 12 AS 596/17 B ER).

Vorliegend überwiegt das Interesse der Antragsteller am Erhalt von existenzsichernden Leistungen. Den Antragstellern droht eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung ihres Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG iVm Art. 20 Abs. 1 GG), die durch ein Urteil in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann. Denn es besteht ein aktueller Bedarf an existenzsichernden Leistungen für eine vierköpfige Familie mit drei minderjährigen Kindern. Deren Bedarfsunterdeckung kann nicht, auch nicht vorübergehend, hingenommen werden. Ein Anordnungsgrund besteht allerdings nicht betreffend Leistungen für den Zeitraum vor dem 01.06.2018. Im gerichtlichen Eilverfahren werden im Regelfall nur Leistungen ab Stellung des Eilantrags zugesprochen. Vorliegend ist das Gericht bereits insofern darüber hinausgegangen, als vorläufig Leistungen für den gesamten Juni zuerkannt werden, da die Antragsteller durch die Vorlage der Kündigung ihres Vermieters einen Nachholbedarf glaubhaft gemacht haben. Anlass für eine noch weitergehende rückwirkende Erbringung besteht jedoch nicht.

Desweiteren war zu berücksichtigen, dass für zukünftige Zeiträume nach Ablauf des Folgemonats der Entscheidung des Sozialgerichts die Eilbedürftigkeit für den Erlass einer einstweiligen Anordnung regelmäßig zu verneinen ist (vgl. Hessisches LSG, Beschlüsse vom 1. Dezember 2005 - L 9 SO 11/05 ER -, vom 28. Januar 2009 - L 9 SO 98/08 B ER , vom 21. April 2009 - L 9 AS 65/09 B ER -, vom 11. November 2009 L 9 AS 417/09 B ER - vom 10. August 2010 - L 9 AS 424/10 B ER -, vom 21. Januar 2013 - L 9 AS 782/12 B ER -, vom 11. Februar 2014 - L 9 AS 803/13 B ER -, vom 2. Juni 2015 - L 9 AS 253/15 B ER - m. w. N. und vom 8. Juli 2016 - L 9 AS 438/16 B ER -).

Die Verpflichtung des Antragsgegners lediglich dem Grunde nach folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 130 SGG.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Das zulässige Rechtsmittel der Beschwerde folgt aus § 172 Abs. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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