S 10 AS 2697/08 ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 10 AS 2697/08 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 7 B 546/08 AS-ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Härtefall von über einem Jahr nach § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II
Bemerkung
Hat die Antragsgegnerin eine 3-jährige Lehre 1 1/2 Jahre lang mit Alg II
gefördert und ändert dann ihre Rechtsauffassung, so hat die Antragstellerin
einen Anspruch auf darlehensweise Gewährung von Leistungen nach § 7 Abs. 5
Satz 2 SGB II, wenn die Lehr
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig und darlehensweise Leistungen gemäß § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II in Höhe von monatlich 349 EUR vom 02.06.2008 bis 30.06.2008, in Höhe von 353 EUR vom 01.07.2008 bis 31.07.2008 und in Höhe von monatlich 337 EUR vom 01.08.2008 bis längstens 31.07.2009 zu gewähren.

2. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe:

I. Die Antragstellerin begehrt von der Antragsgegnerin im Wege des Einstweiligen Rechtsschutzes die darlehensweise Gewährung von Leistungen nach § 7 Abs. 5 Satz 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die am 1983 geborene Antragstellerin beantragte erstmals am 08.07.2005 bei der Antragsgegnerin Leistungen nach dem SGB II. Sie ist staatlich geprüfte kaufmännische Assistentin und Kauffrau für Bürokommunikation mit IHK-Abschluss. Am 01.08.2006 begann sie bei der Firma E. K. K. in M. eine 3-jährige Lehre zur Bürokauffrau. Das Lehrgeld beträgt im ersten Lehrjahr monatlich 276 EUR und steigt in jedem weiteren Lehrjahr um 20 EUR monatlich. Die Antragsgegnerin gewährte der Antragstellerin im September 2006 209,02 EUR, von Oktober bis Juni 2007 monatlich 363,02 EUR, von Juli 2007 bis August 2007 monatlich 365,02 EUR und von September bis Dezember 2007 monatlich 349,02 EUR. Am 06.12.2007 beantragte die Antragstellerin die Fortzahlung der Leistungen. Mit Bescheid vom 17.12.2007 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag unter Berufung auf § 7 Abs. 5 und 6 SGB II ab. Die Antragstellerin erhob am 02.01.2008 Widerspruch, den die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 05.03.2008 zurückwies. Hiergegen hat die Antragstellerin am 25.03.2008 Klage erhoben (Az.: S 10 AS 1528/08), über die noch nicht entschieden ist. Am 02.06.2008 hat die Antragstellerin die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt. Von ihrem Lehrlingsgehalt könne sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten. Sie habe Berufsausbildungsbeihilfe (BAB), BAföG, Wohngeld und Arbeitslosengeld II beantragt und habe nur Ablehnungen erhalten. Die Antragstellerin beantragt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin darlehensweise Leistungen nach dem SGB II vorläufig zu gewähren. Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzuweisen. Für Leistungen in der Vergangenheit bestehe kein Anordnungsgrund. Die Ausbildung der Antragstellerin sei nach §§ 60 – 62 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) dem Grunde nach förderfähig. Daher sei der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II einschlägig. Da es sich um eine Zweitausbildung handele erhalte die Antragstellerin allerdings keine Leistungen nach dem SGB III. Gründe für das Vorliegen eines Härtefalles seien nicht glaubhaft gemacht. Am 23.06.2008 hat mit den Beteiligten ein Erörterungstermin stattgefunden, ohne dass eine gütliche Beilegung des Rechtsstreites herbeigeführt werden konnte. Auf den Inhalt der Niederschrift wird Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Akte S 10 AS 1528/08 und der von der Antragsgegnerin vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.

II. Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet. Inhaltlich handelt es sich um einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mit dem Begehren, die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin darlehensweise Leistungen gemäß § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II zu gewähren. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erfolg des Antrages ist, dass ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund vorliegen. Für eine vorläufige Entscheidung, d.h. bis zur Entscheidung der Beklagten im Widerspruchsverfahren und bis zu einer Entscheidung des Gerichts im ggf. anschließenden Klageverfahren, müssen gewichtige Gründe vorliegen (Anordnungsgrund). Der Anordnungsgrund liegt vor, wenn dem Antragsteller wesentliche, insbesondere irreversible Nachteile drohen, die für ihn ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache unzumutbar machen und die Regelung zur Verhinderung dieser unzumutbaren Nachteile durch eine Anordnung nötig erscheint (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.10.1977, Az: 2 BvR 42/76). Sinn und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens liegen in der Sicherung der Entscheidungsfähigkeit und der prozessualen Lage, um eine endgültige Rechtsverwirklichung im Hauptsacheverfahren zu ermöglichen. Das einstweilige Rechtsschutzverfahren will nichts anderes, als allein wegen der Zeitdimension der Rechtserkenntnis und der Rechtsdurchsetzung im Hauptsacheverfahren eine zukünftige oder gegenwärtige prozessuale Rechtsstellung vor zeitüberholenden Entwicklungen sichern (Säch-sisches LSG, Beschluss vom 11.02.2004, Az: L 1 B 227/03 KR-ER). Ferner muss ein Anordnungsanspruch vorliegen. Dabei muss es sich um einen der Durchsetzung zugänglichen materiell-rechtlichen Anspruch des Antragstellers handeln (Berlit, info also 2005, 3, 7; Sächsisches LSG, Beschluss vom 14.04.2005 - L 3 B 30/05 AS/ER; Beschluss vom 19.09.2005 - L 3 B 155/05 AS/ER). Eine einstweilige Anordnung ergeht demnach nur, wenn sie nach gebotener summarischer Prüfung der Sachlage zur Abwendung wesentlicher, nicht wiedergutzumachender Nachteile für den Antragsteller notwendig ist. Dabei hat der Antragsteller wegen der von ihm geltend gemachten Eilbedürftigkeit der Entscheidung die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach §§ 202 SGG, 294 der Zivilprozessordnung (ZPO), also Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund, glaubhaft zu machen. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch (1.) und einen Anordnungsgrund (2.) glaubhaft gemacht.

1. Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf darlehensweise Gewährung von Leistungen gemäß § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II. Nach dieser Vorschrift können, sofern Leistungen nach § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II ausgeschlossen sind, in besonderen Härtefällen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts darlehensweise erbracht werden. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass Leistungen nach dem SGB II gemäß § 7 Abs. 5 SGB II ausgeschlossen sind. Denn die Lehre der Antragstellerin ist dem Grunde nach förderfähig gemäß § 60 Abs. 1 SGB III. Die Förderung durch BAB scheitert allerdings an § 60 Abs. 2 Satz 1 SGB III. Der Anwendungsbereich des § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II ist damit eröffnet. Zur Überzeugung des Gerichts ist ein besonderer Härtefall im Sinne des § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II gegeben. Bei dem Begriff des "besonderen Härtfalls" handelt es sich um einen un-bestimmten Rechtsbegriff, dessen Ausfüllung in vollem Umfang der rechtlichen Überprüfung durch das Gericht unterliegt (BSG, Urteil vom 06.09.2007 – B 14/7b R 36/06 R –, Rn. 22). Von einem besonderen Härtefall kann ausgegangen werden, wenn der Lebensunterhalt während der Ausbildung durch Förderung auf Grund von BAföG/SGB III - Leistungen oder anderen finanziellen Mittel - sei es Elternunterhalt, Einkommen aus eigener Erwerbstätigkeit oder möglicherweise bisher zu Unrecht gewährte Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts (Vertrauensschutz) - gesichert war, die nun kurz vor Abschluss der Ausbildung entfallen. Gleiches gilt für den Fall der Unterbrechung der bereits weit fortgeschrittenen und bisher kontinuierlich betriebenen Ausbildung auf Grund der konkreten Umstände des Einzelfalls wegen einer Behinderung oder Erkrankung. Denkbar ist auch, dass die nicht mehr nach den Vorschriften des BAföG oder der §§ 60 bis 62 SGB III geförderte Ausbildung objektiv belegbar die einzige Zugangsmöglichkeit zum Arbeitsmarkt darstellt (BSG, a. a. O., Rn. 24). Ein besonderer Härtefall in diesem Sinne ist zur Überzeugung des Gerichts gegeben. Die Antragsgegnerin hat die Hälfte der Ausbildung der Antragstellerin ohne Abstriche gefördert. Die Antragstellerin hat diese Ausbildung soweit ersichtlich mit dem erforderlichen Nachdruck und mit Erfolg betrieben. Lediglich auf Grund einer Änderung der Rechtsauffassung der Antragsgegnerin hat diese die Leistungsbewilligung kurzfristig eingestellt, ohne der Antragstellerin Alternativen für die Finanzierung ihrer Lehre oder sonstige berufliche Perspektiven aufzuzeigen. In dieser Situation ist es der Antragstellerin gelungen, mit Hilfe von Darlehen seitens ihrer Eltern und ihres Bruders die Lehre während den ersten fünf Monaten des Jahres 2008 fortzusetzen. Die Antragstellerin hat allerdings im Erörterungstermin am 23.06.2008 glaubhaft versichert, dass die finanziellen Möglichkeiten ihrer Familienangehörigen nunmehr erschöpft seien. Ohne finanzielle Unterstützung seitens der Antragsgegnerin sähe sich die Antragstellerin gezwungen, ihre Lehre mit der Beendigung des 2. Lehrjahres abzubrechen, um weiterhin Leistungen nach dem SGB II beziehen zu können. Sie stünde dann ohne Einkommen aus Lehrgeld, aber mit einer abgebrochenen Lehre ohne konkrete berufliche Perspektiven da. Die Antragsgegnerin hat sich in dieser Situation bislang soweit ersichtlich jedenfalls nicht bemüht, der Antragstellerin berufliche Möglichkeiten zur Beendigung des Leistungsbezuges aufzuzeigen. Offenbar verkennt sie auch, dass die Ausbildung zur Bankkauffrau wesentlich höherwertig ist als die von der Antragstellerin bislang innegehabten Abschlüsse als staatlich geprüfte kaufmännische Assistentin und Kauffrau für Bürokommunikation mit IHK-Abschluss. Denn einerseits handelt es sich um eine 3-jährige Ausbildung und andererseits um eine praktische Ausbildung statt der bisherigen rein schulischen Ausbildungen. Damit erhöhen sich die Chancen der Antragstellerin auf dem Arbeitsmarkt ganz erheblich. Die Antragstellerin, die zunächst auf die Förderung der Lehre durch die Antragsgegnerin vertrauen durfte, ist ohne Verschulden in die aktuelle Notlage geraten. Durch die Fortsetzung der Lehre ist sie in der Lage, einen Teil ihres Bedarfes mittels des Lehrgeldes (316 EUR im dritten Lehrjahr) selbst zu bestreiten. Dieses Lehrgeld reicht zur vollständigen Deckung des Bedarfes allerdings nicht aus. Daher liegt in diesem Ausnahmefall, in dem ein Zeitraum von nicht nur wenigen Monaten bis zum Abschluss der Ausbildung, sondern von über einem Jahr zu überbrücken ist, ein besonderer Härtefall im Sinne der zitierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vor. Die Höhe des Anspruches auf Arbeitslosengeld II bemisst sich nach § 19 SGB II. Der Bedarf der Antragstellerin ergibt sich zum einen aus der ihr gemäß § 20 Abs. 2 SGB II zustehenden Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe von 347 EUR bis 30.06.2008 und 351 EUR ab 01.07.2008. Zum anderen gehören dazu die ihr gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II zustehenden Leistungen für Unterkunft und Heizung, die hier insgesamt 312,82 EUR monatlich betragen. Anhaltspunkte für eine Unangemessenheit dieser Kosten sind nicht vorgetragen. Damit beträgt der monatliche Bedarf der Antragstellerin 659,82 EUR bis 30.06.2008 und 663,82 EUR ab 01.07.2008. Von dem so ermittelten monatlichen Bedarf war gemäß § 11 SGB II das zu berücksichtigende Einkommen abzuziehen. Zu berücksichtigen waren 154 EUR Kindergeld monatlich sowie das Lehrgeld in Höhe von 296 EUR bis 31.07.2008 und in Höhe von 316 EUR ab 01.08.2008 monatlich. Hiervon waren gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II ein Grundfreibetrag von 100 EUR und gemäß § 30 Satz 2 Nr. 1 SGB II ein weiterer Freibetrag in Höhe von 39,20 EUR bis 31.07.2008 und in Höhe von 43,20 EUR ab 01.08.2008 abzusetzen. Es verbleibt folglich ein anrechenbares Einkommen in Höhe von 310,80 EUR bis 31.07.2008 und in Höhe von 326,80 EUR ab 01.08.2008. Der Bedarf der Klägerin beträgt daher von 02.06.2008 bis 30.06.2008 monatlich 349,02 EUR, vom 01.07.2008 bis 31.07.2008 monatlich 353,02 EUR und ab 01.08.2008 monatlich 337,02 EUR. Zur Ermittlung des Anspruches der Antragstellerin war schließlich die Rundungsvorschrift des § 41 Abs. 2 SGB II zu beachten (BSG, Urteil vom 23.11.2006 – B 11b AS 17/06 R –).

2. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Durch ein weiteres Zuwarten besteht bereits die Gefahr der Vereitelung des Anspruches der Antragstellerin, da sie über keine Möglichkeiten mehr verfügt, ihre Lehre zu finanzieren. Daher würde das Abwarten der Hauptsacheentscheidung den Abbruch der Lehre der Antragstellerin herbeiführen und damit zu erheblichen und nicht mehr umkehrbaren Rechtsverlusten führen. Dies erscheint in Anbetracht des in der Hauptsache bestehenden Anspruches als unzumutbar, da hiermit für die Antragstellerin eine existenziell bedrohliche Lage entstehen würde.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.

4. Schließlich wird vorsorglich auf § 929 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) in Verbindung mit § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG hingewiesen.
Rechtskraft
Aus
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