S 35 AL 311/06

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
35
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 35 AL 311/06
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Bemerkung
Zu den Voraussetzungen der Hinweis- und Beratungspflicht des Leistungsträgers im Hinblick auf die Möglichkeiten der Entgeltsicherung (vgl. BSG, Urteil vom 08.02.2007, B 7/7a AL 22/06).
I. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger unter Aufhebung des Bescheides vom 09.12.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.02.2006 Entgeltsicherung ab 06.07.2005 in gesetzlicher Höhe für die gesetzliche Dauer zu gewähren. II. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Leistungen der Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer (EGS) ab 06.07.2005.

Der am 26.09.1953 geborene Kläger war von Mai 1974 bis 30.12.1996 als Heizungsinstallateur und vom 20.03.1997 bis 31.05.2005 als Installateur versicherungspflichtig beschäftigt. Am 02.06.2005 meldete sich der Kläger arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Arbeitslosengeld. Über die Vorsprache vom 02.06.2005 hat die Mitarbeiterin der Beklagten, Frau S., in den Beratervermerken u. a. festgehalten: Arbeitslosmeldung; Merkblatt 1 u. 3 ausgehändigt; über rechtzeitige Antragstellung von Förderleistungen informiert. Die Be-klagte bewilligte dem Kläger ab 01.06.2005 Arbeitslosengeld auf der Grundlage eines Bemessungsentgelts von 56,11 EUR täglich für die Dauer von 660 Tagen.

Anlässlich einer persönlichen Vorsprache des Klägers bei der Beklagten am 14.06.2005 hat die Sachbearbeiterin, Frau K., in den Beratervermerken u. a. vermerkt: Leistungsempfänger hat versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis in Aussicht; eventuell vor Einstellung Trainingsmaßnahme; allgemein zur Trainingsmaßnahme informiert; Leistungsempfänger meldet sich gegebenenfalls. Über die persönliche Vorsprache des Klägers am 20.06.2005 hat die Sachbearbeiterin K. im Beratervermerk u.a. festgehalten: Angebot einer 14tägigen Trainingsmaßnahme nach § 48 SGB III zur Eignungsfeststellung bei H. Logistik Gruppe Bautzen; auf zeitnahe Rückinfo zu Ergebnissen der Trainingsmaßnahme und Abmeldung sowie MOBI vor Arbeitsaufnahme hingewiesen. Bei der Vorsprache des Klägers am 22.06.2005 hat dieser die Unterlagen zur Trainingsmaßnahme abgegeben. Am 30.06.2005 wurden für den Kläger Fahrtkosten für die Trainingsmaßnahme (21.06.2005 bis 02.07.2005) in Höhe von 46,80 EUR angewiesen. Mit Veränderungsmitteilung vom 07.07.2005 teilte der Kläger der Beklagten schriftlich mit, dass er ab 06.07.2005 eine Tätigkeit als Lagerarbeiter bei H. Logistik GmbH & Co. KG, Depot Bautzen, aufnehme. Der Kläger rief am 01.12.2005 bei der Beklagten an und teilte mit, dass er jetzt aus der Presse von der Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer erfahren habe und diese beantragen möchte. Am 08.12.2005 geht der schriftliche Antrag auf Entgeltsicherung für die am 06.07.2005 aufgenommene Tätigkeit ein. Die zunächst bis 05.10.2005 befristete Tätigkeit war zu diesem Zeitpunkt bis 05.01.2006 verlängert. Der Kläger hat mit seinem Antrag den Arbeitsvertrag sowie die vertragliche Verlängerung vorgelegt. Danach erhält er bei H. einen Stundenlohn von 6,70 EUR. Die Arbeitszeit regelt sich in Anpassung an das Arbeitsaufkommen. Dabei gilt eine Beschäftigungsgarantie von 4 Tagen pro Kalendermonat mit 7,6 Arbeitsstunden täglich als vereinbart (Ziff. 4 des Arbeitsvertrages).

Mit Bescheid vom 09.12.2005 lehnte die Beklagte die beantragte Entgeltsicherung ab, da der Kläger den Antrag nicht vor der Aufnahme der Beschäftigung ab 06.07.2005 gestellt hat (§ 324 Abs. 1 Satz 1 SGB III). Hiergegen hat der Kläger mit Schreiben vom 28.12.2005 Widerspruch eingelegt. Ihm war nicht bekannt, dass die Leistung vor Aufnahme einer Beschäftigung beantragt werden muss. Er sei diesbezüglich nicht ausreichend informiert worden. Weder durch den Bearbeiter, noch in der Broschüre Nr. 3 wurde darauf hingewiesen, dass der Antrag vorher zu stellen ist. Auch der Inhalt des § 324 SGB III sei ihm unbekannt. In seinem Fall hätte ihm der Bearbeiter schon bei Antrag der Trainingsmaßnahme beraten und informieren müssen, dass er bei einer eventuellen Arbeitsaufnahme vorher den Antrag zu stellen habe. Die Beklagte holte bei Prüfung des Widerspruchs eine Stellungnahme der Frau S. ein. Diese gab am 01.02.2006 schriftlich an, den Kläger darüber informiert zu haben, dass sämtliche Förderleistungen vor dem leistungsbegründenden Ereignis beantragt werden müssen. Über einzelne Förderleistungen zur Arbeitsaufnahme sei der Kläger nicht beraten worden, da ein konkretes Arbeitsverhältnis zu diesem Zeitpunkt nicht erkennbar war. Zudem habe er das Merkblatt 3, welches ausführlich über die Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer informiert, erhalten. Auf das Merkblatt 19 sei der Kläger nicht hingewiesen worden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 08.02.2006 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Sie verweist auf § 421j SGB III und § 324 SGB III. Der Kläger habe am 01.12.2005 beim Arbeitsamt Leistungen der Entgeltsicherung für die am 06.07.2005 angetretene Beschäftigung bei der H. Logistik GmbH beantragt. Leistungen der Entgeltsicherung seien vor Aufnahme der neuen Beschäftigung zu stellen. Das Vorliegen einer unbilligen Härte wurde verneint. Das Arbeitsamt habe nicht die Pflicht, ohne einen konkreten Hinweis oder eine konkrete Frage des Antragstellers über alle gesetzlich möglichen Förderungen zu belehren. Dies sei erst dann der Fall, wenn sich innerhalb eines persönlichen Gesprächs oder einer Beratung Anhaltspunkte ergeben, die zwangsläufig einen entsprechenden Hinweis seitens der Arbeitsagentur nach sich ziehen. Die Beklagte verwies auf das Merkblatt 3, worin unter Pkt. 8 der Hinweis auf die Entgeltsicherung enthalten sei und sehr verständlich beschrieben werde. Da der Kläger einen Beratungsbedarf diesbezüglich auch bei seinen weiteren Vorsprachen nicht gesucht habe und auch nicht auf die finanziellen Einbußen bei der Entlohnung der ab 06.07.2005 begonnenen Beschäftigung hingewiesen hat, könne weder die unbillige Härte noch ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch anerkannt werden.

Mit der hiergegen am 08.03.2006 eingelegten Klage verfolgt der Kläger sein Rechtsbegehren weiter. Zur Begründung führt er u. a. aus, er habe beide Vermittlerinnen (S. und K.) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er die Stelle bei H. antreten will, jedoch weit weniger verdient als zuvor. Das Merkblatt 19 sei nicht ausgehändigt worden. Erst durch einen Zeitungsartikel sei der Kläger auf EGS aufmerksam geworden und habe sogleich den Antrag gestellt. Der Kläger habe keine Kenntnis von der Fördermöglichkeit gehabt. Eine rechtzeitige Antragstellung war ihm somit nicht möglich. Er sei am 02.06.2005 lediglich darauf hingewiesen worden, dass ein Antrag auf eventuelle Förderleistungen rechtzeitig gestellt werden müsse. Der Kläger konnte nicht wissen, wann ein Antrag "rechtzeitig" gestellt ist. Im Merkblatt 3 sei weder ein allgemeiner Hinweis hierzu enthalten noch werde deutlich, wann genau spätestens die Antragstellung zu erfolgen habe. Eine konkrete Bera-tung hätte bereits bei der Erstberatung am 02.06.2005 erfolgen müssen, da der Beklagten das Alter des Klägers bekannt war. Jedenfalls im Rahmen der Beratung zur Trainingsmaßnahme am 20.06.2005 sei die Beklagte verpflichtet gewesen, den Kläger zu beraten. Es habe ein konkretes Arbeitsverhältnis in Aussicht gestanden. Der Kläger habe die Vermittlerin auch darauf hingewiesen, dass er nur auf Stundenbasis arbeiten würde und dadurch erheblich weniger verdienen werde als bisher. Er könne sich noch an die sinngemäße Ant-wort von Frau K. erinnern: "Seien sie froh, dass sie überhaupt Arbeit gefunden haben; an-dere suchen ewig und finden nichts". Somit habe ein konkreter und offensichtlicher Beratungsbedarf bestanden. Da der Arbeitgeber sicher gehen wollte, dass der Kläger auch für Nachtschichten geeignet ist, sollte zunächst eine Trainingsmaßnahme durchgeführt werden. Der Kläger ging bereits bei Aufnahme der Trainingsmaßnahme von einem folgenden Beschäftigungsverhältnis aus. Ihm waren die Arbeitsbedingungen für das folgende Beschäftigungsverhältnis bekannt. Dies habe er auch Frau K. mitgeteilt. Der Kläger bezieht sich des Weiteren auf die Entscheidung des BSG vom 08.02.2007 (B 7a AL 22/06 R). Danach liege eine unbillige Härte immer dann vor, wenn die verspätete Antragstellung die Folge fehlerhafter Beratung war, wozu auch eine unterbliebene Beratung zählt. Das Ar-beitsverhältnis bei H. wurde zunächst bis 05.07.2007 verlängert und bestehe seitdem unbe-fristet weiter. Neben H. war der Kläger geringfügig (325,- EUR im Monat) bei der Scarabaeus-Apotheke beschäftigt. Der Kläger reicht die Lohnbescheinigungen bei H. über den Zeit-raum von Juli 2005 bis Juli 2007 sowie die Gehaltsnachweise der Scarabaeus-Apotheke von Oktober 2005 bis Juli 2007 ein.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger unter Aufhebung des Bescheids vom 09.12.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.02.2006 Entgeltsicherung ab 06.07.2005 in gesetzlicher Höhe und für die gesetzliche Dauer zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen. Die Behauptung des Klägers, er habe bei Aufnahme der Beschäftigung auf finanzielle Einbußen hingewiesen, könne nicht bestätigt werden. Die Beklagte übersendet die Berater-vermerke sowie eine Stellungnahme der Frau K. zum Gespräch vom 20.06.2005. Danach sei es ausschließlich um die Trainingsmaßnahme gegangen. Der Kläger habe selbst vorgetragen, dass er am 20.06.2005 wegen der Trainingsmaßnahme vorgesprochen habe. Inwiefern dann bereits am 20.06.2005 die Höhe eines eventuell zukünftig erzielbaren Arbeitsentgelts Gegenstand des Gesprächs gewesen sein soll, sei nicht nachvollziehbar. Zu diesem Zeitpunkt habe weder der Kläger noch die Beklagte wissen können, dass und in welchem Umfang nach Ablauf der Trainingsmaßnahme eine Beschäftigungsaufnahme erfolgt. Vor Aufnahme der beitragspflichtigen Beschäftigung am 06.07.2005 habe der Kläger nicht mehr persönlich vorgesprochen. Der Kläger habe auch aus dem Merkblatt 3 Kenntnis von der Entgeltsicherung und könne sich nicht auf Unkenntnis der Fördermöglichkeit oder die rechtzeitige Beantragung berufen. Der Entscheidung des BSG vom 08.02.2007 (B 7a AL 22/06) lagen andere Tatsachen zugrunde. Dem Kläger sei das Merkblatt Stand 12/2004 mit Erklärungen zur Förderung unter Punkt 8 und dem Hinweis auf das Merkblatt 19 ausgehändigt worden. Die Beklagte ist der Auffassung, dass der Kläger mit diesen Hinweisen ausreichend über die Fördermöglichkeit mit EGS informiert war. Trotz dieser Kenntnis habe der Kläger keinen Beratungsbedarf angemeldet. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat die Vertreterin der Beklagten weiter ausgeführt, dass das Beratungsgespräch am 20.06.2005 nicht losgelöst von dem Gespräch am 02.06.2005 gesehen werden könne. Dort sei der Kläger über die rechtzeitige Antragstellung hingewiesen worden. Im Merkblatt 1 werde auf Seite 64 darauf hingewiesen, dass der Leistungsantrag vor Arbeitsaufnahme erfolgen müsse. Die Beklagte hat auf Nachfrage des Gerichts vorgetragen, dass die weiteren Voraussetzungen für EGS (§ 421j Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 SGB III) vorlägen. Ausschlusstatbestände nach § 421j Abs. 5 SGB III lägen nicht vor. Die Beklagte ermittelte für die vorangegangene Beschäftigung, ausgehend von dem Bemesssungsentgelt von 56,11 EUR, den durchschnittlichen Lohn von 8,25 EUR/Stunde. Auch die Voraussetzungen des § 421j Abs. 1 Nr. 3 SGB III lägen vor.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die beigezogene Verwaltungsakte sowie die Gerichtsakte, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Der ablehnende Bescheid vom 09.12.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.02.2006 verletzt den Kläger rechtswidrig in seinen Rechten i. S. v. § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Kläger hat nach Auffassung des Gerichts Anspruch auf Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer ab 06.07.2005.

Nach § 421j SGB III haben Arbeitnehmer, die das 50. Lebensjahr vollendet haben und ihre Arbeitslosigkeit durch Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung beenden oder vermeiden, Anspruch auf Leistungen der Entgeltsicherung (EGS), wenn sie 1. einen Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) haben und bei Aufnahme der Beschäftigung noch über einen Restanspruch von mindestens 180 Tagen verfügen oder einen Anspruch auf Alg über mindestens die gleiche Dauer hätten, 2. ein Arbeitsentgelt beanspruchen können, das den tariflichen oder, wenn eine tarifliche Regelung nicht besteht, ortsüblichen Bedingungen entspricht (§ 421j Abs. 1 SGB III).

Die EGS-Leistungen werden als Zuschuss zum Arbeitsentgelt und als zusätzlicher Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung erbracht (§ 421j Abs. 2 Satz 1 SGB III). Der Zuschuss zum Arbeitsentgelt beträgt 50 % der monatlichen Nettoentgeltdifferenz. Diese entspricht dem Unterschiedsbetrag zwischen dem pauschalierten Nettoentgelt, das sich aus dem der Bemessung des Alg zu Grunde liegenden Arbeitsentgelt ergibt, und dem pauschalierten Nettoentgelt der aufgenommenen Beschäftigung. Der zusätzliche Beitrag zur ge-setzlichen Rentenversicherung wird nach § 163 Abs. 9 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) bemessen und wird von der Agentur für Arbeit entrichtet (Abs. 2). Bei Vorliegen der Ausschlusstatbestände des § 421j Abs. 5 SGB III scheidet die Bewilli-gung von EGS-Leistungen von vornherein aus. Hier hat die Beklagte festgestellt, dass Ausschlusstatbestände nach § 421j Abs. 5 SGB III (Nettoentgeltdifferenz weniger als 50,- EUR; Beschäftigung beim früheren Arbeitgeber; Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses vom Arbeitsgeber veranlasst; Wechsel in eine betriebsorganisatorische eigenständige Einheit; Beschäftigung in einer Maßnahme nach dem 6. Kapitel des SGB III oder in einer Personalservice Agentur; Bezug einer Rente wegen Alters) nicht gegeben sind.

Auch die übrigen Voraussetzungen wurden von der Beklagten bestätigt. So verfügte der Kläger zum Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme noch über einen Restanspruch auf Arbeitslosengeld von 625 Tagen (§ 421j Abs. 1 Nr. 1 SGB III). Die erforderliche Entgeltdifferenz zwischen seinem Arbeitsentgelt und dem Bemessungsentgelt im Sinne von § 421j Abs. 1 Nr. 2 SGB III wurde durch die Beklagte ebenfalls bestätigt.

Die tatbestandlichen Vorausaussetzungen für die Entgeltsicherung liegen somit vor. Die Bewilligung scheitert nach Auffassung der Kammer auch nicht an der maßgeblichen Antragsfrist.

Die Leistungen nach § 421j SGB III werden auf Antrag erbracht (so auch BT-DruckS 15/25, S. 34 zu Abs. 1). Es handelt sich bei den EGS-Leistungen um Leistungen der aktiven Arbeitsförderung i.S. des § 3 Abs. 4 SGB III sodass die EGS-Leistungen nach § 323 Abs. 1 SGB III regelmäßig eines Antrags bedürfen (BSG, Urteil vom 08.02.2007, B 7a AL 22/06 R). Der Antrag ist gemäß § 324 Abs. 1 Satz 1 SGB III bereits vor Eintritt des leistungsbegründenden Ereignisses zu stellen. Mit dem Erfordernis, den Antrag vor dem leistungsbegründenden Ereignis zu stellen, soll vermieden werden, dass der Antragsteller Dispositionen trifft, die sich im Nachhinein als schädlich erweisen, weil eine Leistung der Arbeitsförderung nicht erbracht werden kann. Zugleich soll der Arbeitsverwaltung Gelegenheit zur Beratung der Betroffenen gegeben werden (BT-DruckS 13/4941 zu § 325).

Leistungsbegründendes Ereignis ist hier die Aufnahme der Beschäftigung bei H. Logistik am 06.07.2005. Unstrittig hat der Kläger den Antrag auf Gewährung von EGS-Leistungen erst nach dem Eintritt des leistungsbegründenden Ereignisses gestellt. Die Beklagte war jedoch nach § 324 Abs. 1 Satz 2 SGB III verpflichtet, die verspätete Antragstellung zuzulassen.

Gemäß § 324 Abs. 1 Satz 2 SGB III kann die Beklagte eine verspätete Antragstellung zur Vermeidung unbilliger Härten zulassen. Auf die Regelungen zur Wiedereinsetzung nach § 27 Sozialgesetzbuch, 10. Buch (SGB X) oder zum richterrechtlich entwickelten Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs muss hingegen nur zurückgegriffen werden, wenn spezielle gesetzliche Regelungen nicht zur Verfügung stehen (BSG SozR 4-4300 § 137 Nr. 1 S 17; SozR 3-1300 § 44 Nr. 25 S 59 f). Die Härtefallregelung in § 324 Abs. 1 SGB III stellt gegenüber der Wiedereinsetzung oder dem Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine speziellere Regelung dar (vgl. BSG, Urteil vom 08.02.2007, B 7a AL 22/06).

Im Fall des Klägers war die verspätete Antragstellung nach § 324 Abs. 1 Satz 2 SGB III zuzulassen. Aus dem Wortlaut des § 324 Abs. 1 Satz 2 SGB III ("kann") ergibt sich, dass der Beklagten bei ihrer Entscheidung über die Zulassung des verspäteten Antrags im Nor-malfall ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Ermessensspielraum eingeräumt ist. Dabei handelt die Beklagte ermessensfehlerhaft, wenn sie bei der Härtefallprüfung die Umstände des Einzelfalls nicht hinreichend würdigt (Ermessensunterschreitung).

Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 08.02.2007, B 7a AL 22/06) liegt eine unbillige Härte i. S. d. § 324 Abs. 1 Satz 2 SGB III immer dann vor, wenn die verspätete Antragstellung die Folge einer fehlerhaften Beratung durch die Agentur für Arbeit war, wozu eine zu Unrecht unterbliebene Beratung zählt. Dem schließt sich das Gericht an.

Rechtsgrundlage für die Beratungspflicht in Form einer Hinweispflicht sind die in §§ 14, 15 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) genannten allgemeinen Hinweis- und Auskunftspflichten der Sozialleistungsträger. Eine umfassendere Beratungspflicht des Sozialversicherungsträgers besteht zunächst regelmäßig bei einem entsprechenden Beratungs- und Auskunftsbegehren des Versicherten (vgl. BSG, Urteil vom 17. August 2000 - B 13 RJ 87/98 R = SGb 2000, 616; SozR 3-2600 § 115 Nr. 9 S 59). Ausnahmsweise besteht jedoch auch dann eine Hinweis- und Beratungspflicht des Versicherungsträgers, wenn anlässlich einer konkreten Sachbearbeitung dem jeweiligen Mitarbeiter eine naheliegende Gestaltungsmöglichkeit ersichtlich ist, die ein verständiger Versicherter wahrnehmen würde, wenn sie ihm bekannt wäre (st. Rspr.; BSG SozR 3-1200 § 14 Nr. 16 S 49; BSG SozR 3-1200 § 14 Nr. 6 S 13; BSG, Urteil vom 22. Oktober 1998 - B 5 RJ 56/97 R = SGb 1999, 26; zuletzt: BSG vom 08.02.2007, B 7a AL 22/06). Dabei ist die Frage, ob eine Gestaltungsmöglichkeit klar zu Tage tritt, allein nach den objektiven Merkmalen zu beurteilen (BSG SozR 3-1200 § 14 Nr. 16). Eine derartige Verpflichtung zur "Spontanberatung" trifft den Versicherungsträger insbesondere im Rahmen eines Sozialrechtsverhältnisses. Ein solches Sozialrechtsverhältnis entsteht bereits durch die Arbeitslosmeldung bzw. die Antragstellung bei der Beklagten (BSG SozR 4100 § 44 Nr. 9 S. 28; SozR 4-4300 § 137 Nr. 1 S. 3) und ist in jedem Stadium des Verwaltungsverfahrens zu beachten (BSG SozR 3-1200 § 14 Nr. 29 S. 99).

Entgegen der Auffassung des Klägers lag bei der Arbeitslosmeldung am 02.06.2005 keine unzureichende Auskunft oder Beratung vor. Der Kläger war bei Arbeitslosmeldung und Antragstellung auf Bewilligung von Arbeitslosengeld am 02.06.2005 durch Aushändigung der Merkblätter 1 und 3 allgemein über die Förderleistungen der Entgeltsicherung beraten worden. Unter Pkt. 8 auf Seite 24 des Merkblatts 3 wird ausführlich auf das Förderinstrument der Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer eingegangen. Das Merkblatt schildert die entscheidenden Tatbestandsvoraussetzungen und verweist auf das weitere Merkblatt 19 "Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer". Damit ist die Beklagte ihrer allgemeinen Verpflichtung, auf das Förderinstrument der Entgeltsicherung hinzuweisen, hinreichend nachgekommen. Auch befindet sich im Merkblatt Nr. 1 auf Seite 64 unter der Überschrift "Weitere Hilfen" der Hinweis, dass Hilfen zur Aufnahme einer Beschäftigung vor der Arbeitsaufnahme beantragt werden müssen. Damit wurde ausreichend dargelegt, welche Voraussetzungen für eine "rechtzeitige Antragstellung" erfüllt sein müssen. Mit den allgemei-nen Hinweisen der Beklagten war der Kläger auch zunächst in die Lage versetzt, von dem Förderinstrument und den Antragsvoraussetzungen Kenntnis zu nehmen. Insbesondere musste die Beklagte nicht auch noch das Merkblatt 19 an den Kläger aushändigen. So besteht keine allgemeine Verpflichtung der Beklagten, sämtliche Arbeitslosen auf die für sie möglicherweise in Betracht kommenden Leistungen der Arbeitsförderung auch ohne besonderen Anlass hinzuweisen.

Auch bestand allein aufgrund des Alters des Klägers (51 Jahre) bei Arbeitslosmeldung am 02.06.2005 keine Verpflichtung zur konkreten Beratung über die Möglichkeit der Entgeltsicherung. Eine konkrete Beratungspflicht setzt voraus, dass dafür nach den Umständen des Einzelfalls ein besonderer Anlass besteht (vgl. BSG SozR 4100 § 125 Nr. 3; SozR 3-4100 § 125 Nr. 19). Mit Erreichen des Alters ist lediglich eine der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 421j SGB III erfüllt. Bei Antragstellung am 02.06.2005 war jedoch nicht ersichtlich, dass die übrigen Voraussetzungen (Alg-Anspruch von mindestens 180 Tage, Arbeitsaufnahme steht bevor, Nettoentgeltdifferenz zum Bemessungsentgelt) erfüllt sein könnten

Allerdings bestand Anlass zu einer konkreten Beratung über Entgeltsicherung nach § 421j SGB III anlässlich der persönlichen Vorsprachen des Klägers bei der Beklagten am 14.06.2005 und am 20.06.2005. Bei den beiden Terminen hatte die zuständige Sachbear-beiterin genügend Tatsachenkenntnisse, sodass sie den Kläger im Sinne einer Spontanberatung speziell über die Möglichkeit der Entgeltsicherung hätte informieren müssen. Eine konkrete Beratungspflicht der Beklagten lag nach Ansicht der Kammer am 14.06.2005 und am 20.06.2005 vor.

Der Kläger hat am 14.06.2005 durch persönliche Vorsprache mit der Beklagten Kontakt aufgenommen. Er hat dabei angegeben, ein Beschäftigungsverhältnis in Aussicht zu haben. Dies ergibt sich aus dem Beratervermerk vom 14.06.2005, in welchem die Sachbearbeiterin festgehalten hat, "Leistungsempfänger hat Versicherungspflichtverhältnis in Aussicht.". Mit Kenntnis des in Aussicht stehenden Beschäftigungsverhältnisses bestand eine gestei-gerte Informationspflicht, die die Beklagte hätte veranlassen müssen, den Kläger auf die Möglichkeiten der Entgeltsicherung gezielt hinzuweisen. Der Inhalt des Gesprächs am 14.06.2005, so wie er in den Beratervermerken festgehalten wurde, hätte zu einer Spontanberatung Anlass geben müssen. Gleiches gilt für das Beratungsgespräch am 20.06.2005: Danach sollte die Trainingsmaßnahme "zur Eignungsfeststellung" bei H. Logistik erfolgen. Da die Trainingsmaßnahme zur Eignungsfeststellung erfolgen sollte war eine versicherungspflichtige Beschäftigung bei H. zu erwarten.

Nach Auffassung des Gerichts hatte die Sachbearbeiterin der Beklagten ab 14.06.2005 genügend Anhaltspunkte, die nachfolgend zu einer konkreten Beratung hätten führen müssen. Sie hatte ausreichend Tatsachenkenntnis über das mögliche Vorliegen der Tatbe-standsvoraussetzungen eines Anspruchs gemäß § 421j SGB III oder hätte diese ohne weiteres erlangen können. Der Mitarbeiterin war das Alter des Klägers sowie dessen Alg-Bezug bekannt. Ihr war bekannt, dass er ein Beschäftigungsverhältnis in Aussicht hat. Die Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses war somit nicht unwahrscheinlich. Auch wurde die Trainingsmaßnahme ausdrücklich "zur Eignungsfeststellung" bewilligt. Danach war, bei bestehender Eignung, zu erwarten, dass der Kläger im Anschluss an die Trainingsmaßnahme ein Beschäftigungsverhältnis aufnehmen wird.

Zwar befindet sich in den Beratervermerken vom 14.06.2005 und 20.06.2005 kein Hinweis darauf, dass die Höhe der erwarteten Vergütung angesprochen wurde. Der hierfür beweislastpflichtige Kläger konnte die Behauptung, er habe auf die geringe Vergütung hingewie-sen, nicht belegen. Hierauf kommt es nach Auffassung der Kammer allerdings auch nicht an. Der Kläger hat darauf verwiesen, dass die Trainingsmaßnahme bei H. Logistik erfolgen wird. Dies wurde in den Beratervermerken auch so festgehalten. Damit hatte die Sachbear-beiterin Kenntnis über einen möglichen Einsatz im Paket-Zustellbereich, einer un- bzw. angelernten Tätigkeit. Die Mitarbeiterin der Beklagten hatte Kenntnis vom Bemessungs-entgelt des Arbeitslosengeldes in Höhe von 56,11 EUR täglich. Sie hätte diese Kenntnis zu-mindest ohne weiteres erlangen können. Die Beklagte hat aus dem Bemessungsentgelt einen Stundenlohn von 8,25 EUR ermittelt. Somit war aus dem Bemessungsentgelt ersichtlich, dass der Kläger zuvor eine Facharbeitervergütung erhalten hat. Der Sachbearbeiterin der Beklagten war bekannt, dass der Kläger eine Tätigkeit im un- bzw. angelernten Bereich (Paket-Dienst) anstrebt. Dies ergibt sich aus den Feststellungen des Beratervermerks vom 20.06.2005 (Eignungsfeststellung bei H. Logistik). Die Sachbearbeiterin war im Bereich der Arbeitsvermittlung tätig. Mit den in diesem Bereich bestehenden besonderen Kenntnissen hätte ihr klar sein müssen, dass der Kläger bei H. Logistik einen geringeren Stundenlohn erzielen wird, als in der letzten Beschäftigung. Danach hatte die Sachbearbeiterin ge-nügend Anhaltspunkte über das Bestehen der Tatbestandsvoraussetzungen, die für die Gewährung von EGS maßgeblich sind. Bei den auch nach den Beratervermerken nachweis-lich mitgeteilten Tatsachen (Versicherungspflichtverhältnis in Aussicht; vor Einstellung Trainingsmaßnahme; Trainingsmaßnahme zur Eignungsfeststellung bei H. Logistik) hätte die Sachbearbeiterin im Sinne der Spontanberatung auf die Möglichkeiten des Antrags auf EGS hinweisen müssen.

Da die Spontanberatung am 14.06.2005 bzw. am 20.06.2005 unterblieb, bestand nach Auffassung der Kammer eine Verpflichtung der Beklagten zur Ermessensausübung im Sinne der Zulassung der verspäteten Antragstellung. Soweit sich die Beklagte hier auf die allgemein erteilten Hinweise (Aushändigung der Merkblätter) bezieht, liegt eine Ermessensunterschreitung vor.

Danach war Entgeltsicherung ab Beginn des Arbeitsverhältnisses (06.07.2005) in gesetzlicher Höhe für die gesetzliche Dauer zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Umstand, dass der Klage voll inhaltlich entsprochen wurde.

Die Berufung ist kraft Gesetzes zulässig (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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