S 18 KR 371/11 ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 18 KR 371/11 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Bemerkung
Um einen sog. Seltenheitsfall im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 19.10.2004, Az. B 1 KR 27/02 R) kann es sich auch dann handeln, wenn der Versicherte an einer Erkrankung eines Formenkreises von Krankheiten leidet, die sich tr
I. Die Antragsgegnerin wird bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens verpflichtet, der Antragstellerin Krankenbehandlung mit dem Arzneimittel MabThera® (Rituximab) - zwei Infusionen zu je 1.000 mg im Abstand von zwei Wochen - zu gewähren.
II. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Versorgung mit dem Arzneimittel MabThera® (Rituximab) im sog. Off-Label-Use.

Die 1965 geborene, bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversicherte Antragstellerin leidet seit Jahren an einer Autoimmunerkrankung, die von den behandelnden Ärzten als unspezifische Kollagenose eingeordnet wird. Hinsichtlich der bisherigen Diagnostik und Therapie wird auf die zusammenfassende Darstellung in der Auskunft der Chefärztin Dr. U. vom 07.04.2011 zur Krankheits- und Behandlungsgeschichte (Bl. 4 der Verwaltungsakte) verwiesen, hinsichtlich der aktuellen Beschwerden, die wiederholt Krankenhausaufenthalte veranlasst haben, auf die Entlassungsberichte über die stationären Aufenthalte und die Vorstellungen in der Rheumaambulanz des Städtischen Klinikums D.-F. vom 01. bis 06.02.2010, vom 27.04. bis 06.05.2010, vom 26. bis 27.05.2010, vom 17. bis 18.06.2010, vom 06.07. bis 14.07.2010, vom 15.02. bis 03.03.2011, vom 05. bis 08.04.2011, am 23.05. und am 04.07.2011 (Bl. 64, 58, 55, 53, 50, 46, 44, 42 und 38 der Sozialgerichtsakte) sowie hinsichtlich differentialdiagnostisch relevanter Befunde auch auf den Bericht des Chefarztes Prof. N. vom 28.02.2006 über den stationären Aufenthalt vom 04. bis 18.11.2005 (Bl. 69 f. der Sozialgerichtsakte).

Mit Schreiben ihrer Rheumatologen, Chefärztin Dr. U. und Oberarzt Dr. E., vom 28.03.2011 beantragte die Antragstellerin am 30.03.2011 die Übernahme der Kosten für einen Therapieversuch mit dem unter anderem zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis zugelassenen Arzneimittel MabThera® (Rituximab) im sog. Off-Label-Use. Die konventionellen Basistherapeutika hätten versagt. Für die Wirksamkeit des Arzneimittels gebe es zahlreiche positive Fallberichte und Berichte über kleinere Patientengruppen. In den bisherigen Phase-III Studien LUNAR und EXPLORER seien wegen deren problematischen Studiendesigns die Studienendpunkte verfehlt worden. Die Auswertung der GRAID-Register-Daten belege die Wirksamkeit des Arzneimittels. Eine Publikation von Vital zur Wirksamkeit der B-Zell-Unterdrückung bei systemischem Lupus Erythematodes stehe an (LUNAR: Furie et al., Efficacy and Safety of Rituximab in Subjects with Active Proliferative Lupus Nephritis [LN]: Results From the Randomized, Double-Blind Phase III LUNAR Study, Arthritis & Rheumatism Vol. 60 [2009] Nr. 10, Oktober, Suppl. S. 1149 ff.; EXPLORER: Merrill et al., Efficacy and Safety of Rituximab in Moderately-to-Severely Active Systemic Lupus Erythematosus The Randomized, Double-Blind, Phase II/III Systemic Lupus Erythematosus Evaluation of Rituximab Trial, & Rheumatism Vol. 62 [2010] Nr. 1, Januar, S. 222 ff., http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/art.27233/pdf; GRAID: Tony et al., Safety and clinical outcomes of rituximab therapy in patients with different autoimmune diseases: experience from a national registry [GRAID], Arthritis Research & Therapy Vol. 13 [2011] Nr. 3, Mai, S. R75, http://arthritis-research.com/content/pdf/ar3337.pdf; VITAL: Vital et al., Rituximab responses in systemic lupus erythematosus explained by B cell biomarkers, Arthritis & Rheumatism, elektronisch vorab publiziert am 25.05.2011, http://onlinelibrary.wiley.com/doi/ 10.1002/art.30466/pdf).

Die von der Antragsgegnerin hinzugezogene Gutachterärztin des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung, Dr. V., schätzte in einer Stellungnahme vom 11.05.2011 ein, die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use seien nicht erfüllt. Die Datenlage zur Behandlung von Kollagenosen mittels Rituximab lasse eine Arzneimittelzulassung nicht erwarten. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis sei nicht gesichert. In der EXPLORER-Studie habe eine Überlegenheit gegenüber Placebo weder hinsichtlich der primären noch der sekundären Endpunkte nachgewiesen werden können. Um eine Standardbehandlung handele es sich nicht. Das Vorliegen der Kriterien für eine verfassungskonforme Leistungsausweitung nach Maßgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005, Az. 347/98, sei fraglich. Eine regelmäßig tödlich verlaufende Krankheit liege nicht vor, eine akut lebensbedrohliche Situation lasse sich an Hand der Krankenunterlagen nicht bestätigen.

Gestützt auf die Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung lehnte die Antragsgegnerin den Antrag mit Bescheid vom 16.05.2011 ab.

Ihren hiergegen erhobenen Widerspruch vom 23.05.2011 begründete die Antragstellerin unter Hinweis auf die Schwere des Krankheitsbildes, insbesondere die wiederkehrenden Krankenhausaufenthalte und die nicht länger tolerierbaren hohen Kortisondosen, das Fehlen einer therapeutischen Alternative und die Aussicht auf einen Behandlungserfolg. Sowohl das Nebenwirkungsprofil von Rituximab als auch die Behandlungskosten seien deutlich günstiger als die monatliche Gabe von Infliximab. Trotz der Ergebnisse der EXPLORER- und der LUNAR-Studie gebe es ausreichend Daten, namentlich die Auswertung des GRAID-Registers, welche die Sicherheit und Wirksamkeit der Behandlung belegen würden.

Die Antragsgegnerin wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 06.07.2011 unter Hinweis auf die unterschiedlichen Maßstäbe für die Beurteilung der Leistungspflicht im Falle des Off-Label-Use einerseits und im Falle lebensbedrohlicher bzw. regelmäßig tödlich verlaufender Krankheiten andererseits zurück.

Gegen den Bescheid vom 16.05.2011 und den Widerspruchsbescheid vom 06.07.2011 richtet sich die am 14.07.2011 beim Sozialgericht Dresden eingegangene Klage vom 13.07.2011, mit der die Antragstellerin weiterhin die Versorgung mit dem Arzneimittel als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung anstrebt.

Darüber hinaus beantragte die Antragstellerin am 13.07.2011, die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig zur Übernahme der Behandlungskosten zu verpflichten. Die Antragstellerin macht geltend, die Kriterien für eine verfassungskonforme Leistungsausweitung nach Maßgabe der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005, Az. 347/98, und vom 06.02.2007, Az. 1 BvR 3101/06, seien erfüllt. Die Schwere der Erkrankung habe zur Folge, dass eine Nichtbehandlung zum vollständigen Organausfall und zum Tode führen würde. Die Behandlung mit hochdosiertem Kortison könne nicht fortgesetzt werden, da Leber und Magen bereits stark angegriffen und erste Funktionsdefizite feststellbar seien. Eine Leistungspflicht sei nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil sich die Gefahr des Todes voraussichtlich erst in einigen Jahren realisiere oder im Einzelfall mit intensivmedizinischen Maßnahmen verhindert werden könne. Über die Anwendbarkeit des Arzneimittels bei entzündlichen Autoimmunerkrankungen bestehe fachlicher Konsens. Sie beziehe seit 1994 eine Erwerbsunfähigkeitsrente und sei nicht in der Lage, die Behandlungskosten selbst aufzubringen.

Die Antragsgegnerin beantragt, Bezug nehmend auf die gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung, die Ablehnung des Antrags. Eine Leistungspflicht nach der Rechtsprechung zum Off-Label-Use scheitere an der unzureichenden Datenlage zur Sicherheit und Wirksamkeit des Präparats zur Behandlung der vorliegenden Erkrankung. Einer Kostenübernahme nach Maßgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005, Az. 347/98, stehe das Fehlen einer akut lebensbedrohlichen Erkrankung entgegen. Eine positive Therapieprognose lasse sich nicht belegen. Darüber hinaus sei der Antragstellerin ein Abwarten bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren zuzumuten.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO voraus, dass der Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm ein materielles Recht zusteht, für das er einstweiligen Rechtsschutz beantragen kann (Anordnungsanspruch) und dass wesentliche Nachteile drohen, die nach den Umständen des Einzelfalles unter Abwägung der widerstreitenden Interessen ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache als unzumutbar erscheinen lassen (Anordnungsgrund).

Der Antragstellerin stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund zur Seite, ohne dass es einer abschließenden Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache bedarf.

Sinn und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens liegen in der Sicherung der Ent-scheidungsfähigkeit und der prozessualen Lage, um eine endgültige Rechtsverwirklichung im Hauptsacheprozess zu ermöglichen. Es will nichts anderes, als allein wegen der Zeitdimension der Rechtserkenntnis und der Rechtsdurchsetzung im Hauptsacheverfahren eine zukünftige oder gegenwärtige prozessuale Rechtsstellung vor zeitüberholenden Entwicklungen zu sichern und irreparable Folgen auszuschließen und der Schaffung vollendeter Tatsachen vorzubeugen, die auch dann nicht mehr rückgängig gemacht werden können, wenn sich die angefochtene Verwaltungsentscheidung im nachhinein als rechtwidrig erweist. Hingegen dient das vorläufige Rechtsschutzverfahren nicht dazu, unter Abkürzung dieses Verfahrens geltend gemachte materielle Rechtspositionen vorab zu realisieren. Die Sozialgerichte dürfen sich bei der Prüfung des Anordnungsanspruchs in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, in denen Leistungsansprüche eines Versicherten gegen eine gesetzliche Krankenkasse streitig sind, nicht schlechthin auf die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfes im Hauptsacheverfahren beschränken. Vielmehr verlangt Artikel 19 Abs. 4 Satz 1 GG von den Sozialgerichten bei der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache immer dann, wenn Versicherten ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile drohen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, grundsätzlich eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht unterscheidet. Sind die Sozialgerichte jedoch durch eine Vielzahl anhängiger entscheidungsreifer Rechtsstreitigkeiten belastet oder besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren. In diesem Fall, der in der Regel vorliegen wird, hat sich die Entscheidung an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren. Dabei ist in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 BVerfGG eine Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind statt dessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, obwohl dem Versicherten die streitbefangene Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl er hierauf keinen Anspruch hat. Hierbei ist insbesondere die in Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch den Verfassungsgeber getroffene objektive Wertentscheidung zu berücksichtigen. Danach haben alle staatlichen Organe die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Lebens, der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit zu stellen. Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren vor den Sozialgerichten bedeutet dies, dass diese die Grundrechte der Versicherten auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zur Geltung zu bringen haben, dabei aber die ebenfalls der Sicherung des Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 GG dienende Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. insbesondere aus §§ 1, 2 Abs. 1 und 4 SGB V), ihren Versicherten nur wirksame und hinsichtlich der Nebenwirkungen unbedenkliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, sowie die verfassungsrechtlich besonders geschützte finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung nicht aus den Augen verlieren dürfen. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt oder er schwere oder irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist oder ihr Einsatz mit dem Risiko behaftet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen. Besteht die Beeinträchtigung des Versicherten dagegen im Wesentlichen nur darin, dass er die begehrte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erhält, ohne dass sie dadurch für ihn grundsätzlich an Wert verliert, weil die Beeinträchtigung der in Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Rechtsgüter durch eine spätere Leistungsgewährung beseitigt werden kann, dürfen die Sozialgerichte die begehrte Leistung im Rahmen der Folgenabwägung versagen. Nur durch eine an diesen Grundsätzen orientierte Vorgehensweise bei der Folgenabwägung wird dem vom Gesetzgeber in allen Prozessordnungen vorgesehenen Vorrang des nachgehenden Rechtsschutzes vor dem vorläufigen Rechtsschutz sowie dem sich aus Artikel 20 Abs. 3 GG abzuleitenden Grundsatz Rechnung getragen, dass die Leistungsgewährung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Ausnahme und nicht die Regel sein soll.

Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage ist die Erfolgsaussicht der Klage derzeit offen. Weder eine vollständige Aufklärung der Sachlage noch eine sichere Prognose der Erfolgsaussicht sind im Eilverfahren möglich.

Die damit gebotene Abwägung fällt mit Rücksicht auf die Schwere des Krankheitsbildes und der damit bereits jetzt einhergehenden Beeinträchtigungen sowie die Gefahr einer Verschlimmerung während der Dauer des Hauptsacheverfahrens zu Gunsten der Antragstellerin aus. Dem Antrag ist unabhängig von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu entsprechen.

Darüber hinaus ist nach derzeitigem Verfahrensstand auch ein Erfolg der Klage nicht ausgeschlossen.

Allerdings erscheint es vor dem Hintergrund der EXPLORER- und der LUNAR-Studie tatsächlich zweifelhaft, ob die Kriterien für eine zulassungsüberschreitende Arzneimittelverordnung hinsichtlich der von der Rechtsprechung zur Rechtfertigung eines Off-Label-Use geforderten Qualität der wissenschaftlichen Daten erfüllt sind. Hierfür müsste auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht bestehen, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Behandlungserfolg, die für eine zulassungsüberschreitende Pharmakotherapie nachgewiesen sein muss, entspricht derjenigen für die Zulassungsreife des Arzneimittels im betroffenen Indikationsbereich. Sie ist während und außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens regelmäßig gleich (Bundessozialgericht, Urteil vom 30.06.2009, Az. B 1 KR 5/09 R; Urteil vom 26.09.2006, Az. B 1 KR 1/06 R). Die Ergebnisse der beiden Phase-III-Studien verfehlen diesen Maßstab, weil sie die therapeutische Wirksamkeit von Rituximab nicht belegen. Dies lässt sich auch nicht unter Hinweis auf andere Studien von geringerem Evidenzniveau kompensieren, weil diese nicht die Datenqualität aufweisen, die in einem Zulassungsverfahren gefordert wird. Dies gilt auch für die Auswertung des GRAID-Registers in der Publikation von Tony et al. Dabei handelt es sich um eine retrospektive, nicht kontrollierte Verlaufsbeobachtung, in die Daten von 370 Patienten mit insgesamt 42 verschiedenen Autoimmunerkrankungen eingeflossen sind. Sie weist hinsichtlich der untersuchten Krankheitsbilder eine große Heterogenität bei jeweils nur geringen Patientenzahlen (maximal 85 für den systemischen Lupus erythematodes) auf. Daraus lassen sich zwar Rückschlüsse auf die Wirksamkeit des therapeutischen Konzepts der Behandlung von Autoimmunerkrankungen mittels B-Zell-Hemmern wie auch auf die Verträglichkeit von Rituximab ziehen. Zur generellen Beurteilung des Nutzens von Rituximab für die Behandlung der konkreten Krankheitsbilder sind die Daten jedoch nicht in vergleichbarer Weise geeignet wie im Zulassungsverfahren einzureichende Studien. Die darüber hinaus von Dr. U. im Schreiben vom 03.06.2011 erwähnte Veröffentlichung von Vital et al. untersucht die Zusammenhänge zwischen der Ausschaltung und Reaktivierung von B-Lymphozyten, namentlich Gedächtnis- und Plasmazellen, sowie dem klinischem Ansprechen auf die Behandlung bzw. dem weiteren klinischen Verlauf. Es handelt sich ebenfalls nicht um eine kontrollierte Wirksamkeitsstudie.

Darüber hinaus differenzieren die von den Ärzten der Antragstellerin benannten Studien - ebenso wie schon die Zulassung des beantragten Arzneimittels - zwischen den einzelnen Erkrankungen innerhalb des Formenkreises der Autoimmunerkrankungen. Soweit eine klinische Wirksamkeit an Hand der Studienergebnisse behauptet wird, sind diese Ergebnisse konkreten Erkrankungen zugeordnet, namentlich dem systemischen Lupus erythematodes. Die Einschlusskriterien setzen die Diagnose einer bestimmten Erkrankung voraus. Die bei der Antragstellerin nach dem aktuellen Stand der Diagnostik vorliegende unspezifische Kollagenose lässt sich keinem dieser konkreten Krankheitsbilder zurechnen. Insbesondere ist der in den Behandlungsberichten des Chefarztes Prof. N. vom 28.02.2006 und vom 09.07.2007 (Bl. 67 ff. der Sozialgerichtsakte) geäußerte Verdacht eines einlaufenden systemischen Lupus erythematodes später nicht bestätigt worden. Die von der Rechtsprechung für einen Off-Label-Use vorausgesetzte Qualität der Daten auf dem Niveau der Zulassungsreife setzt jedoch, wenn schon die konkrete Diagnose der Arzneimittelzulassung nicht vorliegt, wenigstens auf die konkrete Diagnose des Versicherten bezogene Erkenntnisse aus klinischen Studien voraus, weil auch eine Zulassung grundsätzlich indikations-, in der Regel diagnosebezogen, erteilt wird.

Gleichwohl bietet die verfügbare Datenlage eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt ein solches abgesenktes Evidenzniveau ausreichen, wenn es darum geht, einem gesetzlich Krankenversicherten bei einer lebensbedrohlichen oder vorhersehbar tödlich verlaufenden Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, eine nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethode zur Verfügung zu stellen (Beschluss, vom 06.12.2005, Az. 1 BvR 347/98).

Ungeachtet der konkreten diagnostischen Einordnung der Erkrankung der Antragstellerin liegen gewichtige Anhaltspunkte für eine positive Prognose eines Behandlungsansatzes mittels B-Zell-Hemmern vor. Dieser knüpft an pathophysiologische Zusammenhänge an, die unterschiedlichen Autoimmunerkrankungen gemeinsam sind und deren Wirken deshalb auch in Bezug auf die bei der Antragstellerin diagnostizierte unspezifische Kollagenose angenommen werden kann.

Außer durch diagnosebezogene nichtkontrollierte Studien und Fallberichte wird der übergreifende pathophysiologische Ansatz der Behandlung von Autoimmunerkrankungen mittels Rituximab in der Auswertung der GRAID-Register-Daten durch Tony et al. bestätigt. Zu vergleichbaren Ergebnissen sind die Auswertungen vergleichbarer Register in Spanien und Frankreich gelangt (Ramos-Casals et al., Clinical and Experimental Rheumatology, Vol. 28 [2010] Nr. 4, Juli-August, S. 468 ff.; Terrier et al., Arthritis & Rheumatism, Vol 62 [2010] Nr. 8, August, S. 2458 ff.).

Die aus den Veröffentlichungen unterhalb des Evidenzniveaus kontrollierter randomisierter Studien gewonnenen Erkenntnisse über die therapeutische Wirksamkeit einer B-Zell-Unterdrückung mittels Rituximab bei bestimmten Erkrankungen aus dem Formenkreis der Kollagenosen werden durch die EXPLORER- und die LUNAR-Studie nicht widerlegt. In diesen Studien wurden die Patienten mit systemischem Lupus erythematodes bzw. Lupus nephritis sowohl in der Verum- als auch in der Placebogruppe zusätzlich zur Standardbehandlung mittels Kortikosteroiden und Immunsuppresiva mit Rituximab behandelt. Obwohl die Einschlusskriterien der Studien zum Zwecke einer Verlaufskontrolle ein Mindestmaß an klinischer Aktivität der Erkrankung trotz laufender Behandlung voraussetzten, handelte es sich gleichwohl um Patienten, bei denen die Standardtherapie fortgesetzt wurde, mithin noch eine Wirkung derselben angenommen wurde. Vor diesem Hintergrund lässt sich beiden Studien lediglich entnehmen, dass die komplementäre Gabe von Rituximab bei Patienten, die bereits auf die Standardtherapie ansprechen, keinen nachweisbaren Zusatznutzen entfaltet. Hieraus kann indessen nicht geschlossen werden, dass auch bei Patienten, welche auf die immunsuppressive Standardtherapie nicht oder nicht mehr ansprechen, eine Behandlung mit Rituximab keine klinische Wirksamkeit entfalten würde.

Hinsichtlich der Verträglichkeit der Arzneimitteltherapie mittels Rituximab kann, außer auf die bereits erwähnten Studien und Registerdaten auf die Erkenntnisse aus der zulassungskonformen Behandlung der rheumatoiden Arthritis zurückgegriffen werden. Insoweit ist in den Fällen des Off-Label-Use, jedenfalls bei der Behandlung von Erkrankungen mit ähnlichen pathogenetischen Merkmalen wie die von der Zulassung umfassten Krankheiten, ein weniger strenger Maßstab als bei völlig neuartigen Therapien geboten. Soweit der Medizinische Dienst der Krankenversicherung in seiner Stellungnahme vom 11.05.2010 auf einen Rote-Hand-Brief der Herstellers vom 06.11.2008 hinweist, ist dieser inzwischen in die Fachinformationen des Arzneimittels MabThera® für die Behandlung der Rheumatoidarthritis eingearbeitet. Anhaltspunkte für ein erhöhtes Risiko einer Leukoenzephalopathie bei anderen Autoimmunerkrankungen lassen sich der Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung nicht entnehmen.

Im Übrigen kann aus dem Versagen bzw. dem Wirksamkeitsverlust der bisherigen Behandlungen nicht auf die fehlende Prognose der nunmehr angestrebten Behandlungsalternative geschlossen werden. Die Alternativlosigkeit der beantragten Therapie eröffnet vielmehr erst den Zugang zu einer evtl. Leistungsausweitung. Allein die Möglichkeit eines Therapieversagens begründet noch keine negative Behandlungsprognose. Die Gewissheit eines Behandlungserfolgs wird nicht verlangt. Dies gilt auch und erst recht für sog. Second-line bzw. third-line Therapien nach Versagen der vorrangigen, standardmäßigen Behandlungsansätze, für deren Bewertung gerade wegen des nicht standardmäßigen Vorgehens oftmals auf Unterlagen geringerer Evidenzstufen wie Fallserien und andere nicht vergleichende Studien, Einzelfallberichte und pathophysiologische Überlegungen zurückgegriffen werden muss, weil systematische Übersichtsarbeiten oder randomisierte klinische Studien nicht verfügbar oder für die konkrete Behandlungssituation nicht unmittelbar einschlägig sind.

Voraussetzung für eine Bereitstellung des Präparats auf dieser Grundlage ist allerdings das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden oder zumindest wertungsmäßig damit vergleichbaren Erkrankungen, für die eine allgemein anerkannte Behandlung nicht verfügbar ist. Dabei ist nicht erforderlich, dass bereits das Stadium einer akuten Lebensgefahr erreicht ist; eine Krankheit ist vielmehr auch dann als regelmäßig tödlich zu qualifizieren, wenn sie "erst" in einigen Jahren zum Tod des Betroffenen führt (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 06.02.2007, Az. 1 BvR 3101/06); nicht ausreichend ist es dagegen, wenn sich die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs erst in ganz ferner, noch nicht genau absehbarer Zeit zu realisieren droht (Bundessozialgericht, Urteil vom 27.03.2007, Az. B 1 KR 30/06 R). Allein eine nachhaltig Beeinträchtigung der Lebensqualität auf Dauer genügt nicht.

In diesem Punkt hat es die Antragsgegnerin unterlassen, durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung prüfen zu lassen, welche Folgen zu erwarten sind, wenn der Antragstellerin nach dem Versagen der in Frage kommenden Therapiealternativen der angestrebte Behandlungsversuch vorenthalten wird. Einerseits verneinen die behandelnden Ärzte weitere Organmanifestationen. Andererseits trägt die Antragstellerin nachvollziehbar vor, dass die bisherige symptomatische Behandlung mit Kortison in den bisherigen Dosen wegen der damit verbundenen unerwünschten Arzneimittelwirkungen nicht unbegrenzt fortgesetzt werden kann. Welches konkrete Ausmaß diese Beeinträchtigungen haben, welche Konsequenzen sich hieraus für die weitere Behandlung mit Kortikosteroiden ergeben und wie die Überlebensprognose im Falle des Absetzens bzw. der wesentlichen Reduzierung der Kortisonbehandlung einzuschätzen ist, bleibt den Ermittlungen im Hauptsacheverfahren vorbehalten. Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes geht dieses Ermittlungsdefizit zunächst zu Lasten der Antragsgegnerin. Zutreffend ist allerdings die Auffassung der Antragstellerin, dass die Inanspruchnahme intensivmedizinischer Maßnahmen im Falle akut lebensbedrohlicher Situationen keine zumutbare Alternative zur Behandlung mit einem für die konkrete Erkrankung nicht zugelassenen Arzneimittel darstellt. Darüber hinaus lässt sich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 06.02.2007, Az. 1 BvR 3101/06, entnehmen, dass je sicherer der mortale Verlauf einer Erkrankung beim Unterlassen einer Behandlung vorhersehbar ist, desto weniger der Eintritt einer akut lebensbedrohlichen Situation als Voraussetzung für einen Behandlungsversuch gefordert werden darf. Verspricht eine frühere Intervention bessere Aussicht auf Abwendung eines im weiteren Verlauf sicheren tödlichen Risikos, verbietet sich ein Abwarten um seiner selbst willen von allein.

Schließlich besteht nach derzeitiger Sachlage die Möglichkeit, dass die Antragsgegnerin der Antragstellerin das Fehlen der arzneimittelrechtlichen Zulassung des Medikaments für die bei ihr vorliegende Erkrankung schon deshalb nicht entgegen halten kann, weil es sich um einen sog. Seltenheitsfall im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts handelt. Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 19.10.2004, Az. B 1 KR 27/02 R, der Krankenkasse die Berufung auf die fehlende Verkehrsfähigkeit eines im Inland nicht zugelassenen Arzneimittels versagt, wenn der Versicherte an einer sehr seltenen, einer systematischen Erforschung von darauf bezogenen Therapiemöglichkeiten nicht zugänglichen Erkrankung leidet, für die keine anderen Therapiemöglichkeiten zur Verfügung stehen. Das arzneimittelrechtliche Verkehrsverbot stehe einer Leistungspflicht für ein Mittel zur Behandlung einer einzigartigen Krankheit in einer außergewöhnlichen medizinischen Situation nicht entgegen. Bei der Therapie einer derart singulären Krankheit bestehe gerade nicht die Gefahr, dass die maßgeblichen nationalen bzw. europarechtlichen Anforderungen an die Arzneimittelsicherheit, wie sie im Zulassungserfordernis zum Ausdruck kommen, systematisch umgangen werden könnten. Bei Krankheiten, die im angedeuteten Sinne einzigartig sind, sei hinreichend gewährleistet, dass auch der Einsatz des Medikaments ein Einzelfall bleibt und die Einbeziehung in die krankenversicherungsrechtliche Leistungspflicht nicht zu einer arzneimittelrechtlichen Zulassung "durch die Hintertür" führt.

Diese Grundsätze können auch hier anzuwenden sein. Zwar handelt es sich bei Kollagenosen keineswegs um seltene, faktisch unerforschbare Erkrankungen. Die Besonderheit im Falle der Antragstellerin liegt indessen darin, dass sie an einer individuellen Ausformung der Erkrankung leidet, die sich trotz jahrelanger intensiver Diagnostik keiner bestimmten Erkrankung dieses Formenkreises zuordnen lässt. Angesichts des bisherigen diagnostischen Aufwandes und der Hinzuziehung zahlreicher Fachärzte aus dem ambulanten und stationären Sektor schließt das Gericht nach derzeitiger Lage der Dinge aus, dass die unterbliebene Zuordnung zu einer der in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) namentlich aufgeführten Autoimmunerkrankungen darauf beruht, dass die diagnostischen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft wären oder die behandelnden Ärzte zur Umgehung arzneimittelrechtlicher Beschränkungen eine konkrete Diagnose bewusst vermeiden würden. Im Falle einer völlig unspezifischen, individuellen Krankheitsform ist indessen ein direkter Rückgriff auf diagnosebezogene Arzneimittelzulassungen ebenso ausgeschlossen wie auf konkret erkrankungsbezogene medizinische Erkenntnisse. Seltene Erkrankungen im Sinne der o.g. Rechtsprechung des Bundessozialgerichts müssen nicht fremdartig sein. Es genügt, wenn ein Krankheitsbild so singulär ist, dass es sich wegen der Unmöglichkeit der Zuordnung zu einer bestimmten Erkrankung einer systematischen Erforschung entzieht und deshalb eine Behandlung von vorn herein nur möglich ist, indem die behandelnden Ärzte auf Behandlungsmethoden zurückgreifen, die für ähnliche oder sonst vergleichbare Erkrankungen erforscht und zugelassen sind und bei denen auf Grund der pathophysiologischen Zusammenhänge eine therapeutische Wirkung bei angemessenen Risiken erwartet werden kann. Mit Rücksicht auf die Singularität des Falles kommt deshalb in dieser Situation eine zulassungsüberschreitende Anwendung des Arzneimittels in Betracht, ohne dass die behandelnden Ärzte an die strengen Voraussetzungen nach der Rechtsprechung zum Off-Label-Use oder nach den Maßgaben des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005, Az. 1 BvR 347/98, gebunden wären.

Weil der Antragstellerin wegen der Schwere krankheitsbedingten Beeinträchtigungen, auch mit Rücksicht auf den weiteren Verlauf der Erkrankung ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten ist, hat die Antragsgegnerin die beantragte Leistung einstweilen bereitzustellen. Die der Antragstellerin zu gewährende Krankenbehandlung umfasst das Arzneimittel wie auch dessen Applikation als Sach- bzw. Dienstleistung (§ 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 183 Satz 1 und § 193 Abs. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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