S 14 R 11/06

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
SG Lübeck (SHS)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 14 R 11/06
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Für das Zustandekommen eines Beschäftigungsverhältnisses aus eigenem Willens-entschluss im Sinne des ZRBG ist es ausreichend, wenn glaubhaft gemacht wird, dass der Beschäftigte mindestens eine weitere Beschäftigungsmöglichkeit zur Aus-wahl hatte.

Die Verordnung über die Einführung eines strafbewehrten Arbeitszwangs für die jüdi-sche Bevölkerung im „Reichskommissariat Ostland“ aus August 1941 steht der frei-willigen Aufnahme einer Beschäftigung nicht entgegen (andere Ansicht Landessozi-algericht für das Land Nordrhein-Westfalen 13. Januar 2006 – L 4 RJ 113/04).
1. Der Bescheid der Beklagten vom 15. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Dezember 2005 wird aufgehoben. 2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit ab 1 1997 eine Regelaltersrente unter Berücksichtigung einer Beitragszeit im Ghetto S von Oktober 1941 bis Oktober 1943 zu gewähren. 3. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtung von Beschäftigungszeiten im Ghetto S.

Der am 1 1925 in Tauroggen (damals Litauen) geborene Kläger ist Jude und wurde als solcher Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Er gehörte zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Seine Mutter war Deutsche. Seit August 1941 musste er sich im Ghetto S (Š ) aufhalten. Seit dem Einmarsch der deutschen Armee im Juni/Juli 1941 war die Stadt S Teil des Reichskomimssiariats O , in dem ab Juli 1941 eine Zivilverwaltung errichtet worden war. Der Kläger arbeitete dort bis August 1944 am Flugplatz und zwar beim Heeresverpflegungslager (HVL) und für eine Zuckerfabrik. Anschließend wurde er in das Konzentrationslager D verbracht. Dort wurde er im Mai 1945 befreit. 1946 wanderte er in die U aus, wo er noch heute lebt. Von 1946 bis 1990 entrichtete er Beiträge zum US-Sozialversicherungssystem. Im Jahre 1958 erhielt er vom Bezirksamt für Wiedergutmachung in T eine Entschädigung in Höhe von DM 6.450,00 und 1967 außerdem eine Beschädigtenrente. Von der C C wurden ihm 2001 Leistungen aus dem Zwangsarbeiter-Fonds bewilligt.

Am 31. März 2003 stellte er bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Regelaltersrente. Im Ghetto S habe er von Juli bis Oktober 1941 am Flugplatz, von Oktober 1941 bis November 1942 beim HVL, von November 1942 bis Januar 1943 für die Zuckerfabrik und von Januar 1943 bis Frühjahr 1944 wieder beim HVL gearbeitet. Dafür habe er Lebensmittel und Holzschuhe erhalten.

Die Beklagte zog die Entschädigungsakte des Bezirkspräsidiums D bei. In einer persönlichen Erklärung hatte der Kläger dort 1957 u. a. angegeben, dass er im August 1941 in das Ghetto S verbracht worden sei und dort am Flugplatz und in sämtlichen SS- und Wehrmachtsdienststellen habe Zwangsarbeit leisten müssen. Unter Bewachung sei er vom Ghetto zum Flughafen und zurück gebracht worden. Danach habe er ca. 18 Monate beim HVL gearbeitet. Die nächsten sechs Monate habe er in verschiedenen Wehrmachts- und SS-Dienststellen arbeiten müssen. Bei allen diesen Arbeiten sei er von deutschen Soldaten bewacht worden.

Mit Bescheid vom 15. Februar 2005 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab. Ein Rentenanspruch bestehe nicht, da der Kläger keine in der Rentenversicherung anrechen-baren Zeiten zurückgelegt habe. Die Zeit von Juli 1941 bis 17. September 1943 könne nicht anerkannt werden, weil nicht ausreichend glaubhaft gemacht worden sei, dass es sich dabei um eine entgeltliche Beschäftigung aus freiem Willensentschluss gehandelt hat.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 11. April 2005 Widerspruch. Die Arbeiten im Ghetto habe er sich freiwillig gesucht. Als entgeltliche Gegenleistung habe er Bargeld und Sachbezüge erhalten. Die Juden im Ghetto S seien vom Arbeitsamt eingesetzt worden und sollten dafür als Entlohnung 80 % des polnischen Tarifs erhalten. Er fügte einen Auszug aus einem Buch über das Ghetto S bei, in dem sein Name in einer Liste der Ghettoinsassen als Arbeiter beim HVL aufgeführt ist.

Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 27. Dezember 2005 als unbegründet zurück. Im Wesentlichen wiederholte sie die Begründung des Ausgangsbescheides. Bei der Arbeit im Ghetto S habe es sich um Zwangsarbeit gehandelt.

Dagegen hat der Kläger am 3. Januar 2006 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. Er sei weder bei der Arbeit selbst noch auf dem Weg zur Arbeit von deutschen Soldaten bewacht worden. Mit seiner Erklärung im Entschädigungsverfahren habe er lediglich aussagen wollen, dass die Gebäude der entsprechenden Arbeitsstellen bewacht gewesen seien. Eine Entlohnung der Juden im Ghetto S in Reichsmark sei durch Anordnung geregelt gewesen. Ihm selbst sei eine Entlohnung gewährt worden, die dazu ausgereicht habe, seinen Lebensunterhalt nach den damaligen Umständen hinreichend zu bestreiten. Er habe einen kleinen Geldbetrag und wöchentlich ein Lebensmitteldeputat erhalten. Im Übrigen führe schon allein der Entgeltanspruch dazu, dass er für den Bereich der Renten-versicherung so zu stellen sei, als sei ihm das Monatsgehalt tatsächlich ausgezahlt worden.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Dezember 2005 zu verurteilen, ihm unter Berücksichtigung einer Beitragszeit im Ghetto S von Oktober 1941 bis Oktober 1943 nach dem ZRBG eine Regelaltersrente ab 1 1997 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide. Die Zahlung eines Lohnes an arbeitende Juden in S sei zwar vorgeschrieben gewesen, allerdings in einer Höhe, die nicht leistungsgerecht gewesen sei, sondern die wie auch bei Zwangsarbeit nur der Bestreitung des notdürftigen Lebensunterhaltes zur Erhaltung der Arbeitskraft dienen sollte. Außerdem habe der Einzelne auf die Auswahl des Arbeitsplatzes nur geringen Einfluss gehabt.

Das Gericht hat Unterlagen der C C , die Entschädigungsakte des Amtes für Wiedergutmachung in S und die Verwaltungsakten der Beklagten beigezogen und zusammen mit der Prozessakte zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 15. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Dezember 2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Gewährung einer Regelaltersrente nach § 35 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI).

Nach dieser Vorschrift haben Versicherte einen Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Diese Voraussetzungen liegen vor, denn der Kläger hat die allgemeine Wartezeit erfüllt. Gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB VI beträgt die allgemeine Wartezeit fünf Jahre. Allerdings hat der Kläger als amerikanischer Altersrentner nach Art. 7 Abs. 2 des deutsch-amerikanischen Sozialver-sicherungsabkommens vom 7. Januar 1976 lediglich eine Mindestversicherungszeit von 18 Monaten zu erfüllen. Darauf werden nach § 51 Abs. 1 und 4 SGB VI Beitrags- und Ersatzzeiten angerechnet. Pflichtbeitragszeiten sind dabei gemäß § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger durch die Zeit der Beschäftigung als Verfolgter im Ghetto S von Oktober 1941 bis Oktober 1943, für die Beiträge nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) als gezahlt gelten.

Nach § 2 Absatz 1 ZRBG gelten Beiträge als gezahlt und zwar - für die Berechnung der Rente als Beiträge nach den Reichsversicherungsgesetzen für eine Beschäftigung außerhalb des Bundesgebietes sowie - für die Erbringung von Leistungen ins Ausland als Beiträge für eine Beschäftigung im Bundesgebiet (Ghetto-Beitragszeiten). Nach § 1 Absatz 1 Satz 1 ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zu Stande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird. Diese Voraussetzungen liegen für den streitigen Zeitraum vor.

Der Kläger ist als Verfolgter im Sinne von § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt. Er erhält eine Rente wegen des Schadens an Körper und Gesundheit und ist auch wegen des Freiheitsschadens nach BEG entschädigt worden. Er hat sich unstreitig von August 1941 bis Oktober 1943 zwangsweise in einem Ghetto in einem vom deutschen Reich besetzten Gebiet aufgehalten, nämlich im Ghetto S. Die Stadt S lag seit 1920 auf litauischem Staatsgebiet. Im Juni 1941 wurde Litauen durch das Deutsche Reich besetzt und zum "Reichskommissariat O ". Das Ghetto S wurde bis zum 15. August 1941 eingerichtet und im Oktober 1943 mit der Übernahme der Ghettos im "Reichskommissariat O " durch die SS zum Konzentrationslager. Im Sommer 1944 wurden die männlichen Insassen wie der Kläger zunächst ins Konzentrationslager S und dann ins Konzentrationslager D gebracht.

Die Kammer sieht es als glaubhaft an, dass der Kläger von Oktober 1941 bis Oktober 1943 im Ghetto S aus freiem Willensentschluss einer Beschäftigung gegen Entgelt nachgegangen ist. Für die Feststellung der nach dem ZRBG maßgeblichen Tatsachen genügt deren Glaubhaftmachung (§ 1 Abs. 2 ZRBG i. V. m. § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialver-sicherung). Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn sie nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Überwiegende Wahrscheinlichkeit liegt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vor, wenn die gute Möglichkeit besteht, dass der behauptete Vorgang sich so zugetragen hat, wie der Antragsteller es geltend macht (BSG 3. Februar 1999, B 9 V 33/97 R). Die Kammer sieht es in diesem Sinne als glaubhaft an, dass der Kläger im Ghetto S verschiedene Beschäftigungen ausübte. Im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren und bereits gegenüber der Entschädigungsbehörde im Jahre 1957 hat er durchgehend geschildert, dass er am Flugplatz und beim HVL gearbeitet habe.

Der Kläger hat auch glaubhaft gemacht, dass er in der streitigen Zeit eine Beschäftigung gegen Entgelt ausübte. Im Entschädigungsverfahren machte er zu einer Vergütung oder Entlohnung für seine Arbeit keine Angaben. Diese Frage war für das Entschädigungs-verfahren auch nicht von Bedeutung. Im Gerichts- und im Verwaltungsverfahren hat der Kläger durchgehend angegeben für die genannten Arbeiten Lebensmittel erhalten zu haben. Auch war nach den am 2. August 1941 für Litauen erlassenen "vorläufigen Richtlinien für die Behandlung der Juden" grundsätzlich eine Vergütung zu zahlen gewesen. Die Erklärungen des Klägers bieten damit eine ausreichende Tatsachengrundlage, die es als überwiegend wahrscheinlich erscheinen lässt, dass er in dieser Zeit eine durch ein angemessenes Entgelt vergütete Tätigkeit ausübte.

Zwar ist eine angemessene Gegenleistung bei der reinen Verpflegung des Beschäftigten nicht gegeben, weil die Verpflegung als Teilbestandteil freier Unterhaltsgewährung nach § 1227 Reichsversicherungsordnung keine Rentenversicherungspflicht begründete. Deshalb reicht selbst "gute Verpflegung" nicht aus, um Entgeltlichkeit im Sinne des ZRBG zu begründen (BSG 7. Oktober 2004 - B 13 RJ 59/03 R, BSGE 93, 214). So liegt der Fall hier aber nicht. Denn der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft versichert, dass er die erlangten Lebensmittel und Lebensmittelkarten auch zur Versorgung seiner Mutter und seines Onkels nutzte. Er hat also Nahrungsmittel erhalten, die über den unmittelbaren Verbrauch am Arbeitsplatz hinausgingen und die er mit seiner Familie teilen konnte. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger geschildert, dass er am Flugplatz einmal wöchentlich Lebensmittel und ab und zu ein bisschen Geld bekam, das er mit nach Hause nehmen konnte. Das Gericht hat keinen Anlass, an diesen Angaben des Klägers zu zweifeln. Er hat von Beginn des Rentenverfahrens an angegeben Nahrungsmittel für seine Tätigkeit erhalten zu haben. Darin, dass der Kläger zunächst angab, nur Nahrungsmittel und Holzschuhe erhalten zu haben und dies erst später dahin gehend konkretisierte, dass er auch einen geringen Barlohn erhalten habe, sieht die Kammer keinen Widerspruch. Denn der Kläger hat dazu in der mündlichen Verhandlung überzeugend ausgeführt, dass im Ghetto für ihn und die anderen Insassen Geld nicht von Bedeutung war, da er dafür nichts habe kaufen können. Er habe es lediglich im Ghetto gegen Lebensmittelgutscheine eintauschen können. Lebensmittel seien unter diesen Bedingungen viel wertvoller gewesen als Geld. Diese Aussage ist für die Kammer angesichts der historischen Erkenntnisse nachvollziehbar. Denn in den Ghettos in Litauen war eine monetäre Vergütung im Vergleich zur Vergütung in Form von Lebensmittelrationen von deutlich geringerem Wert. Nach den Richtlinien vom 2. August 1941 war den Juden in den Ghettos nur so viel an Nahrungsmitteln zu überlassen, wie die übrige Bevölkerung entbehren kann, jedoch nicht mehr, als zur notdürftigen Ernährung der Insassen des Ghettos ausreicht. Nahrungsmittel waren daher im Ghetto ein ausgesprochen knappes Gut, so dass die ausreichende Ernährung für die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung im Ghetto die Überlebensfrage darstellte. In Anbetracht dieser Gegebenheiten sind Lebensmittelrationen, die mit anderen Personen geteilt werden konnten, nicht als derart geringfügig anzusehen, dass ihnen der Entgeltcharakter abzusprechen wäre (vgl. SG Hamburg 15. August 2006 - S 20 R 1485/05; entgegen LSG Nordrhein-Westfalen 20. Februar 2006 - L 3 R 140/05).

Es ist für die Kammer außerdem überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger die von ihm ausgeübten Beschäftigungsverhältnisse im Ghetto aus eigenem Willensentschluss aufnahm. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG liegt keine versicherungspflichtige Beschäftigung vor bei Arbeit unter obrigkeitlichem (hoheitlichem) bzw. gesetzlichem Zwang, wie z. B. bei Strafgefangenen oder KZ-Häftlingen (vgl. BSG 14.Juli 1999, B 13 RJ 75/98 R m. w. N.). Charakteristisch für das Vorliegen von Zwangsarbeit ist danach die obrigkeitliche Zuweisung von Arbeitern an bestimmte Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf Einfluss haben (BSG a. a. O.). Das ist vorliegend nicht der Fall. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung erneut geschildert, dass er in der Zeit von August 1941 bis Frühjahr 1944 auf dem Flugplatz in der Nähe von S arbeitete. Er hat beschrieben, dass er dort zunächst einfache Straßenarbeiten verrichtet hat. Dann habe er sich im Oktober 1941 für eine Arbeit beim HVL melden können. Nach dessen Verlegung habe er von November 1942 bis Januar 1943 für die Zuckerfabrik und ab Januar 1943 wieder beim HVL gearbeitet. Aufgrund seiner ausgezeichneten Deutschkenntnisse, von denen sich die Kammer in der mündlichen Verhandlung überzeugen konnte, sei er für die am Flugplatz tätigen Soldaten der Wehrmacht und der Organisation Todt insbesondere als Dolmetscher wertvoll gewesen. Dies ist für die Kammer glaubhaft, da der Kläger nachvollziehbar geschildert hat, dass während der gesamten Zeit litauische Bauern Waren, insbesondere Zuckerrüben, zum Flugplatz bringen und die Soldaten sich mit ihnen verständigen mussten. Der Kläger gab bereits im Entschädigungsverfahren an, dort auch beim Be- und Entladen geholfen zu haben. Er hat im Klageverfahren auch beschrieben, dass er in der Zeit, in der keine Waren geliefert wurden, in einer Autoreparaturwerkstatt unter einem deutschen Wehrmacht-soldaten arbeitete. Außerdem hat er überzeugend angegeben, dass er sich für die Arbeit am Flugplatz immer freiwillig gemeldet habe. Denn er und auch andere hätten diese Arbeit einer Arbeit im Ghetto, die er auch hätte wahrnehmen können, vorgezogen, weil dort die begehrten zusätzlichen Lebensmittel erlangt werden konnten. Er habe sich beim zuständigen Judenrat um diese Arbeit bemüht und sie sei ihm darauf hin zugewiesen worden. Ausführlich hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung auch dargestellt, wie er jedenfalls ab Oktober 1941 selbst auf dem Flugplatz angekommen noch eine bestimmte Arbeit auswählen konnte. Nach Ankunft auf dem Flugplatz hätten Soldaten der Organisation Todt Spezialisten abgefordert, z. B. für Holz- oder Zementarbeiten. Er habe bei dieser Verteilung immer darauf hingewiesen, dass er Deutsch spreche, und habe deshalb häufig Dolmetscherarbeiten bekommen. Damit hatte er im weiteren Sinne auch Einfluss auf die Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses.

Einer Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss steht nicht der in den Richtlinien vom 2. August 1941 verordnete Arbeitszwang der jüdischen Bevölkerung entgegen (anders LSG Nordrhein-Westfalen 13. Januar 2006 – L 4 RJ 113/04). Zwar heißt es in den Richtlinien: "Die arbeitsfähigen Juden sind nach Maßgabe des Arbeitsbedarfs zu Zwangsarbeit heranzuziehen Die Zwangsarbeit kann in Arbeitskommandos außerhalb des Ghettos, im Ghetto oder, wo Ghettos noch nicht errichtet sind, auch einzeln außerhalb der Ghettos geleistet werden.". Allerdings kann auch unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, das heißt trotz Regulierung des Arbeitsmarktes und Bestehens von Arbeitspflichten, nicht davon ausgegangen werden, dass die Gesamtheit aller Arbeits-verhältnisse derart obrigkeitlich/hoheitlich überlagert war, dass sie den Charakter von Zwangsarbeit angenommen hätten (vgl. BSG 14. Juli 1999 - 5 B 13 RJ 71/98). Auch der Gesetzgeber hielt es bei Schaffung des ZRBG offensichtlich für möglich, dass Beschäftigungsverhältnisse aus eigenem Willensentschluss in den von Arbeitszwang und anderen Einschränkungen der jüdischen Bevölkerung gekennzeichneten besetzten Gebieten möglich waren, denn anderenfalls liefe der Anwendungsbereich des Gesetzes leer (vgl. SG Hamburg a. a. O.).

Vor diesem Hintergrund steht der Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses auch nicht entgegen, dass der Kläger im Entschädigungsverfahren angab, er habe Zwangsarbeiten leisten müssen und sei von deutschen Soldaten bewacht worden. Dies mag möglicherweise für die Zeit von August bis September 1941 gelten, in der der Kläger einfache Straßenarbeiten verrichtete und von einem Aufseher misshandelt wurde. Diesbezüglich hat der Kläger seien Antrag jedoch zurück genommen. Darüber hinaus ist Zwangsarbeit auch in dem hier ebenfalls nicht streitbefangenen Zeitraum ab November 1943 überwiegend wahrscheinlich, weil von diesem Zeitpunkt an das Ghetto unter die Aufsicht der SS gestellt war, die daraus ein Konzentrationslager machte. So hat der Kläger der Kammer in der mündlichen Verhandlung auch glaubhaft versichert, dass sich seine Angaben im Entschädigungsverfahren insbesondere aus der Erinnerung an diese letzte Zeit in S ergaben. Er hat außerdem überzeugend erklärt, dass er bei der Arbeit am Flugplatz nicht unmittelbar bewacht wurde, sondern lediglich das Flugplatzgelände von Soldaten bewacht wurde. Diese Tatsache reicht als Indiz für die Annahme von Zwangsarbeit nicht aus. Auch schließt die Bezeichnung der im Ghetto geleisteten Arbeit als Zwangsarbeit nicht aus, dass es sich um eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss handelte. Die Verwendung des Begriffs Zwangsarbeit lässt nämlich regelmäßig keinen Aufschluss über die konkreten Bedingungen der im Ghetto geleisteten Arbeit zu (SG Hamburg a. a. O.). Vielmehr dürften in der Erinnerung der Betroffenen die Zwangsbedingungen im Ghetto und die mit dem Nicht-Innehaben eines Arbeitsplatzes verbundene Angst vor Deportation und Vernichtung auch die Beurteilung der Arbeitsumstände wesentlich geprägt haben. Der Terminus Zwangsarbeit ist daher bei den Überlebenden des Holocaust für Arbeitstätigkeiten während der gesamten nationalsozialistischen Verfolgung durchaus gebräuchlich (SG Hamburg a. a. O.). Aus der Verwendung der Begriffe kann daher wegen ihrer subjektiven Prägung (vgl. BSG 30. August 2001, B 13 RJ 59/00 R) eine Klassifizierung in die Kategorien des Rentenrechts nicht abgeleitet werden. Maßgeblich sind vielmehr die konkreten Umstände des Zustande-kommens der Beschäftigung im Einzelfall. Letztlich war im Falle es Klägers die Bewachung des Flugplatzgeländes (neben der Angst vor Sabotage) und die Bewachung auf dem Weg vom Ghetto zum Flugplatz und zurück nicht die Folge des (Arbeits-) Zwanges, sondern die - logische - Folge der Ghettoisierung (vgl. SG Hamburg 17. Juni 2005 – S 19 RJ 1061/03). Der zwangsweise Aufenthalt in einem Ghetto ist aber gerade Voraussetzung nach dem ZRBG und steht einem aus eigenem Willensentschluss zustande gekommenen Beschäftigungs-verhältnis nicht entgegen.

Da der Kläger in der deutschen Rentenversicherung anrechenbare Beitragszeiten zurückgelegt hat, kommt auch die Anerkennung von Ersatzzeiten in Betracht. Nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI ist Voraussetzung für eine Ersatzzeit wegen nationalsozialistischer Verfolgung, dass der Verfolgte bereits als Versicherter gilt, das heißt mindestens einen Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet hat (vgl. Kreikebohm, Kommentar zum SGB VI, 2. Aufl., § 250 Rdnr. 6). Diese Voraussetzung erfüllt der Kläger. Daher sind ihm für die Zeiträume August bis September 1941 und November 1943 bis März 1945 Ersatzzeiten anzuerkennen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz. Soweit der Kläger seinen ursprünglich gestellten Klagantrag für die Zeit von August bis September 1941 nicht aufrecht erhalten hat, fällt dies kostenmäßig nicht ins Gewicht.
Rechtskraft
Aus
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