S 7 AS 848/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AS 848/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Das Haus Bodelschwingh in Karlsruhe ist keine stationäre Einrichtung im Sinne von § 7 Abs. 4 SGB II. Die Unterbringung dort schließt Ansprüche auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nicht aus.
Tenor: 1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 25.10.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.01.2007 verurteilt, dem Kläger ab dem 05.10.2006 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch in gesetzlicher Höhe zu gewähren. 2. Die Beklagte erstattet dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der Kläger ist seit dem ... in einer therapeutischen Wohngemeinschaft des Haus ... in Karlsruhe (Träger: Verein für evangelische Heimfürsorge e.V.) untergebracht. Die Unterbringung beruht auf einer Einweisung durch den vormals zuständigen Sozialhilfeträger, die Stadt .../ ... Der Sozialhilfeträger hatte am ... die Unterbringungskosten (Pflegesatz nach § 53 SGB XII) übernommen und außerdem einen Barbetrag zur persönlichen Verfügung von EUR 90,00 im Monat (Taschengeld) und eine Bekleidungspauschale nach dem SGB XII bewilligt (Bl. 25 f. d. Verwaltungsakte [Va.]). Er meldete am 28.09.2006 bei der Beklagten einen Erstattungsanspruch in Höhe des zu bewilligenden Arbeitslosengeldes II wegen seiner sozialhilferechtlichen Aufwendungen für den Kläger an.

Der Kläger beantragte am 05.10.2006 bei der Beklagten Leistungen nach dem SGB II. Er trug vor, er habe kein Einkommen. Am 25.10.2006 lehnte die Beklagte ab. Der Kläger sei nicht erwerbsfähig. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte am 17.01.2007 zurück, stützte sich in ihrer Begründung jedoch nicht mehr auf eine fehlende Erwerbsfähigkeit des Klägers, sondern meinte, sein Anspruch sei ausgeschlossen, weil er stationär untergebracht sei (Bl. 91 ff. d.Va.).

Am 16.02.2007 hat der Kläger Klage erhoben. Er trägt vor, er sei erwerbsfähig. Er behauptet, er könne jederzeit frei die Einrichtung verlassen und dürfe einer Erwerbstätigkeit von mindestens 15 Stunden auswärts nachzugehen. Alle Termine außerhalb der Einrichtung nehme er eigenständig wahr. Ein begleiteter Ausgang sei nur dann vorgeschrieben, wenn ein Bewohner einen Rückfall erlitten habe.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 25.10.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.01.2007 zu verurteilen, ihm ab dem 05.10.2006 Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren,

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie trägt vor, das Haus ... sei eine stationäre Einrichtung. Sie verweist insoweit auf ein Urteil der 7. Kammer des erkennenden Gerichts vom 07.08.2007 (S 7 AS 5827/06).

Das Gericht hat die Beteiligten auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 06.09.2007 (B 14/7 b AS 16/07 R) hingewiesen (Bl. 44 f. d.A.).

Das Gericht hat Beweis erhoben über die Gestaltung des Tagesablaufs des Klägers durch Vernehmung des Zeugen Wa. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 26.02.2008 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage betrifft nach der Rechtsprechung des BSG den gesamten Zeitraum seit der Antragstellung am 05.10.2006 bis zum Tag der mündlichen Verhandlung, dem 26.02.2008. Die Beklagte hat den Leistungsanspruch des Klägers insgesamt abgelehnt und ihre Ablehnung nicht auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt. Auch von Gesetzes wegen beschränkt sich eine Leistungsablehnung nach dem SGB II nicht auf einen bestimmten Zeitraum, insbesondere nicht auf die in § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II genannten sechs Monate. Diese Vorschrift betrifft lediglich die Bewilligung von Leistungen, nicht jedoch die Ablehnung. Außerdem kann der Leistungsträger heute nach § 41 Abs. 1 Satz 5 SGB II auch für mehr als sechs Monate bewilligen.

Mit diesem Gegenstand stellt sich der Antrag des Klägers als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Variante 1 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) dar.

Die Klage ist zulässig. Sie ist fristgerecht binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids vom 17.01.2007 erhoben worden. Dem Kläger fehlt auch nicht das nach § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG nötige Rechtsschutzbedürfnis, obwohl er während seines Aufenthalts im Haus ... Obdach und Verpflegung erhält und ihm außerdem die Stadt Freiburg Taschengeld und Bekleidungspauschale gewährt. Selbst wenn die Bedarfe eines erwerbsfähigen Hilfebedürftigen durch Leistungen der Sozialhilfe voll befriedigt werden, besteht ein Interesse für Klagen gegen den Leistungsträger nach dem SGB II: Nur in diesem Rechtsbereich hat ein Hilfebedürftiger Zugang zu beruflichen Eingliederungsmaßnahmen und ggf. Arbeitsgelegenheiten (§ 16 Abs. 1 und 2 SGB II). Sozialhilfebeziehern stehen derartige Ansprüche nicht zu. Dieses Interesse an staatlicher Hilfe bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt ist auch schützenswert, es fällt unter die Schutz- und Leistungsansprüche aus dem Grundrecht der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Grundgesetz (GG).

Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat für den gesamten streitigen Zeitraum gegen die Beklagte Ansprüche auf Leistungen nach dem SGB II. Der angegriffene Ablehnungsbescheid erweist sich als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

1. Der Kläger ist im medizinischen Sinne erwerbsfähig nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 8 Abs. 1 SGB II. Er ist gesundheitlich in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden arbeitstäglich erwerbstätig zu sein. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig: Die Beklagte hat im Widerspruchsbescheid anerkannt, dass gesundheitliche Gründe bei dem Kläger einer Erwerbstätigkeit nicht entgegenstehen. Auch nach dem Verfahren bestehen keine Zweifel an der Erwerbsfähigkeit: Der Zeuge Wa., der den Kläger im Haus ... betreut, hat bekundet, der Kläger sei zurzeit in der Einrichtung nahezu vollschichtig in der hauseigenen Schreinerei tätig, außerdem suche er seit einiger Zeit eine Beschäftigung außerhalb.

2. Dass der Kläger hilfebedürftig im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 9 Abs. 1 SGB II ist, bestreitet die Beklagte ebenfalls nicht. Nach Akteninhalt verfügt er nicht über Einkünfte oder Vermögen. Die Stadt Freiburg, der vormals zuständige Sozialhilfeträger, hat dem Kläger außerdem für den streitigen Zeitraum Leistungen nach dem SGB XII bewilligt. Man kann davon ausgehen, dass sie die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers überprüft hat.

3. Der Anspruch des Klägers ist auch nicht nach § 7 Abs. 4 Satz 1 Var. 1 SGB II in der seit dem 01.08.2006 geltenden Fassung des Fortentwicklungsgesetzes vom 20.07.2006 (BGBl I S. 1706) ausgeschlossen.

Nach dieser Vorschrift erhält keine Leistungen nach dem SGB II, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Hiervon sind nach § 7 Abs. 4 Satz 3 SGB II n.F. lediglich solche Hilfebedürftige ausgenommen, die sich voraussichtlich für weniger als sechs Monaten in einem Krankenhaus aufhalten oder die unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig sind. Der Kläger nun befindet sich zwar nicht in einem Krankenhaus und arbeitet auch - noch - nicht außerhalb der Einrichtung. Es fehlt jedoch bereits an den Voraussetzungen des Anspruchsausschlusses selbst. Der Kläger ist im Haus Bodelschwingh nicht stationär untergebracht.

Bei der Auslegung von § 7 Abs. 4 Satz 1 Var. 1 SGB II n.F. folgt die Kammer dem Urteil des BSG vom 06.09.2007 (B 14/7 b AS 16/07 R). Das BSG hat dort entschieden, eine Einrichtung sei nur dann stationär im Sinne des SGB II, wenn es ihren Bewohnern objektiv unmöglich sei, außerhalb einer mindestens 15 Stunden wöchentlich dauernden Erwerbstätigkeit nachzugehen. Das BSG hat sich mit seinem Urteil von der früheren Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zum Bundessozialhilfegesetz (BSHG) gelöst, wonach eine stationäre Unterbringung bereits dann vorlag, wenn die Einrichtung "von der Aufnahme des Hilfeempfängers bis zu seiner Entlassung die Gesamtverantwortung für seine Lebensführung" übernahm. In der Tat war jene alte Rechtsprechung aufzugeben. Erheblich stärker als das BSHG verfolgt neue Recht das Ziel, erwerbsfähige Hilfebedürftige wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 2, § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB II). Dies zeigt schon die Übertragung wesentlicher Teile der Aufgaben nach dem SGB II auf die Bundesagentur für Arbeit statt der Sozialhilfeträger. Das verbliebene Sozialhilferecht im SGB XII ist - zumindest was die Regelleistungen angeht - nur noch für nicht erwerbsfähige Hilfebedürftige zuständig. Grundsätzlich soll daher jeder, der arbeiten kann und bei dem für die Arbeitsverwaltung die Möglichkeit besteht, ihn in den Arbeitsmarkt einzugliedern, im Regime des SGB II verbleiben. Wenn ein Hilfebedürftiger aus einer Einrichtung heraus auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten kann und darf, gibt es keinen Grund, ihn auf das Anspruchssystem der Sozialhilfe zu verweisen. Der wesentliche Grund hierfür wurde bereits bei der Klagebefugnis des Klägers genannt: Nur nach dem SGB II kann der Hilfebedürftige jene Unterstützung verlangen, die er womöglich benötigt, um auf dem Arbeitsmarkt unterzukommen. Staatliches Ziel und persönliches - nach Art. 12 Abs. 1 GG geschütztes - Interesse des Hilfebedürftigen gebieten gleichermaßen, den Anwendungsbereich des SGB II weit zu halten.

Der Kläger nun ist objektiv in der Lage, außerhalb des Hauses ... mindestens 15 Stunden erwerbstätig zu sein. Dies hat die Aussage seines Betreuers eindrucksvoll bestätigt. Der Zeuge Wa. hat bekundet, in der Einrichtung gebe es keine Regeln, die einer Erwerbstätigkeit außerhalb entgegenständen. Er hatte darauf hingewiesen, dass es vielmehr Ziel der Einrichtung sei, ihre Patienten auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzubringen, damit diese einem geregelten Tagesablauf nachgehen könnten und lernten, ihren Lebensunterhalt wieder selbst zu sichern und auf diese Weise ein Stück weit auch ihre Krankheit in den Griff zu bekommen und wieder ein eigenständiges Leben führen zu können. Der Zeuge hat darauf hingewiesen, dass mehrere Patienten außerhalb der Einrichtung vollschichtig arbeiten. Er hat das Beispiel eines Patienten genannt, der mit einer ungekündigten Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt in die Einrichtung gekommen und diese Tätigkeit eine zeitlang weiter ausgeübt habe. Der Zeuge hat es weiter darauf hingewiesen, dass das Haus ... früher enger mit der Arbeitsverwaltung zusammen gearbeitet hat, um die Patienten zu qualifizieren und ggfs. zu vermitteln, dass aber diese Zusammenarbeit nahezu weggefallen sei, seitdem die Arbeitsverwaltung die Patienten auf das SGB XII verweise. Hierdurch sei es den Patienten erschwert worden, auf dem ersten Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. Die Aussagen des Zeugen decken sich mit dem konkreten Vortrag des Klägers. Auch er hat mitgeteilt, dass er keineswegs unter einer ständigen Betreuung liege, und seine Freizeit außerhalb der Tätigkeit in der Schreinerei frei gestalten und auch außerhalb der Einrichtung verbringen könne. Zur Arbeit in der Schreinerei letztlich hat der Zeuge Wa. mitgeteilt, der Kläger könne und solle diese jederzeit aufgeben, sobald er eine Tätigkeit außerhalb der Einrichtung erhalten habe.

4. Die Ansprüche des Klägers gegen die Beklagte nach dem SGB II sind nicht entsprechend § 362 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) durch die Leistungen nach dem SGB XII vom Haus ... und der Stadt ... erloschen. Die Leistungen nach dem SGB II gehen sozialhilferechtlichen vor (§ 21 Satz 1 SGB XII). Dass der Anspruch eines erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nicht erlischt, wenn alle seine Bedarfe nach dem SGB XII befriedigt werden, zeigt sich auch in dem Rechtsgedanken des § 95 SGB XII. Nach dieser Vorschrift kann ein Träger der Sozialhilfe, wenn er vorgeleistet hat und ihm daher ein anderer Leistungsträger die erbrachten Leistungen erstatten muss (vgl. §§ 102 ff., insbesondere § 104 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X), die Ansprüche des Hilfebedürftigen gegen den anderen Träger gerichtlich durchsetzen. Diese Ansprüche müssen also trotz der Leistungen noch bestehen.

5. § 95 SGB XII zeigt auch, dass die Ansprüche des Klägers nach dem SGB II nach wie vor ihm selbst zustehen und nicht kraft Gesetzes auf die Stadt ... übergegangen sind. Satz 1 der Vorschrift ermächtigt den Sozialhilfeträger nämlich nur, die bei dem Hilfebedürftigen verbliebenen Ansprüche geltend zu machen, also ein fremdes Recht im eigenen Namen durchzusetzen. (gesetzliche Prozessstandschaft). Dies schließt nicht aus, dass der erwerbsfähige Hilfebedürftige seine Rechte selbst einklagt.

6. Entsprechend dem Antrag war die Beklagte lediglich dem Grunde nach zur Leistung zu verurteilen (Grundurteil nach § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG). Bei der Berechnung der konkreten Zahlungsansprüche wird aber zu berücksichtigen sein, dass die Leistungen, die der Kläger von der Stadt Freiburg erhalten hat, wegen der Nachrangigkeit der Ansprüche nach dem SGB XII nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind. Hierzu gehören auch die Unterbringung und Verpflegung im Haus ..., denn diese hat die Stadt ... bezahlt. Bei dem Kläger kommt es daher nicht auf die Frage an, ob Vollverpflegung während einer stationären Unterbringung zu einer Kürzung der Regelleistung berechtigt.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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