S 4 U 1525/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 4 U 1525/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
Bei einem Arzt ist die Berufsausbildung i. S. d. § 90 Abs. 1 SGB VII mit Erhalt der Approbation abgeschlossen. Die Anerkennung einer Facharztbezeichnung schließt demgegenüber die ärztliche Weiterbildung ab.

Berechnung und Feststellung des JAV richten sich nach der Berufsausbildung und nicht nach der beruflichen Weiterbildung.
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der beklagten Berufsgenossenschaft die Neufeststellung der seiner Verletztenrente zugrunde liegenden Höhe des Jahresarbeitsverdienstes.

Der 1947 geborene Kläger erlitt am 2. Januar 1971 während seines Medizinstudiums in Schweden einen Arbeitsunfall. Wegen der Folgen des Unfalls bezog er zunächst auf der Grundlage des Bescheids der Beklagten vom 25. April 1974 Verletztenrente auf der Grundlage einer MdE von 40 vom Hundert als Vollrente. Bei der MdE blieb es. Entsprechend der vom Landessozialgericht Baden-Württemberg mit Urteil vom 5. Dezember 1979 (L 2 Ua 1135/77) für Recht erkannten und vom Bundessozialgericht mit Urteil vom 24. Juni 1981 (2 RU 11/80) bestätigten Entscheidung legte die Beklagte mit Ausführungsbescheid vom 25. September 1981 der konkreten Rentenberechnung einen Jahresarbeitsverdienst für die Zeit vom 16 Juni 1974 bis zum 31. Dezember 1976 von 36.000,- DM, für die Zeit vom 1. Januar 1977 bis zum 31. Dezember 1977 von 36.958,59 DM, für die Zeit vom 1. Januar 1978 bis zum 31. Dezember 1978 von 54.209,78 DM, für die Zeit vom 1. Januar 1979 bis zum 31. Dezember 1979 von 57.950,35 DM und für die Zeit vom 1. Januar 1980 bis auf Weiteres von 60.000,- DM zugrunde.

Unter dem 5. Juni 2009 beantragte der Kläger bei der Beklagten, ihn abzufinden. Diesem Antrag entsprach die Beklagte mit Abfindungsbescheid vom 22. Juli 2009. In diesem Bescheid gewährte die Beklagte dem Kläger auf der Grundlage einer Verletztenrente nach einer MdE von 40 vom Hundert einen Abfindungsbetrag von 56.946,33 EUR. Mit schriftlicher Erklärung vom 27. Juli 2009 erkannte der Kläger den Abfindungsbescheid als verbindlich an und verzichtete auf den gesetzlichen Rechtsbehelf des Widerspruchs.

Unter dem 1. September 2009 wandte sich der Kläger sodann erneut an die Beklagte und bat um Überprüfung des seiner Verletztenrente zugrunde gelegten Jahresarbeitsverdienstes (Assistenzarzt der Chirurgie). Dabei vertrat er die Auffassung, dass er so zu stellen sei, als hätte sich der Unfall nicht ereignet. Zum Unfallzeitpunkt, so der Kläger, habe er die Absicht gehabt, Spezialist auf dem Gebiet der kosmetisch-plastischen Chirurgie zu werden. Deshalb sei seiner Rentenberechnung ein Jahresarbeitsverdienst als kosmetisch-plastischer Chirurg und nicht als Assistenzarzt in der Chirurgie zugrunde zu legen.

Diesen Überprüfungsantrag lehnte die Beklagte im Zugunstenverfahren mit Bescheid vom 25. November 2011 ab. Dabei entschied die Beklagte eine Rücknahme des Leistungsbescheids vom 25. September 1981 und Neuberechnung der dem Kläger gewährten Verletztenrente auf der Grundlage eines höheren Jahresarbeitsverdienstes (als plastisch-kosmetischer Chirurg) sei nicht möglich. Die Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes auf der Grundlage des ortsüblichen Entgelts eines Assistenzarztes der Chirurgie habe im Fall des Klägers das Bundessozialgericht mit Urteil vom 24. Juni 1981 (2 RU 11/80) sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach rechtsfehlerfrei bestätigt. Mit Ausführungsbescheid vom 25. September 1981 sei der Jahresarbeitsverdienst, orientiert am ortsüblichen Entgelt eines Assistenzarztes der Chirurgie entsprechend dem vom Kläger erstrittenen bundessozialgerichtlichen Urteils vom Beklagten festgestellt worden. Da sich aus den Schreiben und Mitteilungen des Klägers und nach der aktuellen Rechtsprechung keinerlei neuen Tatsachen oder Erkenntnisse ergäben, die bei Erlass des Ausführungsbescheides vom 25. September 1981 nicht bereits bekannt gewesen oder berücksichtigt worden seien und keine ursprünglich nicht beachtete Tatsachen oder sonstigen Erkenntnisse vorlägen, die für eine neuerliche Entscheidung wesentlich seien, ergäben sich keine Hinweise, die für eine Unrichtigkeit der Vorentscheidung (Ausführungsbescheid vom 25. September 1981) sprächen. Damit komme dem Ausführungsbescheid vom 25. September 1981 weiter Bindungswirkung zu.

Den dagegen vom Kläger am 30. November 2011 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 2012 als unbegründet zurück.

Am 23. April 2012 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben.

Der Kläger ist weiter der Auffassung, seine Verletztenrente sei rückwirkend auf der Grundlage des Jahresarbeitsverdienstes eines plastischen Chirurgen - und nicht nur auf derjenigen eines orthopädischen Assistenzarztes - festzustellen. Ein plastischer Chirurg verdiene pro Jahr durchschnittlich 360.000,- EUR, eine Orthopäde aber nur 193.800,- EUR. Er sei nämlich nachträglich so zu stellen, wie er gestanden hätte, hätte es den Unfall nicht gegeben. Hätte es den Unfall nicht gegeben, wäre er plastischer Chirurg geworden. Sachliche Gründe, den Jahresarbeitsverdienst junger Ärzte im Widerspruch zu der tatsächlichen Entwicklung des Referenzkriteriums (Approbation) prinzipiell an ein Einkommen zu koppeln, das erwiesenermaßen bei weitem nicht dem Durchschnittseinkommen eines Arztes entspreche, gebe es nicht. Daher sehe er sich in seinen Grund- und Menschenrechten, insbesondere in seinem Anspruch auf Gleichbehandlung und Gleichheit vor dem Gesetz verletzt. Eine auf dem Gleichheitsprinzip fußende Anerkennung der völlig veränderten Relation zwischen dem Einkommen eines Arztes, der nur eine Approbation habe, und einem durchschnittlichen Arzteinkommen, sei der Sache nach nichts anderes als die notwendige Neubewertung völlig veränderter sozioökonomischer Verhältnisse analog zu der Neubewertung von Diagnosen, die es vor 100 Jahren noch nicht gegeben habe, aber auch analog zu der Neubewertung völlig veränderten sozioökonomischer Verhältnisse hinsichtlich des Scheidungsrechtes. Es sei kein sachlicher Grund ersichtlich, warum man die historische Entwicklung bei der einen Basis des Jahresarbeitsverdienstes, nämlich den neu hinzukommenden Diagnosen berücksichtige, während man die historische Entwicklung bei der anderen Basis des Jahresarbeitsverdienstes, nämlich die nicht mehr existierende Koppelung zwischen Approbation und dadurch ermöglichtem durchschnittlichen Einkommen als Arzt nicht nur während der kurzen Zeit als Medizinalassistent, sondern natürlich auch danach, als nicht existent behandelnder Punkt.

Der Kläger beantragt - soweit erkennbar - der Sache nach,

den Überprüfungsbescheid der Beklagten vom 25. November 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Februar 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, unter Abänderung ihres Ausführungsbescheids vom 25. September 1981 zu seinen Gunsten der Berechnung seiner Verletztenrente für die Zeit vom 16. Juni 1974 bis zur Rentenabfindung im Jahre 2009 und bei der Berechnung des Rentenabfindungsbetrags den Jahresarbeitsverdienst eines plastisch-kosmetischen Chirurgen zugrunde zu legen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden.

Das Gericht hat die Beteiligten zur beabsichtigten Entscheidung des Rechtsstreits durch Gerichtsbescheid mit Verfügung vom 5. Juli 2012 angehört. Die Beklagte hat sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt. Der Kläger ist dem unter Hinweis auf den Wunsch einer möglichen Verhandlung zur Vernehmung der Gegenseite entgegengetreten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der dem Gericht vorliegenden Behördenakten (3 Bände) und den Inhalt der Prozessakte (S 4 U 1525/12) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht hat den Rechtsstreit nach vorheriger Anhörung der Beteiligten gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz - SGG - durch Gerichtsbescheid entscheiden können. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Widerspruchs des Klägers zur beabsichtigten Entscheidung des Rechtsstreits durch Gerichtsbescheid. Denn das Gesetz sieht die Möglichkeit zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid auch dann vor, wenn einer der Verfahrensbeteiligten widerspricht (vgl. aktuell Sozialgericht Karlsruhe, Urteil vom 5. März 2013, S 1 U 4282/12, JURIS Rn. 15. m. w. N. und Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 1. Februar 2012, L 12 AS 2038/10, JURIS Rn. 20). Eine mündliche Verhandlung ist unter dem Gesichtspunkt des fair trial erst dann anzuordnen, wenn eine Kläger Schwierigkeiten hat, sich schriftlich verständlich zu machen und zur Sache auszudrücken, z. B. weil er Ausländer ist. All dies ist beim Kläger, einem promovierten Facharzt der Psychiatrie, ersichtlich nicht der Fall.

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

Der Bescheid der Beklagten vom 25. November 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Februar 2012 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger kann von der Beklagten nicht verlangen, zu seinen Gunsten des Ausführungsbescheid der Beklagten vom 25. September 2011 zur Berechnung seiner Verletztenrente abzuändern und den Jahresarbeitsverdienst für die Zeit vom 16. Juni 1974 bis ins Jahr 2009 (Abfindungsbescheid vom 22. Juni 2009) auf der Grundlage eines höheren Jahresarbeitsverdienstes - entsprechend dem Durchschnittseinkommen eines plastisch-kosmetischen Chirurgen - feststellen zu lassen.

Gemäß § 44 Abs. 1 SGB X sind rechtswidrige, nicht begünstigende Verwaltungsakte, auch nachdem sie unanfechtbar geworden sind, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, das bei Erlass der Verwaltungsakte das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Bestimmung ermöglicht es, von der Bindungswirkung sozialrechtlicher Verwaltungsakte bei Vorliegen neuer Tatsache und Beweismittel abzuweichen. Dafür ist vorliegend aber aus zwei unabhängig voneinander vorliegenden Gründen nichts ersichtlich:

1. Der Kläger hat sich mit der verbindlichen Annahme des Abfindungsbescheids vom 22. Juli 2009 unter Verzicht auf gesetzliche Rechtsbehelfe (schriftliche Erklärung vom 27. Juli 2009) des Überprüfungsrechts nach § 44 SGB X begeben.

Eine Verpflichtung zur Abänderung, Rücknahme oder Überprüfung des Abfindungsbescheids nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil infolge des hier nach Maßgabe von § 78 SGB VII ergangenen Abfindungsbescheides weder eine Sozialleistung nicht erbracht noch Beiträge erhoben worden sind. Auch ein rechtswidriger Abfindungsbescheid stellt nämlich nicht selbständig die Höhe der Sozialleistung fest, sondern legt deren Feststellung nur zugrunde. Auf dieser Basis regelt er lediglich die nicht teilbare begünstigende Abfindung des zuvor möglicherweise zu niedrig festgestellten Rentenanspruchs mit der Folge des Wegfalls der Rentengewährung. Damit entfallen durch den Abfindungsbescheid keine Sozialleistungen, da er diese lediglich in eine andere - gewünschte - Leistungsform umwandelt (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 28. September 1999, B 2 U 32/98 R, JURIS Rn. 31; Kranig in Hauck, SGB VII, K § 76 Rn. 20).

Eine Rücknahme nach § 44 Abs. 2 SGB X kommt ebenfalls nicht in Betracht. Der Abfindungsbescheid ist kein belastender, sondern ein ausschließlich begünstigender Verwaltungsakt, weil durch ihn das Recht auf Abfindung begründet wird (vgl. Legaldefinition in § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Zwar kann auch ein leistungsgewährender Verwaltungsakt insoweit nicht begünstigend sein, als er keine höhere Leistung gewährt. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Betroffene antragsgemäß beschieden worden ist (KassKomm-Steinwedel, § 44 SGB X Rn. 24). Mit dem Erlass dieses Abfindungsbescheides vom 22. Juli 2009 hat die Beklagte aber dem antragsgemäßen Willen des Klägers auf Abfindung der Verletztenrente entsprochen und einen Rechtszustand geschaffen, der seinerzeit ausschließlich zu seinen Gunsten wirkt (vgl. hierzu BSG, a.a.O., Rn. 32; Bayerisches LSG, Urteil vom 18. Januar 1989 - L 2 U 110/87 - HV-Info 1989, 1401 m.w.N.). Er wurde nicht angefochten und ist damit rechtsverbindlich geworden (§ 77 SGG).

Nachteile der Abfindung bestehen allerdings darin, dass auf künftige Rentenleistungen, insbesondere deren Anpassung, verzichtet wird. Die somit bestehende Doppelnatur der Entscheidung, sich für eine Abfindung zu entschließen, ist aber demjenigen, der den Antrag auf Abfindung stellt, bereits bei Antragstellung bewusst. Die Abfindung beinhaltet denknotwendig das Risiko einer geringeren Leistung gegenüber einer dauerhaften Rentengewährung. Diesen für die Zukunft gegebenenfalls eintretenden wirtschaftlichen Nachteil nimmt derjenige, der einen Antrag auf Abfindung stellt, somit in Kauf; er ist nur eine mittelbare Folge der Entscheidung dessen, der eine Abfindung beantragt. Demnach ist ein Abfindungsbescheid, jedenfalls soweit damit der Unfallversicherungsträger das Recht auf Abfindung anerkannt und dem darauf gerichteten Antrag in vollem Umfange entsprochen hat, ein allein begünstigender Verwaltungsakt (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 33 m.w.N.).

Aber auch soweit die Beklagte für die Zeit zwischen 1974 und 2009 zugunsten des Klägers mit der ihm gewährten Verletztenrente einen Sozialleistung erbracht hat, hält das Gericht eine Überprüfung des dieses Rentengewährung zugrunde liegenden Jahresarbeitsverdienstes nach § 44 SGB X infolge der klägerseitig beantragten und sodann vorbehaltlos verbindlich erklärten Abfindung für ausgeschlossen. Dabei misst das Gericht der schriftlichen Erklärung des Klägers vom 27. Juli 2009, den Abfindungsbescheid vom 22. Juli 2009 als verbindlich anzuerkennen und auf Rechtsbehelfe zu verzichten, der Sache nach den Charakter einer materiell-rechtlich wirkenden Verzichtserklärung nach § 46 Abs. 1 SGB I zu. Dafür orientiert sich das Gericht an der Rechtsprechung, der zu folge ein gerichtlicher Vergleich ausdrücklich oder konkludent zugleich einen materiell-rechtlichen Verzicht enthalten kann, der auch in Ansehung des § 46 SGB 1 Bestand hat (vgl. BSG, Urteil vom 15. Oktober 1985 - 11a RA 58/84 = SozR 2200 § 1251 Nr. 115 und Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Juli 2012, L 13 AS 500/12, JURIS Rn. 27). Ein solcher materiell-rechtlicher Verzicht in einem gerichtlichen Vergleich steht auch der Anwendung des § 44 SGB X entgegen. Nichts anders darf aus Gründen der Rechtseinheit für den hier vorliegenden Fall einer gewährten und endgültig angenommenen Abfindung gelten.

2. Unabhängig vom Vorstehenden kann das Begehren des Klägers aber auch unter Anwendung des § 44 SGB X keinen Erfolg haben. Nach der zum Zeitpunkt des Unfalls des Klägers am 2. Januar 1971 gültigen Vorschrift des § 573 Abs. 1 RVO ist der für die Berechnung einer Verletztenrente maßgebliche Jahresarbeitsverdienst von dem Zeitpunkt an neu festzusetzen, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre. Die Vorschrift des § 573 Abs. 1 RVO hat folgenden Wortlaut gehabt:

"Befand sich der Verletzte zur Zeit des Arbeitsunfalls noch in einer Schul- oder Berufsausbildung, so wird, wenn es für den Berechtigten günstiger ist, der Jahresarbeitsverdienst für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung neu berechnet. Der neuen Berechnung ist das Entgelt zugrunde zu legen, das in diesem Zeitpunkt für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarif festgesetzt oder sonst ortsüblich ist."

Diese Vorschrift entspricht inhaltlich dem heute geltenden § 90 Abs. 1 SGB VII, der folgenden Wortlaut hat:

"Tritt der Versicherungsfall vor Beginn der Schulausbildung oder während einer Schul- oder Berufsausbildung der Versicherten ein, wird, wenn es für die Versicherten günstiger ist, der Jahresarbeitsverdienst von dem Zeitpunkt an neu festgesetzt, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre. Der Neufestsetzung wird das Arbeitsentgelt zugrunde gelegt, das in diesem Zeitpunkt für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarifvertrag vorgesehen ist; besteht keine tarifliche Regelung, ist das Arbeitsentgelt maßgebend, das für derartige Tätigkeiten am Beschäftigungsort der Versicherten gilt."

Beide Vorschriften stellen eine Ausnahme von dem im Unfallversicherungsrecht geltenden Grundsatz dar, dass die Leistungen sich an dem Lebensstandard unmittelbar vor dem Eintritt des Versicherungsfalls orientieren sollen (vgl. so die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - in BSGE 31, 38, 40; 47, 137, 140, zuletzt Urteil vom 18. September 2012, B 2 U 11/11 R, JURIS Rn. 17). Grundsätzlich sind also die Verdienstverhältnisse vor dem Versicherungsfall für die Zukunft die maßgebliche Grundlage der Geldleistungen; spätere Erwerbsaussichten sind bei der Feststellung des Jahresarbeitsverdienstes regelmäßig nicht zu berücksichtigen. Lediglich, um Unbilligkeiten zu vermeiden, sollen Personen wie der Kläger, die bereits während ihrer Ausbildung - hier: während des Medizinstudiums - einen Versicherungsfall erleiden so gestellt werden, als hätten sie den Versicherungsfall nach der voraussichtlichen Beendigung der Berufsausbildung erlitten. Rechtlich entscheidend kommt es mithin darauf an, wann der Kläger seine Berufsausbildung abgeschlossen hat.

Der Begriff der Berufsausbildung wird in § 90 Abs. 1 Satz 1 SGB VII selbst nicht definiert. Seine Bedeutung muss daher aus dem Wortsinn sowie dem systematischen Zusammenhang und dem Zweck der Regelung erschlossen werden. Zu den mit § 90 Abs. 1 SGB VII inhaltlich übereinstimmenden Vorläufervorschriften des § 565 Abs. 1 RVO a.F. und später des § 573 Abs. 1 RVO hat das Bundessozialgericht wiederholt entschieden, dass ihnen ein eigenständiger Begriff der Berufsausbildung zugrunde liegt und auf die aus anderen Bereichen des Sozialrechts geläufigen Begriffsbestimmungen deshalb bei der Auslegung nicht ohne weiteres zurückgegriffen werden kann (BSGE 18, 136, 141 = SozR Nr. 5 zu § 565 RVO a.F.; SozR 2200 § 573 Nr. 2 S 3; Urteil vom 4 Dezember 1991 - 2 RU 69/90 - HV-Info 1992, 598; Urteil vom 7. Februar 2006, B 2 U 3/05 R, JURIS Rn. 15).

Nach dem Wortsinn dient eine Berufsausbildung der Vermittlung und dem Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten, die zur späteren Ausübung des Berufes benötigt werden. Daran anknüpfend hat das BSG für die Anwendung des § 90 SGB VII und seiner Vorläufervorschriften stets eine geregelte, zu einem qualifizierten beruflichen Abschluss führende Ausbildung vorausgesetzt (so z.B. BSGE 60, 258 = SozR 2200 § 573 Nr. 12 - Ausbildung zum Steuerberater und Wirtschaftsprüfer; SozR 3-2200 § 573 Nr. 2 - Ausbildung zum Bauingenieur; Urteil vom 26. März 1986 - 2 RU 32/84 = HV-Info 1986, 860 - Ausbildung zur Hauswirtschaftslehrerin; Urteil vom 4. Dezember 1991 - 2 RU 69/90 = HV-Info 1992, 598 - Ausbildung zum staatlich geprüften Landwirt). Dieses Begriffsverständnis deckt sich mit der im Berufsbildungsgesetzes (BBiG) vom 14. August 1969 (BGBl. I S. 1112), neugefasst durch Gesetz vom 23. März 2005 (BGBl. I S. 931) beschriebenen Aufgabenstellung, nach der die Berufsausbildung die für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten in einem geordneten Ausbildungsgang zu vermitteln und den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen zu ermöglichen hat (§ 1 Abs. 3 BBiG). Nicht als Berufsausbildung gewertet wurde im Gegensatz dazu eine bloße berufliche Weiterbildung zur Erlangung eines bestimmten Status oder zur Verbesserung der Qualifikation und der beruflichen Chancen und Verdienstmöglichkeiten (z.B. BSGE 12, 109 = SozR Nr. 2 zu § 565 RVO a.F. - Facharztausbildung eines approbierten Arztes; BSGE 14, 5 = SozR Nr. 3 zu § 565 RVO a.F. - Ableistung der Vorbereitungszeit für die kassenärztliche Tätigkeit; BSGE 19, 252 = SozR Nr. 6 zu § 565 a.F. - Qualifizierung eines Tarifangestellten einer Krankenkasse zum Dienstordnungs-Angestellten), und zwar auch dann nicht, wenn während der Weiterbildungsphase - vergleichbar einer Ausbildungssituation - die reguläre Berufstätigkeit unterbrochen und ein niedrigeres Entgelt bezogen wurde (BSGE 18, 136 = SozR Nr. 5 zu § 565 RVO a.F. - Promotion eines Diplom-Chemikers; Urteil vom 30. Oktober 1991 - 2 RU 61/90 = HV-Info 1992, 428 - Promotionsstudium eines Arztes). Auch diese Abgrenzung findet ihre Entsprechung im BBiG, wo zwischen Berufsausbildung auf der einen und beruflicher Fortbildung (§ 1 Abs. 4 BBiG) auf der anderen Seite unterschieden wird.

Dass der Begriff der Berufsausbildung in § 90 SGB VII und seinen Vorläufervorschriften nicht über den Wortsinn hinaus auf andere Formen beruflicher Bildung ausgedehnt werden kann, folgt auch aus dem Ausnahmecharakter der gesetzlichen Regelung, den die Rechtsprechung stets betont hat (BSGE 19, 252, 254 = SozR Nr. 6 zu § 565 RVO a.F.; BSG SozR Nr. 7 zu § 565 RVO a.F. Bl Aa 11; BSG Urteil vom 26. März 1986 - 2 RU 32/84 = HV-Info 1986, 860; BSG Urteil vom 4. Dezember 1991 - 2 RU 69/90 = HV-Info 1992, 598). Mit der Möglichkeit, bei Eintritt des Versicherungsfalls während einer Schul- oder Berufsausbildung die Bemessungsgrundlage anzuheben, weicht das Gesetz für einen Sonderfall von dem die Unfallversicherung beherrschenden Grundsatz ab, dass die Verdienstverhältnisse vor dem Arbeitsunfall für alle Zukunft die maßgebende Grundlage der Geldleistungen bleiben und spätere Erwerbsaussichten bei der Feststellung des Jahresarbeitsverdienstes nicht zu berücksichtigen sind (BSGE 31, 38, 40 = SozR Nr. 1 zu § 573 RVO; BSGE 38, 216, 218 = SozR 2200 § 573 Nr. 2 S 6; BSGE 47, 137, 140 = SozR 2200 § 573 Nr. 9 S. 26). Einzig Personen, die bereits während der Zeit der Ausbildung für einen späteren Beruf einen Arbeitsunfall erleiden und deshalb im Jahre vor dem Unfall regelmäßig noch kein Arbeitsentgelt, sondern allenfalls eine geringe Ausbildungsvergütung erhalten haben, sollen zur Vermeidung von Härten geschützt und so gestellt werden, als hätten sie den Unfall nach der voraussichtlichen Beendigung der Berufsausbildung erlitten. Eine solche genau umschriebene Ausnahmeregelung kann nicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung auf andere, vermeintlich ähnlich liegende Sachverhalte erstreckt werden.

Allerdings ist der Anwendungsbereich des § 90 SGB VII weiter als der des BBiG und erstreckt sich auch auf Bereiche der beruflichen Bildung, für die dieses Gesetz nicht oder nur eingeschränkt gilt, wie etwa die Hochschulausbildung oder die Ausbildung in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis oder in einem Handwerksberuf (vgl. § 3 BBiG).

An diesem gesetzlichen Maßstab orientiert, ist die Ausbildung zum Arzt nach der Rechtsprechung mit der Erteilung der Approbation abgeschlossen (vgl. zuletzt ausführlich Landessozialgericht Berlin Brandenburg, Urteil vom 1. November 2010, L 3 U 59/10, JURIS, Rn. 37 ff). Die Bundesärzteordnung geht von einem einheitlichen Beruf des Arztes aus. Dem entsprechend stellt weder der Amtsarzt noch der Facharzt oder ein sonstiger, sich einem speziellen Tätigkeitsbereich widmende Arzt, einen besonderen Beruf im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz dar. Die Approbation ist die staatliche Erlaubnis zur Ausübung eines akademischen Heilberufs. Mit der Erteilung der Approbation besteht die Berechtigung eigenverantwortlich Patienten zu behandeln und sich in freier Praxis niederzulassen. Die Approbation bedeutet hingegen nicht sogleich die Berechtigung gesetzlich versicherte Patienten zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ambulant zu behandeln. Das Recht der ärztlichen Weiterbildung liegt an der Schnittstelle zwischen dem Berufszugangsrecht des Arztes und der Berufsausübung. Begrifflich endet indes die Ausbildung zum Arzt nach der Bundesärzteordnung (§ 3 Abs. 1 Bundesärzteordnung) mit der Erteilung der Approbation. Im Anschluss hieran beginnt die berufsbegleitende Phase der ärztlichen Weiterbildung. An deren Ende steht die Anerkennung einer Facharztbezeichnung. Die Approbation schließt also die ärztliche Ausbildung ab. Die Anerkennung einer Facharztbezeichnung schließt demgegenüber die ärztliche Weiterbildung ab. Während die Ausbildung zum Arzt ein Basiswissen vermitteln soll, aufgrund dessen die Berufsausübung der Heilkunde am Menschen unter der Bezeichnung Arzt oder Ärztin gestattet wird, dient die Facharztausbildung allein einer Spezialisierung allgemeinärztlichen Fachwissens auf einem eingegrenzten Fachgebiet. Deshalb ist der Facharzt im Verhältnis zum Arzt auch kein besonderer eigener Beruf, sondern lediglich eine Ausprägung des einheitlichen Arztberufes. Rechtlich fällt die ärztliche Weiterbildung als Teil der Berufsausübung in die Kompetenz des Landesgesetzgebers, während die Ausbildung und damit das Berufszugangsrecht in die Regelungskompetenz des Bundes fällt (vgl. Bundesverfassungsgericht BVerfGE 33, 125 ff - "Facharztbeschluss" - ).

Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung des Klägers auch nicht aus europäischem Recht. Zum einen sind die Begrifflichkeiten der einschlägigen Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rates 2005/36/EG vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. L 255 vom 30. September 2005, S. 22) nicht identisch mit dem in § 573 Abs. 1 RVO/§ 90 Abs. 1 SGB VII verwandten Begriff des Ausbildung. Darüber hinaus verhält sich die EG-Richtlinie jedenfalls ausdrücklich nicht dazu, wann eine ärztliche Ausbildung abgeschlossen ist. In Art. 24 ff. der Richtlinie werden lediglich Mindestanforderungen festgelegt, bei deren Erfüllung z. B. eine gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen erfolgen muss und die Dienst- und Niederlassungsfreiheit gewährt ist. Im Gegenteil, die Art. 29 und 30 der Richtlinie beschäftigen sich explizit mit der Ausübung der Tätigkeit des praktischen Arztes - also des Arztes, der sich nach der Approbation nicht zum Facharztarzt weitergebildet hat - und dessen besonders erworbenen Rechten. Dies deutet darauf hin, auch nach europäischem Recht die ärztliche Ausbildung mit der Approbation für beendet zu halten.

Wenn der Kläger demgegenüber darauf hinweist, dass ein wirtschaftliches Überleben als Arzt ohne Facharztqualifikation praktisch nicht möglich sei, so mag es der ökonomischen Vernunft entsprechen, eine Facharztqualifikation zu erlangen. Allein dies rechtfertigt es jedoch nicht, die Erlangung der Facharztqualifikation der Ausbildung im Sinne von § 573 Abs. 1 RVO und/oder § 90 Abs. 1 SGB VII zuzuordnen. Denn die Sicherung oder Verbesserung von Verdienstmöglichkeiten gehört nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 7. Februar 2006, B 2 U 3/05 R, JURIS, Rn. 16 unter Hinweis auf ältere Rechtsprechung, BSGE 12, 109, Facharztausbildung eines approbierten Arztes) nicht zur Ausbildung. In diesem Zusammenhang ist nochmals auf den Ausnahmecharakter von § 573 Abs. 1 RVO und § 90 Abs. 1 SGB VII zu verweisen, der nur eine enge Auslegung des Begriffs "Ausbildung" gestattet. Zum anderen ist eine Berufsausübung als Arzt ohne Facharztqualifikation keineswegs unmöglich oder nur ausnahmsweise möglich. Denn über die Niederlassung als kassenärztlicher Vertragsarzt hinaus bestehen vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten in Gesundheitsämtern, bei Sozialversicherungsträgern, bei Versorgungsämtern, beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen, bei privaten Krankenversicherungen sowie bei anderen Versicherungen, in medizinischen Rehabilitationseinrichtungen, in Laboratorien, in der medizinischen Forschung, in der Pharmabranche, im Verlagswesen, im Verbandswesen der Ärzte und anderenorts. Darüber hinaus kann eine niedergelassene privatärztliche Tätigkeit ausgeübt werden. Hier ist auch eine Kombination mit anderen - angestellten - Tätigkeiten denkbar. Auch stellt die Tätigkeit als Assistenzarzt - auch wenn sie regelmäßig nicht auf Lebenszeit, so doch auf einige Jahre, ausgeführt wird - grundsätzlich eine vollwertige Tätigkeit dar.

Wenn somit bei einem Assistenzarzt, der einen Arbeitsunfall erleidet, bei der Verletztenrente nicht berücksichtigt werden kann, ob dieser noch eine Weiterbildung zum Facharzt plante, kann dies erst recht nicht für jemanden gelten, der sich, wie der Kläger, zum Zeitpunkt des Unfalls noch im Studium befunden hat. Daher kommt es rechtlich erheblich auch nicht darauf an, ob die Mehrheit der niedergelassenen Ärzte in Deutschland über eine Facharztausbildung verfügt oder nicht. Beweiserhebungen in dieser Richtung sind mangels Entscheidungserheblichkeit nicht veranlasst gewesen.

Aus dem Vorstehenden ergibt sich zugleich, dass der Kläger durch den angefochtenen Bescheid auch nicht in seinem allgemeinen Gleichheitsrecht (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt worden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
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