S 68 KR 990/16

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Dortmund (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
68
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 68 KR 990/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 537/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klägerin wird verurteilt, der Beklagten 4.520,93 EUR nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz sei dem 10. September 2016 zu zahlen. Die Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten jeweils zur Hälfte. Der Streitwert wird auf 4.520,93 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Vergütung einer stationären Krankenhausbehandlung streitig. Am 18. Mai 2012 nahm das Krankenhaus X, dessen Trägerin die Klägerin ist, die am 2. Oktober 1958 geborene L (Versicherte) zur stationären Behandlung auf. Für die bis zum 13. Juni 2012 erfolgte Behandlung forderte sie von der Beklagten, bei der die Versicherte während der stationären Behandlung gesetzlich krankenversichert war, unter Abrechnung der Fallpauschale DRG I34Z (geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung) 10.811,35 EUR. Zu der Fallpauschale gelangte sie über die Kodierung des OPS-Kodes 8-550.1 (geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung: Mindestens 14 Behandlungstage und 20 Therapieeinheiten). Die Beklagte erfüllte die Forderung und wies die Klägerin mit Schreiben vom 23. März 2016 darauf hin, dass sie die geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung aufgrund des Alters der Versicherten nicht habe kodieren dürfen und forderte 4.520,93 EUR zurück. Sie verrechnete den Betrag mit unstreitigen Forderungen der Klägerin. Mit der im Juni 2016 erhobenen Klage hat die Klägerin diesen Betrag geltend gemacht. Die Beklagte hat die Klageforderung anerkannt und mit Schriftsatz vom 1. September 2016 Widerklage erhoben, mit der sie den geleisteten Betrag in Höhe von 4.520,93 EUR für die Behandlung der Versicherten im Jahre 2012 zurückfordert. Das Gericht hat am 7. September 2016 die Widerklageschrift der Klägerin übermittelt. Die Klägerin hat das Anerkenntnis angenommen. Die Widerklägerin trägt vor, dass der OPS-Kode 8-550.1 nicht zu kodieren gewesen sei, weil die Versicherte im Zeitpunkt der Behandlung 53 Jahre alt war. Sie verweist auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 23. Juni 2015, B 1 KR 21/14 R. Die Widerklägerin beantragt die Klägerin und Widerbeklagte zu verurteilen, ihr 4.520,93 EUR nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Zustellung des Widerklageantrages zu zahlen. Die Widerbeklagte beantragt, die Widerklage abzuweisen. Die Widerbeklagte trägt vor, die Widerklägerin habe in Kenntnis ihrer Nichtschuld geleistet, weil sie das Alter der Versicherten im Zeitpunkt der Aufnahme gekannt habe. Sie habe zudem darauf vertrauen dürfen, dass die Widerklägerin keine Rückforderung geltend macht, die bis zu der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 23. Juni 2015 für die Anerkennung einer geriatrischen frührehabilitativen Komplexbehandlung nie ein starres Mindestalter gefordert habe. Schließlich habe die Widerklägerin hier eine Auffälligkeitsprüfung nach Ablauf der nach § 275 Abs. 1 c Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) maßgeblichen Sechswochenfrist vorgenommen. Hinsichtlich der näheren Einzelheiten wird auf die Inhalte der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Widerklägerin Bezug genommen. Das Gericht hat die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht hat den Rechtsstreit gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der entscheidungserhebliche Sachverhalt geklärt ist. Die zulässige Widerklage ist begründet. Die nach § 100 SGG zulässige Widerklage ist als Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG im Gleichordnungsverhältnis zwischen einem Krankenhausträger und einer Krankenkasse statthaft. Es bedurfte keines Vorverfahrens oder Einhaltung einer Klagefrist. Der Widerklägerin steht der geltend gemachte Rückzahlungsanspruch zu (1). Der Anspruch ist weder verwirkt (2) noch steht seiner Durchsetzung § 275 Abs. 1c Satz 2 SGB V entgegen (3). 1. Rechtsgrundlage des Rückzahlungsanspruchs ist ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch. Dieses aus den allgemeinen Grundsätzen des öffentlichen Rechts hergeleitete Rechtsinstitut setzt voraus, dass im Rahmen eines öffentlichen Rechtsverhältnisses Leistungen ohne rechtlichen Grund erbracht oder sonstige rechtsgrundlose Vermögensverschiebungen vorgenommen worden sind. Dabei gelten ähnliche Grundsätze wie im Recht der ungerechtfertigten Bereicherung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§§ 812 ff BGB). Ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis liegt hier vor, denn die Rechtsbeziehungen zwischen Krankenkasse und Krankenhaus sind öffentlich-rechtlicher Natur, vgl. § 69 Satz 3 SGB V. Durch die Erfüllung der Forderung der Widerbeklagten für die Behandlung der Versicherten leistete die Widerklägerin im Rahmen eines solchen Rechtsverhältnisses ohne Rechtsgrund den Teilbetrag in Höhe der Klageforderung. Rechtsgrundlage des Vergütungsanspruchs der Widerbeklagten ist der Versorgungsvertrag nach § 109 SGB V. Eine Krankenkasse ist im Verhältnis zum Krankenhausträger allein aus dem Versorgungsvertrag und den einzelnen Behandlungsverträgen Schuldnerin der Vergütungsansprüche und Gläubigerin der Erstattungsansprüche bei Überzahlungen (Urteil des Bundessozialgerichts vom 28. Februar 2007, B 3 KR 12/06 R, Rn 15). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entsteht die Zahlungsverpflichtung einer gesetzlichen Krankenkasse unabhängig von einer Kostenzusage unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den bei ihr versicherten Patienten. Der Behandlungspflicht der zugelassenen Krankenhäuser im Sinne des § 109 Abs. 4 Satz 2 SGB V steht ein Vergütungsanspruch gegenüber, wenn die Versorgung nach § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V erforderlich war. Der Höhe nach folgt der Anspruch aus § 109 Abs. 4 Satz 3 SGB V i.V.m. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) und der Anlage 1 zu der Vereinbarung zu dem Fallpauschalensystem für Krankenhäuser für das Jahr 2012 (Fallpauschalenvereinbarung 2012 – FPV 2012) nach § 17b Abs. 1 des Gesetzes zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze (Krankenhausfinanzierungsgesetz - KHG). Mit den Entgelten nach § 7 Abs. 1 Satz 1 KHEntgG werden alle für die Versorgung des Patienten erforderlichen allgemeinen Krankenhausleistungen vergütet, § 7 Abs. 1 Satz 2 KHEntgG. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 KHEntgG werden die allgemeinen Krankenhausleistungen gegenüber den Patienten oder ihren Kostenträgern mit verschiedenen, näher bezeichneten Entgelten abgerechnet. Einschlägig ist vorliegend die Abrechnung von Fallpauschalen nach dem auf Bundesebene vereinbarten Entgeltkatalog, § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 9 KHEntgG. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 der FPV 2012 werden die Fallpauschalen jeweils von dem die Leistung erbringenden Krankenhaus nach dem am Tag der Aufnahme geltenden Fallpauschalenkatalog und den dazu gehörenden Abrechnungsregeln abgerechnet. Zur Einstufung in die jeweils abzurechnende Fallpauschale sind Programme (Grouper) einzusetzen, die vom DRG-Institut der Selbstverwaltungspartner nach § 17b Abs. 2 des KHG zertifiziert sind, § 1 Abs. 6 Satz 1 der FPV 2012. Ausgehend hiervon ist der streitige Behandlungsfall mit der DRG I08F zu vergüten, aus der ein in Höhe der Widerklageforderung sich ergebender Differenzbetrag zu der von der Widerbeklagten abgerechneten Fallpauschale resultiert. Zu der Fallpauschale DRG I08F führt die Kodierung der zwischen den Beteiligten unstreitigen Diagnosen und Prozeduren ohne Berücksichtigung des OPS-Kodes 8-550.1 für die geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung. Die geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung ist nur für Patienten ab Vollendung des 60. Lebensjahrs vorgesehen (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 23. Juni 2015, B 1 KR 21/14 R). Dem Anspruch steht nicht die rechtshindernde Einwendung entsprechend § 814 BGB entgegen. Danach kann das zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete unter anderem nicht zurückgefordert werden, wenn der Leistende gewusst hat, dass er zur Leistung nicht verpflichtet war. Zahlt eine Krankenkasse vorbehaltlos auf eine Krankenhausrechnung, kann sie deshalb mit der Rückforderung ganz ausgeschlossen sein, wenn sie positiv gewusst hat, dass sie zur Leistung nicht verpflichtet war (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 30. Juni 2009, B 1 KR 24/08 R). Die Widerklägerin hat nicht in Kenntnis ihrer Nichtschuld geleistet. Die Kenntnis des Alters der Versicherten bedeutet nicht, dass die Widerklägerin positiv wusste, dass sie zu der Zahlung der Forderung in der streitigen Höhe nicht verpflichtet war. 2. Die Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs steht unter dem Vorbehalt von Treu und Glauben nach § 242 BGB, der über § 69 SGB V auch für die Rechtsbeziehungen der Beteiligten gilt (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 18. Juli 2013, B 3 KR 22/12 R). Das Rechtsinstitut der Verwirkung leitet sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ab. Eine Verwirkung setzt voraus, dass ein Zeitmoment (a) und ein Umstandsmoment (b) erfüllt sind. a) Seit der Möglichkeit, das Recht geltend zu machen, muss ein längerer Zeitraum verstrichen sein. Ob dies hier der Fall war, kann dahingestellt bleiben, da es an dem Umstandsmoment fehlt. b) Das Umstandsmoment setzt voraus, dass der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde und der Verpflichtete hat tatsächlich darauf vertraut, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 13. November 2012, B 1 KR 24/11 R mit weiteren Nachweisen). Das Verwirkungsverhalten setzt grundsätzlich ein aktives Tun voraus, an dem es hier fehlt. Es ist weder ersichtlich noch vorgetragen welches Verhalten der Widerklägerin in Betracht kommt, das in einem Bezug zu der zwischen den Beteiligten streitigen Forderung steht. Die Widerklägerin hat nach ihrem unwidersprochenen Vortrag zudem keine Forderungen der Widerbeklagten für die Erbringung geriatrischer frührehabilitativer Komplexbehandlungen für unter 60jährige erfüllt. Es ist fernerhin weder ersichtlich noch vorgetragen, durch welches Vertrauensverhalten der Widerbeklagten eine Situation entstanden sein soll, die zu einem unzumutbaren Nachteil für sie führen würde, wenn sie den Rückforderungsanspruch befriedigt. 3. Der ungenutzte Ablauf der Sechs-Wochen-Frist des § 275 Abs. 1c Satz 2 SGB V bewirkt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteile des Bundessozialgerichts vom 13. November 2012, B 1 KR 27/11 R, vom 19. April 2016, B 1 KR 33/15 R) schon vom rechtlichen Ansatz her keinen Einwendungsausschluss. Er führt lediglich dazu, dass Krankenkasse und MDK bei einzelfallbezogenen Auffälligkeitsprüfungen nach Ablauf der Frist auf die Daten beschränkt sind, die das Krankenhaus der Krankenkasse im Rahmen seiner Informationsobliegenheiten bei der Krankenhausaufnahme und zur Abrechnung - deren vollständige Erfüllung vorausgesetzt - jeweils zur Verfügung gestellt hat. Dies hindert das Krankenhaus nach Fristablauf nicht daran, dem MDK angeforderte Sozialdaten aus freien Stücken zur Verfügung zu stellen. Es ist bloß berechtigt, entsprechende Anforderungen zu verweigern und ggf. abzuwehren. Ebenso bleibt das Recht der Krankenkasse unberührt, für eine Prüfung andere zulässige Informationsquellen zu nutzen. Der ungenutzte Ablauf der Frist des § 275 Abs. 1c Satz 2 SGB V hindert hingegen die Krankenkassen nicht, die Abrechnung des Krankenhauses auf dieser Grundlage wegen Auffälligkeit zu prüfen.

Der Zinsanspruch folgt dem Grunde nach aus § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V i.V.m. den §§ 288 Abs. 1 Satz 1, 291 Satz 1 BGB. Der Höhe nach folgt der Zinsanspruch aus § 15 Abs. 1 Satz 4 des Vertrages nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V – Allgemeine Bedingungen der Krankenhausbehandlung – zwischen der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen und den Landesverbänden der Krankenkassen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und trägt dem Umstand Rechnung, dass die Klägerin und die Beklagte im selben Umfang obsiegt haben. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus den §§ 3 Abs. 1, 52 Abs. 1, 63 Abs. 2 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG). Die Klage- und Widerklageforderung sind nach § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG nicht zusammenzurechnen, da die Ansprüche denselben Gegenstand betreffen.
Rechtskraft
Aus
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