S 1 U 3232/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 1 U 3232/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Erhebung der Verjährungseinrede steht im Ermessen des Sozialleistungsträgers.

Fehler der Behörde sind bei der Zulässigkeit der Erhebung der Verjährungseinrede unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben und im Übrigen im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigen.

Nicht jedes staatliche Unrecht, sondern nur eine grobe, besonders krasse Pflichtwidrigkeit des Sozialleistungsträgers macht die Erhebung der Verjährungseinrede ermessenfehlerhaft.
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Verletztenrente wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls vom 14.02.1985 auch für die Zeit vom 28.11.2002 bis zum 31.12.2007 als sogenannte Stützrente. Streitig ist dabei allein, ob sich die Beklagte insoweit zu Recht auf den Eintritt von Verjährung berufen hat.

Der 1949 geborene Kläger geriet am 14.02.1985 während seiner Tätigkeit als Lagerverwalter mit dem rechten Fuß unter die Abstützpratzen eines Baggers. Dabei zog er sich neben Hautverletzungen am rechten Fuß Frakturen im Grundglied der Zehen IV und V zu. In der Folge kam es zu einer Amputation beider Zehen unter Mitresektion der jeweiligen Mittelfußköpfchen. Arbeitsfähigkeit trat am 23.04.1985 wieder ein. Nachdem wegen der Unfallfolgen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von wenigstens 20 v.H. nicht in Betracht kam und auch keine weitere ärztlichen Behandlungsmaßnahmen wegen der Unfallfolgen stattfanden, schloss die Rechtsvorgängerin der Beklagten den Vorgang ab und vernichtete nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist die Aktenunterlagen.

Im Februar 1990 erstatte der HNO-Arzt Dr. S. der Beklagten eine Anzeige über den Verdacht einer berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit des Klägers. Gestützt auf ein Gutachten des HNO-Arztes Prof. Dr. St. anerkannte die Beklagte zwar einen geringgradigen Hochtonhörverlust beidseits als Folge einer Berufskrankheit (BK) der Nummer 2301, lehnte die Gewährung von Verletztenrente indes mit der Begründung ab, die BK-Folgen rechtfertigten keine MdE in rentenberechtigendem Ausmaß (Bescheid vom 27.11.1990).

Von Amts wegen in der Folgezeit durchgeführten Nachuntersuchungen ergaben insoweit zunächst kein abweichendes Ergebnis (vgl. u.a. Mitteilung der Beklagten vom 02.12.2005). Nach Einholung eines weiteren Gutachtens der HNO-Ärztin Prof. Dr. P. lehnte die Beklagte erneut die Gewährung von Verletztenrente wegen der Folgen der Lärmschwerhörigkeit ab (Bescheid vom 08.09.2011).

Im Rahmen des dagegen erhobenen Widerspruchs wies der Kläger auf die Möglichkeit eines Stützrententatbestands unter Berücksichtigung u.a. der Folgen des Arbeitsunfalls vom 14.02.1985 hin (Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 17.01.2012). Hierzu veranlasste die Beklagte eine Untersuchung und Begutachtung des Klägers durch den Orthopäden Dr. Sch. (Gutachten vom 16.11.2012). Dieser bewerte die MdE wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom Februar 1985 mit 15 v.H ... Nach Einholung einer beratungsärztlichen Stellungnahme des Chirurgen Dr. J. und verwaltungsinterner Auswertung des Gutachtens lehnte die Beklagte die Gewährung von Verletztenrente mit der Begründung ab, die Unfallfolgen (Amputation der IV. und V. Zehe unterhalb des Mittelfußköpfchens) begründeten keine MdE in rentenberechtigendem Ausmaß (Bescheid vom 11.12.2012).

Im nachfolgendem Widerspruchsverfahren, zu dessen Begründung der Kläger u.a. auf einen Stützrententatbestand aufgrund der Folgen der anerkannten Lärmschwerhörigkeit hinwies, hob die Beklagte nach weiterer medizinischer Sachaufklärung den Bescheid vom 11.12.2012 auf und stellte fest, aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls vom 14.02.1985 sei ein Stützrententatbestand verblieben (Bescheid vom 18.04.2013).

Nachdem die Beklagte durch Bescheid vom 23.01.2014 unter der Annahme des Eintritts des Versicherungsfalls am 28.11.2002 wegen der Folgen der anerkannten Lärmschwerhörigkeit ab dem 01.01.2007 Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 10 v.H. der Vollrente bewilligt hatte - für die Zeit bis zum 31.12.2006 berief sie sich auf den Eintritt von Verjährung -, gewährte sie dem Kläger durch weiteren Bescheid vom 06.02.2014 auch wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 14.02.1985 Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 10 v.H. für die Zeit ab dem 01.01.2008. Für die Zeit zuvor berief sie sich auf den Eintritt von Verjährung. Auch unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers seien keine Umstände ersichtlich, die gegen die Erhebung der Einrede der Verjährung für die Zeit vor dem 01.01.2008 sprächen. Diese Entscheidung ergehe nach pflichtgemäßem Ermessen.

Mit seinem dagegen erhobenen Widerspruch beanstandete der Kläger die Erhebung der Einrede der Verjährung für die Zeit vor dem 01.01.2008. Wegen des Fehlverhaltens und einer nicht ausreichenden Beratung der Beklagten sei deren Ermessen reduziert und die Erhebung der Verjährungseinrede ausgeschlossen. Die Beklagte bzw. deren Rechtsvorgängerin sei bereits von Anfang an, mithin auch bereits während des Feststellungsverfahrens zu der berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit, über den Arbeitsunfall informiert gewesen. Da die unfallbedingte MdE bereits seit dem 23.04.1985 in Höhe von 10 v.H. bestehe, sei dies auch zum 28.11.2002, dem Eintritt des Versicherungsfalls bezüglich der BK Nr. 2301, bekannt gewesen. Gleichwohl habe die Beklagte keine Aufklärung und Prüfung in Bezug auf das Vorliegen eines Stützrententatbestandes vorgenommen. Mit Blick auf den Grundsatz von Treu und Glauben sei deshalb die Erhebung der Verjährungseinrede ausgeschlossen. Überdies habe bereits der HNO-Arzt Prof. Dr. St. in seinem Gutachten vom November 2005 die MdE für die anerkannte Lärmschwerhörigkeit mit 10 v.H. bewertet. Auch insoweit habe die Beklagte nachfolgend keine umfassende Prüfung und Amtsermittlung durchgeführt, weshalb sich der Anspruch auf Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom Februar 1985 für die Zeit vor dem 01.01.2008 auch aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ergebe. Insbesondere habe die Beklagte die Aktenunterlagen zu seinem Arbeitsunfall nicht abschließen und weglegen dürfen, ohne durch einen entsprechenden Vermerk die Beachtung des Arbeitsunfalls in der Folgezeit beim Auftreten weiterer Versicherungsfälle zu gewährleisten. Soweit die Beklagte in ihren Unterlagen allein den Unfall als solchen mit der Ursprungsdiagnose, jedoch ohne Hinweis auf die unfallbedingte MdE von wenigstens 10 v.H. hinterlegt habe, belege dies ebenfalls eine fehlerhafte Bearbeitung. Außerdem hätten sich Hinweise auf die Zehenamputation im Zuge der Bearbeitung der Verdachtsanzeige bezüglich der Lärmschwerhörigkeit aus dem Schreiben seiner Krankenkasse vom 08.03.1990 wie auch aus dem Gutachten des Prof. Dr. St. vom November 2005 ergeben. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 01.09.2014).

Deswegen hat der Kläger am 26.09.2014 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben, mit der er sein Begehren weiter verfolgt. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Widerspruchsvorbringen. Zur Stützung seines Klagebegehrens legt er darüber hinaus zahlreiche weitere Arztunterlagen vor.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 06. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. September 2014 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 14. Februar 1985 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 10 v.H. der Vollrente auch für die Zeit vom 28. November 2002 bis zum 31. Dezember 2007 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie erachtet die angefochtenen Bescheide für zutreffend.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakte der Beklagten sowie den der Prozessakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 4 und § 56 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)) zulässig, aber unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Zu Recht hat sich die Beklagte wegen der Gewährung von Verletztenrente für die hier streitige Zeitspanne auf den Eintritt von Verjährung berufen.

1.) Nach § 56 Abs. 1 Sätze 2 und 3 des Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) besteht, wenn die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten in Folge mehrerer Versicherungsfälle gemindert ist und die vom Hundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen, für jeden Versicherungsfall Anspruch auf Verletztenrente, sofern die Folgen eines Versicherungsfalls die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger - dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig und nicht zweifelhaft - auch für die hier streitige Zeit vom 28.11.2002 bis zum 31.12.2007. Denn seine Erwerbsfähigkeit wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 14.02.1985 wird schon angesichts der Art der Unfallfolgen (Amputationsfolge) bereits seit dem Zeitpunkt des Wiedereintritts von Arbeitsfähigkeit am 23.04.1985 um 10 v. H. gemindert. Außerdem ist seine Erwerbsfähigkeit wegen der Folgen der als BK anerkannten Lärmschwerhörigkeit seit dem 28.11.2002 um weitere 10 v. H. gemindert, wie sich aufgrund des Bescheides vom 23.01.2014 und des Gutachtens des Dr. S. vom 13.12.2002 ergibt.

Dennoch steht dem Kläger der mit der Klage geltend gemachte Anspruch nicht zu. Denn die Beklagte hat sich hinsichtlich der Rentenzahlungen für die Zeit vor dem 01.01.2008 zu Recht auf den Eintritt von Verjährung berufen.

2.) Gemäß § 45 Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs - Allgemeiner Teil - (SGB I) verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen in vier Jahren nach Ablauf des Jahres, in dem sie entstanden sind. Bei der durch den Bescheid vom 06.02.2014 zuerkannten Verletztenrente verjährt nicht das sogenannte Stammrecht, sondern der einzelne auf die zurückliegende Zeit entfallende Leistungsanspruch (ständige Rechtsprechung, vgl. bereits BSGE 34, 1, 4 und 79, 177, 178; ferner Wagner in jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, § 45, Rdnr. 17 mit weiteren Nachweisen; Rolfs in Hauck/Noftz, SGB I, § 45, Rdnr. 6 und Seewald in Kasseler Kommentar, Stand: Dezember 2014, § 45 SGB I, Rdnr. 9). Als der Kläger in seinem Schriftsatz vom 17.01.2012 zur Begründung seines Widerspruchs gegen den Bescheid vom 08.09.2011 erstmals auf das Vorhandensein eines Stützrenten-Tatbestandes hingewiesen hatte, waren die Leistungsansprüche bezüglich des Arbeitsunfalls vom 14.02.1985 für die Zeit bis zum 31.12.2007 gem. § 45 Abs. 1 SGB I bereits verjährt. Eine Hemmung, Ablaufhemmung oder der Neubeginn der Verjährung gem. § 45 Absätze 2 und 3 Satz 1 SGB I liegt hier ersichtlich nicht vor.

a) Die Beklagte hat sich auch wirksam auf den Eintritt von Verjährung berufen. Die Erhebung dieser Einrede steht nach allgemeiner Meinung im Ermessen des Leistungsträgers (vgl. BSG SozR 3-1200 § 45 Nr. 2; Wagner, a.a.O. Rdnr. 45 mit weiteren Nachweisen sowie BeckOK SozR/Gutzler, Stand: Dezember 2014, § 45 SGB I, Rdnr. 19). Dies bedeutet, dass der Leistungsträger Ermessenserwägungen nach den Grundsätzen des § 39 SGB I anstellen und seine Entscheidung entsprechend begründen muss (§ 35 Abs. 1 Satz 3 des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren -). Die Entscheidung muss mithin erkennen lassen, dass dem Sozial¬leistungsträger bewusst war, eine Ermessensentscheidung zu treffen, welche Gesichtspunkte er bei der Ausübung des Ermessens berücksichtigt und wie er diese gewichtet hat. Ist ein Ermessen auszuüben, ist wegen des Grundsatzes der sparsamen Haushaltsführung (§ 69 Abs. 2 des Sozialgesetzbuchs - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV)) und auch aus Gründen der Gleichbehandlung regelmäßig die Verjährungseinrede zu erheben (vgl. BeckOK SozR/Gutzler, a.a.O., Rdnr. 20). Hiervon ausgehend ist die Ermessensentscheidung der Beklagten im Bescheid vom 06.02.2014 nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat ausdrücklich erwähnt, dass sie über die Einrede der Verjährung in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens entschieden habe. Zur Begründung hat sie - in noch ausreichendem Maße - angeführt, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse und wirtschaftlichen Situation des Klägers keine Umstände erkennbar sind, die gegen die Erhebung der Einrede der Verjährung für die Zeit vor dem 01.01.2008 sprechen, und sich unter Würdigung der Gesamtumstände keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass sie das Ermessen fehlerhaft ausübe. Daraus wird erkennbar, dass die Beklagte den Akteninhalt gewürdigt hat. Insbesondere bot sich vorliegend an, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers zu prüfen (vgl. insoweit Seewald, a.a.O., Rdnr. 30).

Aus den Verwaltungsakten der Beklagten ist indes nicht erkennbar, dass sich der Kläger in beengten wirtschaftlichen Verhältnissen befände. Denn er bezieht seit dem 01.02.2012 von der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen, die nach dem Bescheid vom 13.12.2011 seinerzeit mit monatlich 1.373,60 EUR (netto) zur Auszahlung gelangte. Damit bedeutet die Berufung der Beklagten auf den Eintritt von Verjährung und in der Folge ihre Verweigerung der Renten(nach)zahlung für die Zeit vom 28.11.2002 bis zum 31.12.2007 für den Kläger keine besondere Härte (vgl. hierzu LSG Nordrhein-Westfalen vom 20.11.1988 - L 2 BU 42/83 - und Seewald, a.a.O., Rdnr. 34). Es ist auch weder vorgetragen noch aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens sonst ersichtlich, dass die Erhebung der Verjährungseinrede für den Kläger mit sonstigen wirtschaftlichen Nachteilen verbunden ist, die über den mit jedem Eintritt von Verjährung verbundenen Verlust eines Zahlungsanspruchs hinausgehen.

b) Behördenfehler sind bei der Zulässigkeit der Erhebung der Verjährungseinrede unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben (§ 242 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) und im Übrigen im Rahmen der Ermessensausübung ebenfalls zu berücksichtigen (vgl. BSGE 79, 177 ff.). Allerdings hindert nicht jedes staatliche Unrecht den Verjährungseintritt (vgl. Wagner a.a.O., Rdnr. 51 und Seewald, a.a.O., Rdnr. 31 und 35). Vielmehr macht ausschließlich eine grobe, besonders krasse Pflichtwidrigkeit eines Leistungsträgers die Erhebung der Verjährungseinrede Ermessens fehlerhaft (vgl. BSGE 62, 10, 16 f. und 62, 96, 98 sowie BeckOK SozR/Gutzler, a.a.O., Rdnr. 20), z.B. bei arglistiger oder vorsätzlicher Herbeiführung der Verjährung (vgl. BSGE 20, 262, 265) oder wenn sich die Behörde mit der Verjährungseinrede in Widerspruch zu eigenem früheren Verhalten setzt (vgl. Seewald, a.a.O., Rdnr. 33).

Eine solche grobe, besonders krasse Pflichtwidrigkeit auf Seiten der Beklagten liegt hier nicht vor.

aa) Zwar hatte die Beklagte die Verwaltungsvorgänge zu dem Arbeitsunfall des Klägers vom 14.02.1985 abgeschlossen, offenbar ohne zuvor einen Bescheid über die Folgen dieses Arbeitsunfalls und die Höhe der unfallbedingten MdE zu erteilen, und die Verwaltungsakte nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist vernichtet. Allein hieraus ergibt sich indes keine grobe, besonders krasse Pflichtwidrigkeit, die der Berufung auf den Eintritt von Verjährung vorliegend entgegenstünde. Denn das Vernichten von Verwaltungsakten nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist stellt für sich bereits kein Verschulden der Beklagten dar. Überdies hatte die Beklagte den Arbeitsunfall vom 14.02.1985 in ihren Grunddaten mit der Ursprungsdiagnose aus dem Durchgangsarztbericht des Prof. Dr. Kummer vom Unfalltag (Fraktur des 4. und 5. Zehs des rechten Fußes) elektronisch hinterlegt. Allein aus dieser Diagnose ist eine verbleibende unfallbedingte MdE von wenigstens 10 v. H. indes nicht erkennbar und lag eine entsprechende Entscheidung der Beklagten ersichtlich auch nicht vor. Eine generelle Verpflichtung, jeden in ihren Grunddaten hinterlegten Versicherungsfall beim Eintritt eines weiteren Versicherungsfalls ohne konkreten Anhalt für das Vorliegen eines eventuellen Stützrenten-Tatbestands erneut in die Sachbearbeitung aufzunehmen, besteht aus Sicht des erkennenden Gerichts für einen Unfallversicherungsträger allerdings nicht.

bb) Ungeachtet der im Zuge des im Februar 1990 eingeleiteten Verfahrens auf Feststellung einer berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit zu den Verwaltungsakten der Beklagten gelangten Vorerkrankungsbescheinigung der Krankenkasse des Klägers vom 08.03.1990 und des darin unter anderem enthaltenen Vermerks "Schnittwunde, Fußkontusion, Zehenamputation, Zehenverletzung" war auch im Zusammenhang mit den übrigen nach Aktenlage noch vorhanden gewesenen medizinischen Unterlagen aus dem Jahr 1985 für die Beklagte nicht von vornherein auf eine durch die Folgen des Arbeitsunfalls vom Februar 1985 verbliebene unfallbedingte MdE von 10 v. H. zu schließen. Dagegen sprach insbesondere der Umstand, dass das Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse insoweit allein eine nur kurzzeitige Dauer von Arbeitsunfähigkeit zwischen dem 14.02. und dem 22.04.1985 enthielt, wie auch, dass offenbar in der Folgezeit wegen der Fußamputation auch keine weitere ärztliche Behandlung des Klägers erforderlich war. Außerdem enthält das Vorerkrankungsverzeichnis selbst keinen Hinweis auf das Vorliegen eines Arbeitsunfalls.

cc) Auch der Hinweis im Gutachten des Prof. Dr. St. vom 20.11.2005 auf eine berufsbedingte Zehenamputation bot allein für sich der Beklagten keinen Anlass, insoweit einen Stützrenten-Tatbestand zu prüfen, nachdem der Kläger selbst gegenüber Prof. Dr. St. eine "anderweitige berufsbedingte MdE" ausdrücklich verneint hatte.

dd) Nach Auffassung der Kammer bestand auch im Zusammenhang mit den weiteren von der Beklagten von Amts wegen durchgeführten Nachuntersuchungen des Klägers in Bezug auf die bereits durch den Bescheid vom 27.11.1990 anerkannte berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit kein Anlass, den Arbeitsunfall vom 14.02.1985 als möglichen Stützrenten-Tatbestand wieder aufzugreifen, nachdem sämtliche Gutachter eine BK-bedingte MdE lediglich um 10 v. H., und damit in nicht rentenberechtigender Höhe, bestätigt hatten. Soweit Dr. S. in seinem Gutachten vom 17.01.2005 eine BK-bedingte MdE um 20 v. H. angenommen hatte, ist dem die Beklagte aufgrund der Annahme, der Kläger sei seit dem Jahr 2003 nicht mehr lärmbedingt tätig gewesen, weshalb eine nachfolgende Verschlechterung seines Hörvermögens nicht mehr ursächlich auf berufsbedingte Lärmeinwirkungen zurückzuführen sei, nicht gefolgt, wie sich aus deren Schreiben an den Kläger vom 02.12.2005 ergibt.

ee) Der Kläger selbst hatte erstmals im Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 17.01.2012 zur Begründung seines Widerspruchs gegen den die Zahlung von Verletztenrente wegen der BK-Nr. 2301 versagenden Bescheid der Beklagten vom 08.09.2011 auf einen zudem nur möglichen Stützrenten-Tatbestand wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 14.02.1985 hingewiesen. Bis zu diesem Zeitpunkt mangelte es aus den vorgenannten Gründen auch aus Sicht des erkennenden Gerichts damit an objektiven Befunden oder Anknüpfungstatsachen, die geradezu zwingend der Beklagten Anlass geboten hätten, in eine erneute Sachprüfung zur Feststellung einer unfallbedingten MdE von wenigstens 10 v. H. "einzusteigen". Soweit die Beklagte diese Prüfung deshalb erst im August 2012 durch Mitteilung über die beabsichtigte Einholung eines Gutachtens unter Benennung dreier Ärzte zur Auswahl als Gutachter eingeleitet hatte, liegt darin keine grobe, besonders krasse Pflichtwidrigkeit, die die Erhebung der Verjährungseinrede vorliegend als ermessensfehlerhaft erscheinen ließe.

3.) Deshalb sind, da Fehler in der Berechnung der Verjährungsfrist vorliegend weder vorgetragen noch ersichtlich sind, die Ansprüche des Klägers auf Zahlung von Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 14.02.1985 für die Zeit vor dem 01.01.2008 verjährt.

4.) Der Kläger kann sich vorliegend auch nicht mit Erfolg auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch berufen. Das richterrechtliche Institut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs setzt voraus, dass ein Sozialleistungsträger eine ihm gegenüber einem Berechtigten obliegende Nebenpflicht aus dem Sozialversicherungsverhältnis verletzt, dem Berechtigten dadurch ein unmittelbarer (sozialrechtlicher) Nachteil oder Schaden entsteht und zwischen der Pflichtverletzung und dem Nachteil oder Schaden ein Ursachenzusammenhang vorliegt. Der Herstellungsanspruch ist grundsätzlich auf die Vornahme der Amtshandlung gerichtet, die den möglichen und rechtlich zulässigen Zustand erreicht, der ohne die Pflichtverletzung eingetreten wäre (ständige Rechtsprechung, vgl. unter anderem BSG SozR 4-2600 § 58 Nr. 3 und a.a.O. § 236 Nr. 1; BSG SozR 4-2700 § 140 Nr. 1; BSG SozR 4-2500 § 192 Nr. 5 und BSG vom 11.12.2014 - B 11 AL 2/14 R - und vom 16.12.2014 - B 1 KR 19/14 R (jeweils juris)). Eine solche Verletzung von Nebenpflichten kann sich insbesondere aus der Verletzung des § 14 Satz 1 SGB I ergeben, nach dem jeder Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch hat. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch kann auch aus der Verletzung des § 15 Abs. 2, zweiter Halbsatz SGB I folgen, demzufolge sich die Auskunftspflicht der Auskunftsstelle auf alle Sach- und Rechtsfragen erstreckt, die für die Auskunftssuchenden von Bedeutung sein können und zu deren Beantwortung die Auskunftsstelle imstande ist.

Ob in diesem Sinne eine Verletzung von Nebenpflichten der Beklagten gegenüber dem Kläger in Bezug auf eine Auskunft/Beratung über das Vorliegen eines eventuellen Stützrenten-Tatbestands vorliegt, kann das Gericht offenlassen. Denn über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch kann der Kläger ebenfalls keine Zahlung von Verletztenrente für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 14.02.1985 für eine Zeit vor dem 01.01.2008 erreichen. Dem steht die entsprechende Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X entgegen (vgl. hierzu unter anderem BSG SozR 4-1300 § 44 Nr. 9 und BSG, UV-Recht Aktuell 2014, 721 ff; Steinwedel in Kasseler Kommentar, § 44 SGB X, Rdnr 53 und Waschull in Diering/Timme/Waschull SGB X, 3. Auflage 2011, § 44, Rdnr. 67 mit weiteren Nachweisen). Nach dieser Bestimmung werden, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist, Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen ist. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.

Ausgehend von dem "Rücknahmeantrag" des Klägers im Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 17.01.2012 sind deshalb auch über einen sozialhilferechtlichen Herstellungsanspruch rückwirkend keine Leistungen - hier: Verletztenrente - für eine Zeit vor dem 01.01.2008 zu erbringen. Denn die Verletzung einer Nebenpflicht kann nicht weiterreichende Folgen haben als die Verletzung der Hauptpflicht (vgl. BSG SozR 3-1200 § 14 Nr. 31).

5.) Aus eben diesen Gründen sind die angefochtenen Bescheide rechtmäßig und musste das Begehren des Klägers erfolglos bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Absätze 1 und 4 SGG.
Rechtskraft
Aus
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