Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 10 R 3/13
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 134/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 13 R 50/18 B
Datum
Kategorie
Urteil
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der 1955 in Marokko geborene Kläger absolvierte eine Ausbildung zum Lehrer und war für drei Jahre in diesem Beruf tätig. Er flüchtete 1980 als politischer Aktivist nach Deutschland, der Asylantrag wurde 1984 genehmigt. In Deutschland arbeitete der Kläger nach Anerkennung des Asyls circa 3 Jahre als Lagerarbeiter in einem Lebensmittelgroßhandel, daraufhin ein Jahr als Eisenbieger. Zuletzt war er bis zum 23.10.1992 in einem Supermarkt als Arbeiter beschäftigt. Bis zu einem durch ihn begangenem Tötungsdelikt im Jahr 2001 bezog der Kläger Arbeitslosenhilfe. 2002 wurde er zu einer Haftstrafe von 12 Jahren verurteilt.
Aus dem Versicherungsverlauf folgt, dass der Kläger bis zum 30.04.2003 zuletzt wegen des Bezuges von Entgeltersatzleistungen Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung zahlte.
Der Kläger beantragte am 10.11.2011 bei der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Mit Bescheid vom 02.12.2011 lehnte die Beklagte den Antrag ab, da der Kläger in den letzten fünf Jahren vor der Rentenantragstellung keine drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit habe und auch keine Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten sei, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt sei.
Hiergegen legte der Kläger am 23.12.2011 Widerspruch ein.
Laut Stellungnahme des medizinischen Sachverständigen nach Aktenlage, Dr. C., vom 04.07.2012 liegen bei dem Kläger die folgenden Gesundheitsbeeinträchtigungen vor:
1. Dissoziale Persönlichkeitsstörung im Rahmen einer langjährigen Inhaftierung
2. Prostatahyperplasie
3. Hämorrhoidalleiden I. Grades.
Im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilung stellte der Gutachter fest, dass der Kläger mittelschwere Arbeiten sechs Stunden und mehr mit Einschränkungen verrichten könne.
Der Widerspruch ist mit Widerspruchsbescheid vom 25.09.2012 zurückgewiesen worden.
Hiergegen hat der Kläger am 12.10.2012 Klage vor dem Sozialgericht Marburg erhoben.
Mit Verweisungsbeschluss vom 17.12.2012 ist der Rechtsstreit an das örtlich zuständige Sozialgericht Kassel verwiesen worden.
Der Kläger ist im Wesentlichen der Ansicht, er sei bereits seit seiner Inhaftierung im Jahr 2002 erwerbsgemindert.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid vom 02.12.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.09.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm auf seinen Antrag vom 10.11.2011 eine Rente wegen Erwerbsminderung in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte vertritt im Wesentlichen die Auffassung, für eine Rente wegen Erwerbsminderung seien weder die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch die medizinischen Voraussetzungen erfüllt. Im maßgeblichen Zeitraum vom 10.11.2006 bis 09.11.2011 habe der Kläger keine Pflichtbeiträge.
Das Gericht hat bei den behandelnden Ärzten des Klägers Befundberichte von Amts wegen sowie ein psychiatrisch-psychosomatisches Gutachten bei Dr. D. nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholt. In seinem Gutachten vom 27.10.2013 diagnostizierte Dr. D. aufgrund einer Untersuchung des Klägers am 11.10.2013 die folgenden Gesundheitsbeeinträchtigungen:
1. Schizotype Persönlichkeitsstörung mit schizoid-paranoiden und antisozialen Anteilen, leichte kognitive Störungen
2. Zustand nach Drogen-Abhängigkeit 1990 bis 2001 mit Dealen (Heroin, Kokain)
3. Zustand nach Verdacht auf Drogenpsychose 1975 in Marokko mit Psychiatrie-Aufenthalt bei übermäßigem Hasch-Konsum
4. Vorübergehende psychotische Störung
5. Schizotype Persönlichkeitsstörung mit emotionalen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten und aufgehobener individueller Belastbarkeit und Kompensationsfähigkeit der Struktur
6. Leichtgradige obstruktive Lungenfunktionsstörung
7. Zustand nach Prostata-OP in 2009 mit leichtgradiger Inkontinenz (Vorlage)
8. Zustand nach Tbc-Erkrankung 1983.
Im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilung stellte der Gutachter fest, dass der Kläger leichte bis mittelschwere Arbeiten weniger als 3 Stunden verrichten könne. Er habe keine ausreichenden Fähigkeitsmerkmale zum situationsadäquaten Denken und Handeln bei unterschiedlichen körperlichen, psychischen und sozialen Belastungen im Arbeitsprozess und deren Flexibilität. Das festgestellte Leistungsvermögen bestehe seit der Inhaftnahme im Jahr 2001. Da die spezifische Persönlichkeitsstörung und ihre emotionalen und sozialen Beeinträchtigungen schon zu Beginn der Haftzeit vorgelegen hätten, wie von Dr. E. diagnostiziert, und sich während der Haftzeit die Symptome und Verhaltensauffälligkeiten nicht verändert hätten, müsse der Leistungsfall mit einem aufgehobenen Leistungsvermögen für den allgemeinen Arbeitsmarkt zum Zeitpunkt der Inhaftnahme in 2001 angenommen werden. Der davor liegende Zeitraum sei schwer überschaubar, vor allem da keine ärztlichen Befunde vorliegen würden. Es sei bei Art, Schwere und Komplexität der Persönlichkeitsstörung und der Suchterkrankung unwahrscheinlich, dass die festgestellte Minderung des Leistungsvermögens behoben werden könne.
Mit Schreiben vom 27.02.2014 nahm die Beklagte dahingehend Stellung, dass sich zusammenfassend nicht mit der nötigen Sicherheit ein unter dreistündiges Leistungsvermögen belegen lasse. Gesetzt den Fall, dieses wäre nachvollziehbar, wäre die Datierung zumindest ungeklärt und schlussendlich erst auf den Untersuchungstag, den 11.10.2013, zu beziehen.
Daraufhin nahm Dr. D. mit Schreiben vom 14.04.2014 u.a. dahingehend ergänzend Stellung, dass bezüglich der Rückdatierung nach nochmaliger Recherche durchaus gesicherte Anhaltspunkte dafür ergäben, dass das Leistungsvermögen nicht erst zu Beginn der Haftzeit 2001 bestanden habe, sondern bereits 1992.
Aus einer weiteren Stellungnahme der Beklagten vom 24.07.2014 folgt, dass im Jahr 2002 die jetzige Vereinzelung nicht beschrieben sei. Für eine Rückdatierung in das Jahr 1992 sprächen offenkundig die akzentuierten Persönlichkeitszüge und die Suchtentwicklung. Es gäbe jedoch keine tragbaren Brückenpfeiler für eine Rückdatierung oder ärztliche Dokumente, die diesen Zeitrahmen abstecken würden. Es wurde angeregt, Dr. E. zu der Frage, wie das Leistungsvermögen des Klägers insbesondere im Zeitraum bis März 2005 einzuschätzen sei, zu hören. Diesem widersprach der Kläger.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Beklagtenakten, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig aber unbegründet.
Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 02.12.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.09.2012 ist zu Recht ergangen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen (voller oder teilweiser) Erwerbsminderung.
Gemäß § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1. voll erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI auch
1. Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und
2. Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.
Erwerbsgemindert ist der Vorschrift des § 43 Abs. 3 SGB VI zufolge nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI unter den gleichen Voraussetzungen diejenigen Versicherten, die teilweise erwerbsgemindert sind.
Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI).
Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen nicht, da er zum Zeitpunkt des Eintritts des Leistungsfalls die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt.
Im maßgeblichen Zeitraum vor der Rentenantragstellung am 10.11.2011 bzw. vor der Begutachtung durch Dr. D. am 11.10.2013 hat der Kläger jedoch keinen Monat mit Pflichtbeiträgen.
Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich nach § 43 Abs. 4 SGB VI um folgende Zeiten, die nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind:
1. Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit,
2. Berücksichtigungszeiten,
3. Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach Nummer 1 oder 2 liegt,
4. Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung. Aus dem Versicherungsverlauf ergeben sich derartige Zeiten nicht.
Darüber hinaus ist nach § 43 Abs. 5 SGB VI eine Pflichtbeitragszeit von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nicht erforderlich, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist.
Ein solcher Tatbestand liegt nach § 53 SGB VI nicht vor.
Nach § 241 Abs. 2 SGB VI sind Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit vor Eintritt der Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit (§ 240) für Versicherte nicht erforderlich, die vor dem 1. Januar 1984 die allgemeine Wartezeit erfüllt haben, wenn jeder Kalendermonat vom 1. Januar 1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit (§ 240) mit
1. Beitragszeiten,
2. beitragsfreien Zeiten,
3. Zeiten, die nur deshalb nicht beitragsfreie Zeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag, eine beitragsfreie Zeit oder eine Zeit nach Nummer 4, 5 oder 6 liegt,
4. Berücksichtigungszeiten,
5. Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder
6. Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts im Beitrittsgebiet vor dem 1. Januar 1992
(Anwartschaftserhaltungszeiten) belegt ist oder wenn die Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit (§ 240) vor dem 1. Januar 1984 eingetreten ist. Für Kalendermonate, für die eine Beitragszahlung noch zulässig ist, ist eine Belegung mit Anwartschaftserhaltungszeiten nicht erforderlich.
Der Kläger hat vor dem 01.01.1984 die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt. Die Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit ist auch nicht vor dem 01.01.1984 eingetreten.
Bei einem bereits im Oktober 1992 (Ende der letzten versicherungspflichtig ausgeübten Beschäftigung) eingetretenen Leistungsfall, wie von Dr. D. angenommen, wäre die allgemeine Wartezeit von 60 Kalendermonaten gem. § 50 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI nicht erfüllt, denn es liegen nur 58 Monate vor. Gründe für die Erfüllung des Tatbestands der vorzeitigen Wartezeiterfüllung nach § 53 SGB VI sind nicht ersichtlich. Ferner sind statt 240 Kalendermonaten nur 182 Monate im Sinne des § 43 Abs. 6 SGB VI vorhanden.
Für den Nachweis eines bereits vor der Untersuchung durch Dr. D. aufgehobenen Leistungsvermögens in der Zeit vom 01.12.1992 bis 31.03.2005, als die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt waren, im Sinne eines Vollbeweises müsste diese Tatsache für die Kammer mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen. Eine Tatsache ist erst dann bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG vom 17. April 2013 - B 9 V 3/12 R - Juris-Rn. 34). Liegen gewichtige Zweifel vor, ist der Beweis nicht geführt (BSG vom 24. November 2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris-Rn. 21). Bei der Feststellung eines bestimmten Leistungsvermögens für die Vergangenheit bedarf es einer nachvollziehbaren Begründung des Sachverständigen unter Rückgriff auf medizinische Erfahrungssätze oder auf vorliegende Vorbefunde.
Dieser Nachweis ist dem Kläger nicht gelungen.
Dr. D. führt hierzu aus, dass die spezifische Persönlichkeitsstörung und ihre emotionalen und sozialen Beeinträchtigungen schon zu Beginn der Haftzeit vorgelegen hätten, wie von Dr. E. diagnostiziert, und sich während der Haftzeit die Symptome und Verhaltensauffälligkeiten nicht verändert hätten und der Leistungsfall mit einem aufgehobenen Leistungsvermögen für den allgemeinen Arbeitsmarkt zum Zeitpunkt der Inhaftnahme in 2001 angenommen werden müsse. Der davor liegende Zeitraum sei schwer überschaubar, vor allem da keine ärztlichen Befunde vorliegen würden. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 14.04.2014 kam Dr. D. schließlich zu dem Schluss, dass bezüglich der Rückdatierung nach nochmaliger Recherche sich durchaus gesicherte Anhaltspunkte dafür ergäben, dass das Leistungsvermögen nicht erst zu Beginn der Haftzeit 2001 bestanden habe, sondern bereits 1992. Es zeige sich bis 1992 eine gescheiterte Anpassung der Persönlichkeit des Klägers an die sozialen Normen. In der Persönlichkeitsdiagnostik sei ausgeführt, dass der Kläger zwischen 1986 und 1992 beruflich und privat scheiterte und nie mehr eine Integration in den Arbeitsmarkt gelang.
Dem Nachweis eines über den langen Zeitraum seit 1992 bzw. 2001 durchgängig vorliegenden verminderten Leistungsvermögens des Klägers steht jedoch entgegen, dass Dr. D. selber einräumt, dass der Zeitraum vor 2001 schwer überschaubar sei, vor allem da keine ärztlichen Befunde vorliegen würden. Gerade bei einem psychiatrischen Gutachten gehört aber die zeitnahe persönliche Begegnung mit dem Probanden unter Einschluss eines explorierenden Gesprächs zu den für eine zuverlässige Leistungsbeurteilung unverzichtbaren Zentralaufgaben des Sachverständigen (vgl. BSG SozR 1500 § 128 Nr. 24). Eine rückschauende Beurteilung, die nicht auf solchen zeitnah gewonnenen eigenen Eindrücken des Sachverständigen beruht, erweist sich demgegenüber bei Erkrankungen des psychiatrischen Fachgebiets selbst dann als hochgradig fehlergeneigt, wenn auf einschlägige Fremdbefunde zurückgegriffen werden kann. Aber auch diese liegen gerade nicht in ausreichendem Maße vor.
Es ist zudem zu berücksichtigen, dass der Kläger nie in regelrechter ambulant-psychiatrischer Behandlung war. Vor Inhaftnahme stellte er sich in der psychiatrischen Ambulanz der Universität Gießen vor. Im Rahmen des Strafverfahrens wurde er vom Psychiater Dr. E. begutachtet und auch in Gießen und Butzbach betreut, aber nur selten. In der Haft nahm er nie ein sozialtherapeutisches oder sozialpädagogisches Gespräch wahr, nahm nie an suchttherapeutischen Gruppen teil und zog sich immer in die Haftzelle zurück, so dass kaum Aufzeichnungen über seinen Gesundheitszustand existieren. Zum anderen ergibt sich aber aus den eingeholten medizinischen Unterlagen nicht, dass der Kläger bereits seit 1992 oder zumindest seit 2001, als die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch erfüllt waren, durchgängig erwerbsgemindert war. Dr. F. diagnostizierte in seinem Befundbericht vom 26.06.2002 eine posttraumatische Belastungsstörung. Aus einem psychologisches Zusatzgutachten vom 20.12.2002, Dr. G., folgt, dass der Kläger die Nächte gut schlafe und sich normal leistungsfähig fühle. Es bestehe die Tendenz, ungewöhnlich viele Probleme und Schwierigkeiten anzugeben und es gäbe keine Hinweise auf hirnorganische Beeinträchtigungen, gravierende Intelligenzdefizite oder starke psychopathologische Symptome. Laut Bericht des psychologischen Dienstes der Justizvollzugsanstalt Gießen vom 30.01.2003 habe sich der Kläger in der Justizvollzugsanstalt der Gruppe H. angeschlossen und sei im Gespräch mit der hiesigen Drogenberatung. Das Verhältnis zu den Mitgefangenen sei gut. Laut psychiatrischem Sachverständigengutachten vom 12.02.2003, Dr. E., bestehe eine gemischte Persönlichkeitsstörung mit schizotypischen und Borderline Anteilen. Schließlich diagnostizierte Dr. E. laut Befundbericht vom 04.07.2013 nach mehrjähriger Beobachtung des Klägers nur eine dissoziale Persönlichkeitsstörung. Simulation oder Aggravation hätten sehr nahe gelegen, so dass sie seine Diagnosen relativiert hätten. Weitere Befunde liegen nicht vor. Aber selbst aus den in den vorliegenden Befundberichten genannten Diagnosen folgt keine Einschätzung zum zeitigen Leistungsvermögen des Klägers seit dem Jahr 1992 bzw. 2001.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und die Rechtsmittelbelehrung ergibt sich aus § 143 SGG.
2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der 1955 in Marokko geborene Kläger absolvierte eine Ausbildung zum Lehrer und war für drei Jahre in diesem Beruf tätig. Er flüchtete 1980 als politischer Aktivist nach Deutschland, der Asylantrag wurde 1984 genehmigt. In Deutschland arbeitete der Kläger nach Anerkennung des Asyls circa 3 Jahre als Lagerarbeiter in einem Lebensmittelgroßhandel, daraufhin ein Jahr als Eisenbieger. Zuletzt war er bis zum 23.10.1992 in einem Supermarkt als Arbeiter beschäftigt. Bis zu einem durch ihn begangenem Tötungsdelikt im Jahr 2001 bezog der Kläger Arbeitslosenhilfe. 2002 wurde er zu einer Haftstrafe von 12 Jahren verurteilt.
Aus dem Versicherungsverlauf folgt, dass der Kläger bis zum 30.04.2003 zuletzt wegen des Bezuges von Entgeltersatzleistungen Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung zahlte.
Der Kläger beantragte am 10.11.2011 bei der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Mit Bescheid vom 02.12.2011 lehnte die Beklagte den Antrag ab, da der Kläger in den letzten fünf Jahren vor der Rentenantragstellung keine drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit habe und auch keine Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten sei, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt sei.
Hiergegen legte der Kläger am 23.12.2011 Widerspruch ein.
Laut Stellungnahme des medizinischen Sachverständigen nach Aktenlage, Dr. C., vom 04.07.2012 liegen bei dem Kläger die folgenden Gesundheitsbeeinträchtigungen vor:
1. Dissoziale Persönlichkeitsstörung im Rahmen einer langjährigen Inhaftierung
2. Prostatahyperplasie
3. Hämorrhoidalleiden I. Grades.
Im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilung stellte der Gutachter fest, dass der Kläger mittelschwere Arbeiten sechs Stunden und mehr mit Einschränkungen verrichten könne.
Der Widerspruch ist mit Widerspruchsbescheid vom 25.09.2012 zurückgewiesen worden.
Hiergegen hat der Kläger am 12.10.2012 Klage vor dem Sozialgericht Marburg erhoben.
Mit Verweisungsbeschluss vom 17.12.2012 ist der Rechtsstreit an das örtlich zuständige Sozialgericht Kassel verwiesen worden.
Der Kläger ist im Wesentlichen der Ansicht, er sei bereits seit seiner Inhaftierung im Jahr 2002 erwerbsgemindert.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid vom 02.12.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.09.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm auf seinen Antrag vom 10.11.2011 eine Rente wegen Erwerbsminderung in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte vertritt im Wesentlichen die Auffassung, für eine Rente wegen Erwerbsminderung seien weder die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch die medizinischen Voraussetzungen erfüllt. Im maßgeblichen Zeitraum vom 10.11.2006 bis 09.11.2011 habe der Kläger keine Pflichtbeiträge.
Das Gericht hat bei den behandelnden Ärzten des Klägers Befundberichte von Amts wegen sowie ein psychiatrisch-psychosomatisches Gutachten bei Dr. D. nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholt. In seinem Gutachten vom 27.10.2013 diagnostizierte Dr. D. aufgrund einer Untersuchung des Klägers am 11.10.2013 die folgenden Gesundheitsbeeinträchtigungen:
1. Schizotype Persönlichkeitsstörung mit schizoid-paranoiden und antisozialen Anteilen, leichte kognitive Störungen
2. Zustand nach Drogen-Abhängigkeit 1990 bis 2001 mit Dealen (Heroin, Kokain)
3. Zustand nach Verdacht auf Drogenpsychose 1975 in Marokko mit Psychiatrie-Aufenthalt bei übermäßigem Hasch-Konsum
4. Vorübergehende psychotische Störung
5. Schizotype Persönlichkeitsstörung mit emotionalen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten und aufgehobener individueller Belastbarkeit und Kompensationsfähigkeit der Struktur
6. Leichtgradige obstruktive Lungenfunktionsstörung
7. Zustand nach Prostata-OP in 2009 mit leichtgradiger Inkontinenz (Vorlage)
8. Zustand nach Tbc-Erkrankung 1983.
Im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilung stellte der Gutachter fest, dass der Kläger leichte bis mittelschwere Arbeiten weniger als 3 Stunden verrichten könne. Er habe keine ausreichenden Fähigkeitsmerkmale zum situationsadäquaten Denken und Handeln bei unterschiedlichen körperlichen, psychischen und sozialen Belastungen im Arbeitsprozess und deren Flexibilität. Das festgestellte Leistungsvermögen bestehe seit der Inhaftnahme im Jahr 2001. Da die spezifische Persönlichkeitsstörung und ihre emotionalen und sozialen Beeinträchtigungen schon zu Beginn der Haftzeit vorgelegen hätten, wie von Dr. E. diagnostiziert, und sich während der Haftzeit die Symptome und Verhaltensauffälligkeiten nicht verändert hätten, müsse der Leistungsfall mit einem aufgehobenen Leistungsvermögen für den allgemeinen Arbeitsmarkt zum Zeitpunkt der Inhaftnahme in 2001 angenommen werden. Der davor liegende Zeitraum sei schwer überschaubar, vor allem da keine ärztlichen Befunde vorliegen würden. Es sei bei Art, Schwere und Komplexität der Persönlichkeitsstörung und der Suchterkrankung unwahrscheinlich, dass die festgestellte Minderung des Leistungsvermögens behoben werden könne.
Mit Schreiben vom 27.02.2014 nahm die Beklagte dahingehend Stellung, dass sich zusammenfassend nicht mit der nötigen Sicherheit ein unter dreistündiges Leistungsvermögen belegen lasse. Gesetzt den Fall, dieses wäre nachvollziehbar, wäre die Datierung zumindest ungeklärt und schlussendlich erst auf den Untersuchungstag, den 11.10.2013, zu beziehen.
Daraufhin nahm Dr. D. mit Schreiben vom 14.04.2014 u.a. dahingehend ergänzend Stellung, dass bezüglich der Rückdatierung nach nochmaliger Recherche durchaus gesicherte Anhaltspunkte dafür ergäben, dass das Leistungsvermögen nicht erst zu Beginn der Haftzeit 2001 bestanden habe, sondern bereits 1992.
Aus einer weiteren Stellungnahme der Beklagten vom 24.07.2014 folgt, dass im Jahr 2002 die jetzige Vereinzelung nicht beschrieben sei. Für eine Rückdatierung in das Jahr 1992 sprächen offenkundig die akzentuierten Persönlichkeitszüge und die Suchtentwicklung. Es gäbe jedoch keine tragbaren Brückenpfeiler für eine Rückdatierung oder ärztliche Dokumente, die diesen Zeitrahmen abstecken würden. Es wurde angeregt, Dr. E. zu der Frage, wie das Leistungsvermögen des Klägers insbesondere im Zeitraum bis März 2005 einzuschätzen sei, zu hören. Diesem widersprach der Kläger.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Beklagtenakten, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig aber unbegründet.
Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 02.12.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.09.2012 ist zu Recht ergangen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen (voller oder teilweiser) Erwerbsminderung.
Gemäß § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1. voll erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI auch
1. Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und
2. Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.
Erwerbsgemindert ist der Vorschrift des § 43 Abs. 3 SGB VI zufolge nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI unter den gleichen Voraussetzungen diejenigen Versicherten, die teilweise erwerbsgemindert sind.
Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI).
Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen nicht, da er zum Zeitpunkt des Eintritts des Leistungsfalls die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt.
Im maßgeblichen Zeitraum vor der Rentenantragstellung am 10.11.2011 bzw. vor der Begutachtung durch Dr. D. am 11.10.2013 hat der Kläger jedoch keinen Monat mit Pflichtbeiträgen.
Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich nach § 43 Abs. 4 SGB VI um folgende Zeiten, die nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind:
1. Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit,
2. Berücksichtigungszeiten,
3. Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach Nummer 1 oder 2 liegt,
4. Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung. Aus dem Versicherungsverlauf ergeben sich derartige Zeiten nicht.
Darüber hinaus ist nach § 43 Abs. 5 SGB VI eine Pflichtbeitragszeit von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nicht erforderlich, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist.
Ein solcher Tatbestand liegt nach § 53 SGB VI nicht vor.
Nach § 241 Abs. 2 SGB VI sind Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit vor Eintritt der Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit (§ 240) für Versicherte nicht erforderlich, die vor dem 1. Januar 1984 die allgemeine Wartezeit erfüllt haben, wenn jeder Kalendermonat vom 1. Januar 1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit (§ 240) mit
1. Beitragszeiten,
2. beitragsfreien Zeiten,
3. Zeiten, die nur deshalb nicht beitragsfreie Zeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag, eine beitragsfreie Zeit oder eine Zeit nach Nummer 4, 5 oder 6 liegt,
4. Berücksichtigungszeiten,
5. Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder
6. Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts im Beitrittsgebiet vor dem 1. Januar 1992
(Anwartschaftserhaltungszeiten) belegt ist oder wenn die Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit (§ 240) vor dem 1. Januar 1984 eingetreten ist. Für Kalendermonate, für die eine Beitragszahlung noch zulässig ist, ist eine Belegung mit Anwartschaftserhaltungszeiten nicht erforderlich.
Der Kläger hat vor dem 01.01.1984 die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt. Die Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit ist auch nicht vor dem 01.01.1984 eingetreten.
Bei einem bereits im Oktober 1992 (Ende der letzten versicherungspflichtig ausgeübten Beschäftigung) eingetretenen Leistungsfall, wie von Dr. D. angenommen, wäre die allgemeine Wartezeit von 60 Kalendermonaten gem. § 50 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI nicht erfüllt, denn es liegen nur 58 Monate vor. Gründe für die Erfüllung des Tatbestands der vorzeitigen Wartezeiterfüllung nach § 53 SGB VI sind nicht ersichtlich. Ferner sind statt 240 Kalendermonaten nur 182 Monate im Sinne des § 43 Abs. 6 SGB VI vorhanden.
Für den Nachweis eines bereits vor der Untersuchung durch Dr. D. aufgehobenen Leistungsvermögens in der Zeit vom 01.12.1992 bis 31.03.2005, als die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt waren, im Sinne eines Vollbeweises müsste diese Tatsache für die Kammer mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen. Eine Tatsache ist erst dann bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG vom 17. April 2013 - B 9 V 3/12 R - Juris-Rn. 34). Liegen gewichtige Zweifel vor, ist der Beweis nicht geführt (BSG vom 24. November 2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris-Rn. 21). Bei der Feststellung eines bestimmten Leistungsvermögens für die Vergangenheit bedarf es einer nachvollziehbaren Begründung des Sachverständigen unter Rückgriff auf medizinische Erfahrungssätze oder auf vorliegende Vorbefunde.
Dieser Nachweis ist dem Kläger nicht gelungen.
Dr. D. führt hierzu aus, dass die spezifische Persönlichkeitsstörung und ihre emotionalen und sozialen Beeinträchtigungen schon zu Beginn der Haftzeit vorgelegen hätten, wie von Dr. E. diagnostiziert, und sich während der Haftzeit die Symptome und Verhaltensauffälligkeiten nicht verändert hätten und der Leistungsfall mit einem aufgehobenen Leistungsvermögen für den allgemeinen Arbeitsmarkt zum Zeitpunkt der Inhaftnahme in 2001 angenommen werden müsse. Der davor liegende Zeitraum sei schwer überschaubar, vor allem da keine ärztlichen Befunde vorliegen würden. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 14.04.2014 kam Dr. D. schließlich zu dem Schluss, dass bezüglich der Rückdatierung nach nochmaliger Recherche sich durchaus gesicherte Anhaltspunkte dafür ergäben, dass das Leistungsvermögen nicht erst zu Beginn der Haftzeit 2001 bestanden habe, sondern bereits 1992. Es zeige sich bis 1992 eine gescheiterte Anpassung der Persönlichkeit des Klägers an die sozialen Normen. In der Persönlichkeitsdiagnostik sei ausgeführt, dass der Kläger zwischen 1986 und 1992 beruflich und privat scheiterte und nie mehr eine Integration in den Arbeitsmarkt gelang.
Dem Nachweis eines über den langen Zeitraum seit 1992 bzw. 2001 durchgängig vorliegenden verminderten Leistungsvermögens des Klägers steht jedoch entgegen, dass Dr. D. selber einräumt, dass der Zeitraum vor 2001 schwer überschaubar sei, vor allem da keine ärztlichen Befunde vorliegen würden. Gerade bei einem psychiatrischen Gutachten gehört aber die zeitnahe persönliche Begegnung mit dem Probanden unter Einschluss eines explorierenden Gesprächs zu den für eine zuverlässige Leistungsbeurteilung unverzichtbaren Zentralaufgaben des Sachverständigen (vgl. BSG SozR 1500 § 128 Nr. 24). Eine rückschauende Beurteilung, die nicht auf solchen zeitnah gewonnenen eigenen Eindrücken des Sachverständigen beruht, erweist sich demgegenüber bei Erkrankungen des psychiatrischen Fachgebiets selbst dann als hochgradig fehlergeneigt, wenn auf einschlägige Fremdbefunde zurückgegriffen werden kann. Aber auch diese liegen gerade nicht in ausreichendem Maße vor.
Es ist zudem zu berücksichtigen, dass der Kläger nie in regelrechter ambulant-psychiatrischer Behandlung war. Vor Inhaftnahme stellte er sich in der psychiatrischen Ambulanz der Universität Gießen vor. Im Rahmen des Strafverfahrens wurde er vom Psychiater Dr. E. begutachtet und auch in Gießen und Butzbach betreut, aber nur selten. In der Haft nahm er nie ein sozialtherapeutisches oder sozialpädagogisches Gespräch wahr, nahm nie an suchttherapeutischen Gruppen teil und zog sich immer in die Haftzelle zurück, so dass kaum Aufzeichnungen über seinen Gesundheitszustand existieren. Zum anderen ergibt sich aber aus den eingeholten medizinischen Unterlagen nicht, dass der Kläger bereits seit 1992 oder zumindest seit 2001, als die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch erfüllt waren, durchgängig erwerbsgemindert war. Dr. F. diagnostizierte in seinem Befundbericht vom 26.06.2002 eine posttraumatische Belastungsstörung. Aus einem psychologisches Zusatzgutachten vom 20.12.2002, Dr. G., folgt, dass der Kläger die Nächte gut schlafe und sich normal leistungsfähig fühle. Es bestehe die Tendenz, ungewöhnlich viele Probleme und Schwierigkeiten anzugeben und es gäbe keine Hinweise auf hirnorganische Beeinträchtigungen, gravierende Intelligenzdefizite oder starke psychopathologische Symptome. Laut Bericht des psychologischen Dienstes der Justizvollzugsanstalt Gießen vom 30.01.2003 habe sich der Kläger in der Justizvollzugsanstalt der Gruppe H. angeschlossen und sei im Gespräch mit der hiesigen Drogenberatung. Das Verhältnis zu den Mitgefangenen sei gut. Laut psychiatrischem Sachverständigengutachten vom 12.02.2003, Dr. E., bestehe eine gemischte Persönlichkeitsstörung mit schizotypischen und Borderline Anteilen. Schließlich diagnostizierte Dr. E. laut Befundbericht vom 04.07.2013 nach mehrjähriger Beobachtung des Klägers nur eine dissoziale Persönlichkeitsstörung. Simulation oder Aggravation hätten sehr nahe gelegen, so dass sie seine Diagnosen relativiert hätten. Weitere Befunde liegen nicht vor. Aber selbst aus den in den vorliegenden Befundberichten genannten Diagnosen folgt keine Einschätzung zum zeitigen Leistungsvermögen des Klägers seit dem Jahr 1992 bzw. 2001.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und die Rechtsmittelbelehrung ergibt sich aus § 143 SGG.
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