S 23 SF 99/16 E

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Leipzig (FSS)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
23
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 23 SF 99/16 E
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Regelmäßig ist die (nahezu) vollständige Ablichtung der Behördenakte im Rahmen sachgemäßer anwaltlicher Mandatsausübung erforderlich.
1. Die den Erinnerungsführerinnen durch den Erinnerungsgegner zu erstattenden weiteren außergerichtlichen Kosten werden unter Abänderung des Kostenfestsetzungsbeschlusses vom 16. März 2016 auf 198,79 EUR festgesetzt. 2. Die außergerichtlichen Kosten der Erinnerungsführerinnen im Erinnerungsverfahren sind durch den Erinnerungsgegner zu erstatten.

Gründe:

I. Streitig ist die Höhe der vom Erinnerungsgegner zu erstattenden Rechtsanwaltsgebühren für ein sozialgerichtliches Verfahren auf dem Gebiet der Grundsicherung.

Die anwaltlich vertretenen Erinnerungsführerinnen stritten im vorangegangenen Klageverfahren (S 3 AS 3221/11; anhängig seit 10. Oktober 2011) mit dem Erinnerungsgegner um die Rechtmäßigkeit der teilweisen Aufhebung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) und eine hieran anknüpfende Erstattungsforderung. Nach Übersendung der insgesamt 1.213 Blatt umfassenden fünfbändigen Verwaltungsakte durch den Erinnerungsgegner wurde dem Prozessbevollmächtigten der Erinnerungsführerinnen antragsgemäß Akteneinsicht gewährt. Der Klage wurde durch rechtskräftiges Urteil vom 17. Juli 2015 unter Zuerkennung eines Kostenerstattungsanspruchs dem Grunde nach stattgegeben.

Nach antragsgemäßer Zahlung der geltend gemachten Geschäfts-, Verfahrens- und Terminsgebühr beantragten die Erinnerungsführerinnen die Festsetzung weiterer Kosten gegenüber dem Erinnerungsgegner wie folgt:

Klageverfahren (Erster Rechtszug)

Fotokopiekosten (Nr. 7000 VV) - 997 Seiten 167,05 EUR

- insgesamt 167,05 EUR 19 % Mehrwertsteuer gemäß Nr. 7008 VV 31,74 EUR - Gesamtsumme 198,79 EUR

Der Kostenfestsetzungsantrag wurde durch Beschluss vom 16. März 2016 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt:

"Mit Schriftsatz vom 30.10.2015 erachtet der Beklagte die Auslagen nicht als erstattungsfähig, weil deren Herstellung in dem Umfang nicht zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten war. Zwar sei ein Rückforderungszeitraum von 40 Monaten betroffen in dem 8 Ausgangsbescheide, 26 Änderungsbescheide, der Widerspruch und der Widerspruchsbescheid erlassen wurde, jedoch mangelt es an der Notwendigkeit.

Die Klägervertreterin teilte mit Schreiben vom 17.11.2015 mit, dass bei der Ausübung des Ermessens, welche Unterlagen notwendig und erforderlich sind, kein kleinlicher Maßstab anzulegen sei. Insbesondre müssen möglicherweise alle Eventualitäten mit berücksichtigt werden. Ferner wird vorgetragen, dass die Verwaltungsakte mehr als 1.000 Seiten habe und die Akte lediglich für fünf Tage zur Einsicht überlassen wurde. Zudem seien Vermerke und Verfügungen in der Verwaltungsakte ebenfalls zu berücksichtigen, weil sich hieraus verfahrensrelevante Informationen ergeben könnten. Auf die abgegebenen Stellungnahmen im Kostenfestsetzungsverfahren wird verwiesen.

Im vorliegenden Kostenfestsetzungsverfahren konnte zwischen den Beteiligten keine Einigung über die Höhe der zu erstattenden Kosten erzielt werden. Daher hatte eine förmliche Entscheidung zu erfolgen.

Auslagen, VV-Nr. 7000 RVG

Gemäß Nr. 7000 Nr. 1 a) VV RVG hat der Rechtsanwalt Anspruch auf Ersatz von Schreibauslagen für Abschriften und Ablichtungen aus Behörden- und Gerichtsakten, soweit deren Herstellung zur sachgerechten Bearbeitung der Rechtssache geboten war. Wenngleich die Beurteilung, welche Kopien zur Bearbeitung der Sache sachgemäß waren, um sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten, dem Rechtsanwalt überlassen ist, so muss doch dieses Ermessen auch ausgeübt werden. Dies darf wiederum nicht dazu führen, dass ganze Behördenakten abgelichtet werden, ohne Rücksicht auf Inhalt und Bedeutung der einzelnen Seiteninhalte (SG Chemnitz, Beschluss vom 27.01.2010, Az.: S 3 SF 173/09 E; vgl. SG Berlin, Beschluss vom 11.03.2008, Az.: S 45 VG 60/04). Die Erforderlichkeit der gefertigten Kopien wird dann nicht anzunehmen sein, wenn der gesamte Aktenvorgang abgelichtet wird (vgl. LSG Thüringen, Beschluss vom 19.05.2003, Az.: L 6 B 18/03 SF). Begründet der Anwalt die Notwendigkeit der geltend gemachten Kopien nicht nachvollziehbar, ist eine Kostenerstattung insoweit abzulehnen (Sächs. LSG, Beschluss vom 10.05.2010, Az: L 6 AS 155/10 B KO; SG Dresden, Beschluss vom 03.03.2009, Az.: S 20 SF 101/08 AS/F; SG Chemnitz, Beschluss vom 05.02.2007, Az.: S 29 AS 588/06).

Nachdem im Kostenfestsetzungsverfahren keine Einigung hinsichtlich der Erstattungsfähigkeit erzielt werden konnte, hat das Gericht die betreffenden Verwaltungsakten angefordert. Hierbei handelt es sich um 5 Bände. Unter Berücksichtigung des strittigen Bewilligungszeitraumes 01.01.2008 bis 30.04.2011 befinden sich in den Verwaltungsakten 959 bedruckte Seiten (Blatt 270 bis 1.123). Hierbei eingeschlossen sind sämtliche Vermerke, Verfügungen und interne Berechnungen der Beklagten. Nicht berücksichtigt sind Unterlagen hinsichtlich der standardmäßigen Eingliederungsvereinbarung und Unterlagen zum Bußgeldbescheid. Es ist ersichtlich, dass im hiesigen Verfahren unter Beachtung des strittigen Bewilligungszeitraumes und der strittigen Problematik die ganzen Verwaltungsakten (bis ausschließlich des Widerspruchsbescheides, der an die Prozessbevollmächtigte übersandt wurde) kopiert wurde. Eine entsprechende Begründung liegt dahingehend vor, dass ein kleinlicher Maßstab nicht anzuwenden sei. Das Gericht geht nach Abwägung der vorgebrachten Argumente der Beteiligten davon aus, dass das erforderliche Ermessen bei vollständiger Ablichtung der Verwaltungsakten nicht ausgeübt wurde, sodass der Ansatz im Ergebnis abzulehnen war.

Im Ergebnis war der Kostenfestsetzungsantrag der Kläger vom 28.09.2015 mangels festsetzbaren Betrages zurückzuweisen."

Hiergegen richtet sich die am 29. März 2016 eingelegte und nicht näher begründete Erinnerung.

Die Erinnerungsführerinnen beantragt sinngemäß,

die vom Erinnerungsgegner zu erstattenden weiteren außergerichtlichen Kosten unter Abänderung des Beschlusses vom 16. März 2016 antragsgemäß festzusetzen.

Der Erinnerungsgegner beantragt,

die Erinnerung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vorliegenden Verfahrens- und Prozessakten verwiesen.

II.

Die gemäß § 197 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz statthafte und zulässige Erinnerung ist begründet.

Den Erinnerungsführerinnen steht eine Dokumentenpauschale gemäß Nr. 7000 Nr. 1a VV RVG (a.F.) in Höhe von 198,79 EUR zu.

Nach Nr. 7000 Nr. 1a VV RVG (hier: in der bis zum 31. Juli 2013 geltenden Fassung; § 60 Abs. 1 Satz 1 RVG) kann für Ablichtungen aus Behördenakten die Dokumentenpauschale von 0,50 EUR je Seite für die ersten 50 Seiten und für jede weitere Seite von 0,15 EUR gefordert werden, soweit diese Ablichtungen zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten waren. Bei der Beurteilung, was zur Bearbeitung sachgemäß ist, muss auf die Sichtweise eines verständigen und durchschnittlich erfahrenen Rechtsanwalts, der sich mit der betreffenden Akte beschäftigt, abgestellt werden (vgl. zuletzt etwa Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 08. November 2016 – L 15 SF 256/14 E m.w.N.). Dem Rechtsanwalt steht ein Ermessensspielraum zu, der eher großzügig zu bemessen ist (Hartmann, Kostengesetze, 47. Auflage 2017, Nr. 7000 VV RVG, Rn. 6 m.w.N. aus der Rechtsprechung; vgl auch BGH, Beschluss vom 26. April 2005 – X ZB 17/04 – zu § 27 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO: "kein kleinlicher Maßstab").

Bei Durchsicht der zahlreichen gerichtlichen Entscheidungen und der Literatur zu Nr. 7000 VV RVG fällt auf, dass nach der Voranstellung dieser Grundsätze die Notwendigkeit einer Vervielfältigung der ganzen Behördenakte oftmals z.B. unter Hinweis darauf abgelehnt wird, dass es dem Anwalt nicht völlig freigestellt sein könne, nach seinem subjektiven Empfinden Kopien als erforderlich zu bezeichnen (vgl. etwa Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 23. Mai 2016 – L 5 SF 12/14 E) oder dass er nicht ohne Weiteres die gesamte Behördenakte von einer juristisch nicht geschulten Kanzleikraft ablichten lassen dürfe (Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 08. November 2016 – L 15 SF 256/14 E). Hervorgehoben wird dabei auch stets, dass die bloße Zweckmäßigkeit die Fertigung von Kopien noch nicht als auch wirklich geboten erscheinen lasse (Bayerisches Landessozialgericht, a.a.O.) oder dass eine bloße Erleichterung oder Bequemlichkeit nicht ausreiche, um auch die Erforderlichkeit für die sachgemäße Bearbeitung der Rechtssache zu begründen (Hartmann, a.a.O.).

Dies erscheint der erkennenden Kammer wenig folgerichtig. Rechtsanwälte im Sozialrecht stehen - wie die Gerichte und die Behörden - unter einem zeitlichen Druck bei der Bearbeitung der in großer Zahl anfallenden Rechtsfälle. Die Inanspruchnahme von Erleichterungen – wie etwa beispielsweise der Verzicht auf die kleinteilige Durchsicht einer für wenige Tage überlassenen Behördenakte Blatt für Blatt zur Entscheidung über die Erforderlichkeit der Fertigung von einzelnen Kopien – dient daher nicht nur der Bequemlichkeit, sondern unmittelbar der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit, was ziemlich genau die "Sichtweise eines verständigen und durchschnittlich erfahrenen Rechtsanwalts" und nicht nur die subjektive Sicht eines unverständigen Einzelnen abbilden dürfte und damit fraglos "sachgemäß" ist.

Gerade in Verfahren der Grundsicherung zeigt sich überdies immer wieder, dass bei erster Sichtung der Akte keinesfalls beurteilt werden kann, welche Akteninhalte für die spätere Bearbeitung relevant werden. Beispielsweise kann ein bei der Erstantragstellung eingereichter Mietvertrag auf den ersten Seiten der Behördenakte Bedeutung haben für die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Jahre später ergehenden Bewilligungsentscheidung. Gleiches gilt für sonstige Erklärungen des Mandanten oder Dritter in vorangegangenen Bewilligungsabschnitten. Oft ist auch die Bescheidlage derart unübersichtlich (wie vorliegend bei einem Rückforderungszeitraum von 40 Monaten mit 8 Ausgangs- und 26 Änderungsbescheiden), dass nur die Fertigung einer vollständigen Kopie der mehr oder weniger chronologisch geführten Behördenakte unter Einschluss dieser Bescheide den Rechtsanwalt in die Lage versetzt, im Prozess sachgerecht zu agieren. Darüber hinaus sind auch relevante Schriftstücke – nicht zuletzt die Bescheide – aus unterschiedlichsten Gründen oftmals nicht mehr im Besitz des Mandanten, was ebenfalls zum Zeitpunkt der Akteneinsicht nicht immer vollständig beurteilt werden kann. Dass bei der danach nicht nur arbeitserleichternd, sondern auch arbeitsabsichernd gebotenen Ablichtung der gesamten Akte mitunter – auch in einem nicht ganz unerheblichen Maß – überflüssige Kopien gefertigt werden, erscheint nicht zuletzt in Anbetracht der regelmäßig im Raum stehenden Summen und des im Vergleich dazu ansonsten unverhältnismäßigen Arbeitseinsatzes des Rechtsanwaltes bzw. seines Personals (und nachfolgend im Rahmen der Kostenfestsetzung und des Erinnerungsverfahrens im Übrigen auch des Gerichtes) hinnehmbar. Eine aus der ex-post-Betrachtung zu konstatierende Überflüssigkeit bedingt überdies keinesfalls eine die Kostenerstattung ausschließende Unsachgemäßheit, da sich letztere aus der ex-ante-Perspektive unter Einschluss des zu diesem Zeitpunkt noch ungewissen Gangs des Verfahrens und der Bedeutung der einzelnen Aktenteile hierfür beurteilt.

Nicht zuletzt auch unter Beachtung des rechtsstaatlichen Gebotes der Waffengleichheit wird daher – von außergewöhnlichen Ausnahmefällen abgesehen – regelmäßig die (nahezu) vollständige Ablichtung der Behördenakte im Rahmen sachgemäßer Mandatsausübung erforderlich sein; das gilt jedenfalls dann, wenn der Rechtsanwalt - wie hier - die ausschließlich in Papierform existente Verfahrensakte nur vorübergehend erhält und er demzufolge darauf angewiesen ist, sich mittels Erstellung von Kopien binnen kurzer Frist erstmals eine alleinige Arbeitsgrundlage für das weitere Verfahren zu verschaffen. Auch vorliegend muss daher die Ablichtung großer Teile der Behördenakte (997 von 1.213 Blatt) als sachgemäß bezeichnet werden.

Es waren daher vorliegend Auslagen für 997 Kopien in rechnerisch zutreffend ermittelter Höhe von 167,05 EUR (50 x 0,50 EUR + 947 x 0,15 EUR) zuzüglich Umsatzsteuer (insgesamt also 198,79 EUR) festzusetzen.

Die Kostenentscheidung erfolgt entsprechend § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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