S 15 VG 16/07

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Landshut (FSB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 15 VG 16/07
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Soziales Entschädigungsrecht
I. Der Beklagte wird verurteilt, unter Aufhebung des Bescheides vom 02.05.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.10.2007 wegen des vom Nachbarn D. betriebenen "Stalkings" eine vorsätzliche, rechtswidrige Gewalttat nach dem OEG anzuerkennen und die daraus resultierenden Leistungen zu gewähren.

II. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in vollem Umfang.



Tatbestand:


Die Klägerin begehrt Opferentschädigung wegen eines jahrelang durch ihren Nachbarn Johann D. betriebenen "Stalkings".

Die am 21.09.1968 geborene Klägerin bewohnt mit ihrem Ehemann, Stefan A., ein Anwesen, das unmittelbar angrenzt an das Anwesen des Johann D ... Am 07.06.1999 kam es auf der Zufahrt zu den beiden Anwesen zu einem Unfall zwischen Stefan A. und Johann D ... Im danach folgenden Schadensersatzprozess vor dem Amtsgericht C-Stadt wurde nur der Hälfte der Klageforderung des Johann D. stattgegeben, da diesem ein hälftiges Mitverschulden zugerechnet wurde (Urteil des Amtsgerichts C-Stadt vom 20.07.2000, Az: 18 C 0332/00).

Damit konnte sich Johann D. jedoch nicht abfinden. Um die Zahlung des ihm aus seiner Sicht zustehenden restlichen Geldbetrages zu erzwingen, errichtete er im Zeitraum ab Juli 2000 vor dem Küchenfenster der Eheleute A. einen mehrfach erhöhten Bretterverschlag, um den Lichteinfall zu behindern. Zudem stellte er wiederholt unmittelbar vor dem Küchenfenster zwei Schubkarren mit Gülle auf, errichtete wiederholt Holzkreuze rund um das Grundstück und hängte eine tote Ratte auf. Hierbei gab er gegenüber den Eheleuten A. mehrfach zu erkennen, dass er mit seinen Terrorhandlungen aufhören würde, wenn sie ihm auch die andere Hälfte der ursprünglichen Klageforderung begleichen würden. Er setzte die Eheleute A. mit folgenden Drohungen unter Druck: "Ich verbarrikadiere die Grundstücke so lange, bis ihr bezahlt". "Ich drangsaliere euch so lange, bis bezahlt wird". "Ich erschlage euch; die Kreuze sind da, damit ihr verreckt". "Ich erschieße euch". "Die Kreuze sind da, damit du dreckige Mistsau verreckst". "Euren Hund erschieße ich auch noch einmal". "Die Barrikade lasse ich 15 Jahre stehen, damit sie einwächst". "Ich sperr euch ein; ich bring euch hinter Gitter".

Besonders zu Herzen nahmen sich die Eheleute A. die Drohung des Erschießens. Ihnen wurde von dritter Seite zugetragen, dass Johann D. über eine Waffe nebst Waffenschein verfüge.

Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt Ende November 2001 verletzte Johann D. die Klägerin, indem er mit einer Gartenharke auf sie losging und die Harke nach ihr warf. Sie wurde schließlich hinten von der Harke getroffen und erlitt schmerzhafte Druckstellen am rechten Beckenkamm hinten und am oberen Gesäßbereich. Die Gartenharke war nach ihrer Beschaffenheit dazu geeignet, erhebliche Verletzungen herbeizuführen. Wegen dieser Taten wurde Johann D. mit Urteil des Amtsgerichts C-Stadt vom 17.06.2003 (Az: 4 Ls 106 Js 7821/02) unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Am Tag der Hauptverhandlung hatte Johann D. der Klägerin eine tote Ratte vor das Fenster gehängt.

Trotz der Verurteilung setzte er die Beleidigungen und Bedrohungen gegenüber der Klägerin und ihrem Ehemann fort. Am 09.02.2005 bedrohte er die Klägerin anlässlich eines Brandes beim Nachbarn damit, dass es ihr auch noch so ergehen würde, wenn sie nicht alles regeln würde. Aufgrund der in den vergangenen Jahren gezeigten Verhaltensweisen nahm die Klägerin auch die Drohung mit der Brandstiftung ernst.

Am 01. April 2005 befestigte Johann D. ein deutlich sichtbares Schild an seiner Stallwand mit der Aufschrift: " A. ist und bleibt eine Ratte". Er entfernte das Schild erst am 24.12.2005, brachte es jedoch im Januar 2006 erneut an.

Am 03.10.2005 verlangte er von der Klägerin Geld, indem er ihr androhte, dass alles wieder von vorne anfange, wenn sie ihn nicht entschädige und alles regle. Wegen dieser Straftaten wurde er mit Urteil des Amtsgerichts C-Stadt vom 17.05.2006 (Az: 10 Ds 106 Js 16004/05) wegen Bedrohung, Beleidigung und versuchter Erpressung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt, welche zunächst nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Eine Strafaussetzung zur Bewährung käme nicht mehr in Betracht, da der Angeklagte zum Zeitpunkt der weiteren Taten unter einschlägiger offener Bewährung gestanden habe. Er habe keinerlei Schuldeinsicht erkennen lassen und stattdessen lediglich Schuldzuweisungen gegenüber der Geschädigten gemacht. Das Landgericht C-Stadt änderte den Strafausspruch im Urteil vom 23.05.2007 dahingehend, dass die verhängte Freiheitsstrafe auf 7 Monate herabgesetzt hat und zur Bewährung ausgesetzt wurde, die abgeurteilten Straftaten blieben jedoch dieselben.

Aus einem Gutachten der Psychiaterin Dr. W. vom 04.04.2007, das ihm Rahmen eines Rentenverfahrens erstellt wurde, war zu entnehmen, dass die Klägerin seit dem Jahr 2000 unter einer Panikstörung und einem pelzigen Gefühl im Gesicht leide. Wegen der Panikstörung sei sie ihm Jahr 2000 bereits zum Verhaltenstherapeuten G. nach C-Stadt gegangen, bei dem sie bis 2003 behandelt worden sei. Auslöser sei der bis heute bestehende Nachbarschaftskonflikt gewesen. Der Nachbar würde sie immer wieder bedrohen, z.B. habe er einmal nachts in der Garage mit einer Axt auf sie gewartet. Auch habe er sie bereits mit einem Gartengerät geschlagen. Im Jahr 2005 sei die seelische Erkrankung so schwerwiegend geworden (Schlafstörungen, innere Unruhe, Gedankenkreisen und Grübelneigung), dass eine stationäre Behandlung ins Bezirksklinikum M. erforderlich geworden sei. Sie sei dort von Juli bis Oktober 2005 psychiatrisch behandelt worden. Sie habe anschließend drei Monate nur gelegen und geschlafen. Vom Ehemann sei sie im Hinblick auf Körperhygiene und Nahrung versorgt worden.

Aus dem Befundbericht des Bezirksklinikums M. vom 06.10.2005 sind folgende Diagnosen zu entnehmen: "Schwere depressive Episode; Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion; Panikstörung". Sie leide seit Februar 2005 an Schmerzen im Bereich der unteren Brustwirbelsäule sowie unter einer gravierenden Angststörung. Seit diesem Zeitpunkt habe sich ihr psychisches Zustandsbild zunehmend verschlechtert. Sie sei mit den Nerven vollkommen am Ende, empfinde das ganze Leben als Qual. Ihre Stimmung sei depressiv, bedrückt, niedergeschlagen und sie habe keine Lebensfreude. Sie sehe häufig keinen Sinn mehr im Leben. Es belaste sie, dass es mit dem Nachbarn sein vielen Jahren Streit gebe.

Auch aus einem Befundbericht des behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. F. vom 30.10.2008 ist zu entnehmen, dass die Klägerin nach wie vor vom Nachbarn attackiert werde. Erst kürzlich sei dieser mit dem Auto auf die Klägerin zugefahren und erst kurz vor ihr zum Stehen gekommen. Die depressiven Verstimmungszustände hätten sich laut Dr. F. mittlerweise gebessert (durch Medikation). Geblieben sei eine mangelnde Belastbarkeit, so dass die Klägerin nur noch einige Stunden arbeiten könne (Teilzeitarbeit in einem Call-Center). Sie erhalte eine private Berufsunfähigkeitsrente. Sie benötige sehr viele Pausen, so dass sie mit der Teilzeitarbeit völlig ausgelastet sei. Zudem leide die Klägerin an einem Restless-Leg-Syndrom, das mit Dopamin-Präparaten behandelt werde. Ihren häuslichen Problemen sei die Klägerin kaum gewachsen, so dass sie hier ganz auf die Hilfe ihres Ehemannes angewiesen sei. Die Klägerin leide nach wie vor an einer schweren rezidivierenden seelischen Störung sowie einem Restless-Leg-Syndrom.

Mit Schreiben vom 11.10.2006, eingegangenen beim Beklagten am 13.10.2006, stellte die Klägerin einen Antrag auf Gewährung von Opferentschädigung. Seit sieben Jahren werde sie von ihrem Nachbarn, Johann D., massiv verfolgt. Auch die Verurteilungen durch das Amtsgericht C-Stadt hätten ihn nicht davon abgehalten, sie zu verfolgen. Wegen der Angriffe befinde sie sich seit dem Jahr 2000 in psychiatrischer Behandlung.

Im Bescheid vom 02.05.2007 lehnte der Beklagte den Antrag auf Beschädigtenversorgung ab mit der Begründung, dass im Falle der Klägerin ein vorsätzlicher, rechtswidriger und tätlicher Angriff nach § 1 Abs.1 OEG nicht vorliege. Ein tätlicher Angriff setze voraus, dass eine in feindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper zielende Einwirkung vorgenommen worden sei. Rein verbale oder nonverbale Angriffe gegen das Opfer wie z.B. Beleidigungen oder Drohungen würden keinen tätlichen Angriff darstellen. Zwar habe die Klägerin im November 2001 einen tätlichen Angriff erlitten (Schlag mit der Gartenharke). Dieser Angriff habe aber lediglich vorübergehende Gesundheitsstörungen zur Folge gehabt, die mittlerweile abgeheilt seien. Der Antrag auf Leistungen nach dem OEG sei damit abzulehnen.

Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 23.05.2007 Widerspruch ein. Es sei zwar zutreffend, dass nach der Rechtsprechung ein tätlicher Angriff eine in strafbarer Weise unmittelbar auf den Körper eines anderen abzielende Einwirkung erfordere. Bloße psychische Beeinträchtigungen, etwa das "Mobbing", seien bisher nicht als tätliche Angriffshandlungen bewertet worden. Die Angriffe gegenüber der Klägerin seien aber nicht mit "Mobbing" gleichzusetzen, sondern vielmehr mit einer direkten und unmittelbaren Bedrohung, welche das Bundessozialgericht für die Annahme eines tätlichen Angriffs ausreichen lasse. Man dürfe den Wurf mit der Gartenharke nicht als isolierte Tat ansehen, vielmehr habe er mit dem körperlichen Angriff nur seinen ständigen Beleidigungen, Bedrohungen und Erpressungen Nachdruck verleihen wollen. Damit sollte die Klägerin ständig eingeschüchtert und unter Druck gesetzt werden.

Der Widerspruch der Klägerin wurde im Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 17.10.2007 zurückgewiesen. Bei den wiederholten Bedrohungen und Beleidigungen des Nachbarn handele es sich nicht um einen tätlichen Angriff. Bei der Kette von Ereignissen handele es sich um nichts anderes als "Mobbing", welches nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht als tätlicher Angriff zu werten sei. Das "Mobbing" sei zwar gesellschaftlich zu missbilligen, sei aber nicht strafbar. Die Schwelle zum kriminellen Unrecht sei nicht überschritten.

Zur Klärung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin hat das Gericht ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. H. eingeholt. Im Gutachten vom 01.05.2009 hat der Gutachter ausgeführt, dass bei der Klägerin mit Wahrscheinlichkeit aufgrund der Angriffe ihres Nachbarn D. in den Jahren 2000 bis 2003 eine Panikstörung, sowie eine leicht - bis mittelgradige Depression bestanden habe. Dann sei zunächst eine Besserung in den Schädigungsfolgen eingetreten. Erst ab April 2005 hätten sich wiederum entsprechende Schädigungsfolgen eingestellt. Auch hätten diese Gesundheitsstörungen zu einer Beeinträchtigung in der Lebensgestaltung der Klägerin geführt.

Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 02.05.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.10.2007 eine vorsätzlichen, rechtswidrige Gewalttat anzuerkennen und Beschädigtenversorgung aus dem OEG zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Im Hinblick auf die weiteren Einzelheiten wird verwiesen auf die beigezogene Akte der Staatsanwaltschaft P. im Verfahren 106 Js 7821/02, die Verwaltungsakten des Beklagten, sowie auf die vorliegende Streitakte.



Entscheidungsgründe:


Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat nach der Rechtsauffassung des Gerichts einen Anspruch auf Anerkennung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen und tätlichen Angriffs nach § 1 Abs.1 Satz 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG). Versorgungsleistungen sind damit ab dem Zeitpunkt der Antragstellung (Oktober 2006) zu gewähren.

Nach § 1 Abs.1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Diese Anspruchsvoraussetzungen sind im Falle der Klägerin nach der Rechtsauffassung des Gerichts erfüllt.

Die Klägerin ist Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen ihre Person geworden. Der Angriff auf die Klägerin bestand hier nicht nur in dem direkten körperlichen Angriff (Schlag mit der Gartenharke) im November 2001, sondern vielmehr in den vielfältigen und seit Jahren immer wiederkehrenden unmittelbaren und mittelbaren Bedrohungen, welche für die Klägerin auch aus der Sicht eines objektiven Beobachters Anlass zur Sorge gaben, die Bedrohung würde wirklich in einem körperlichen Angriff enden. So fallen hier nicht nur die Tätlichkeiten ins Gewicht, die den Strafurteilen vom 17.06.2003 und vom 17.05.2006 zu entnehmen sind, sondern auch diejenigen, die sich aus den beigezogenen Befundberichten und Gutachten ergeben. Im Zuge des Rentenverfahrens hat die Klägerin beispielsweise gegenüber der begutachtenden Psychiaterin Dr. W. im April 2007 angegeben, dass der Nachbar sie immer wieder mal bedrohen würde, z.B. würde er sie nachts in der Garage mit einer Axt erwarten. Auch der Neurologe und Psychiater Dr. F. berichtete am 30.10.2008, dass die Klägerin erneut vom Nachbarn attackiert worden sei. Er sei mit dem Auto auf diese zugefahren und erst kurz vor ihr zum Stehen gekommen. Diese Äußerungen der Klägerin gegenüber den behandelnden bzw. begutachtenden Ärzten in völlig anderem Zusammenhang misst das Gericht besonderen Beweiswert zu, da die Klägerin diese Vorfälle im Opferentschädigungsverfahren gar nicht mehr vorgebracht hat. Ein rein zweckorientierter Vortrag scheidet somit aus.

Anders als der Beklagte ist das Gericht nicht der Auffassung, dass es sich hier um bloßes "Mobbing" handelt. Im Gegensatz zum "Mobbing" wird beim sogenannten "Stalking" in aller Regel die Schwelle zum kriminellen Unrecht deutlich überschritten (vgl. Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 22.06.2006, Az.: L 13 VG 7/05). "Stalking" besteht aus einem Gesamtkomplex von einzelnen Tathandlungen über einen längeren Zeitraum (Beschimpfungen, Beleidigungen, Bedrohungen, tatsächliche körperliche Angriffe oder sexuelle Belästigungen). Dabei ist nicht jedes einzelne Tatelement für sich zu betrachten, sondern das "Stalking" ist als einheitliches Gesamtgeschehen zu bewerten (a.a.O.) Dass derartiges Verhalten und der darin liegende Unrechtsgehalt einheitlich zu betrachten und zu sanktionieren sind, folgt auch aus dem am 22.03.2007 in Kraft getretenen Straftatbestand der Nachstellung (§ 238 StGB).

Nach § 238 Abs.1 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer einem Menschen unbefugt nachstellt, indem er beharrlich seine räumliche Nähe sucht, ihn mit der Verletzung von Leben, körperlicher Unversehrtheit, Gesundheit oder Freiheit seiner selbst oder einer ihm nahestehenden Person bedroht oder eine andere vergleichbare Handlung vornimmt und dadurch die Lebensgestaltung des anderen Menschen schwerwiegend beeinträchtigt (§ 238 Abs.1 StGB). Diese Straftat wird in der Regel nur auf Antrag verfolgt (vgl. § 238 Abs. 4 StGB).

Die von Johann D. über Jahre vorgenommenen Beleidigungen und Bedrohungen, mit welchen er der Klägerin und ihrem Ehemann mit der Verletzung ihres Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, ihrer Gesundheit oder Freiheit drohte, erfüllt nach der Rechtsauffassung der Kammer den am 22.03.2007 in Kraft getretenen Tatbestand der Nachstellung (§ 238 Abs. 1 Strafgesetzbuch).

Seit Juli 2000 hat D. beharrlich die räumliche Nähe der Klägerin aufgesucht, indem er mehrfach einen erhöhten Bretterverschlag auf deren Grundstück errichtete, um den Lichteinfall zu behindern. Zudem stellte er wiederholt unmittelbar vor dem Küchenfenster der Klägerin zwei Schubkarren mit Gülle auf, errichtete wiederholt Holzkreuze rund um das Grundstück (teilweise mit daneben stehenden Särgen) und hängte am Tag der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht C-Stadt am 17.06.2003 eine tote Ratte vor dem Küchenfenster auf. Zudem verübte er im November 2001 gegenüber der Klägerin eine gefährliche Körperverletzung (Schlag mit der Gartenharke). An einem "tätlichen" Element fehlt es somit nicht.

Seit dem Jahr 2000 leidet die Klägerin wegen dieses "Stalkings" unter einer Panikstörung, sowie einer leicht- bis phasenweise mittelgradigen Depression, wie Dr. H. in seinem Gutachten vom 01.05.2009 festgestellt hat. Im Jahr 2004 haben sich die Angriffe von Seiten des Nachbarn (vorübergehend) verringert, so dass es in dieser Zeit auch zu einer Besserung des psychischen Leidens kam. Erst ab April 2005 ist laut Dr. H. wieder eine Verschlimmerung der Schädigungsfolgen anzunehmen. Dies vor dem Hintergrund, dass der Schädiger D. die Klägerin ab dem Jahr 2005 wieder verstärkt bedrängte. Im Februar 2005 drohte er ihr beispielsweise mit einer Brandstiftung. Später zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im Jahr 2005 befestigte er auf einem Pfahl an der Grundstücksgrenze ein blutverschmiertes Hemd. Am 03.10.2005 verlangte er von der Klägerin erneut Geld, indem er ihr vor Augen hielt, dass er ansonsten dafür sorgen würde, dass sie von M. nicht mehr nach Hause käme. Er setzte die Klägerin massiv psychisch unter Druck, was bei ihr ausweislich der Befundberichte auch nicht ohne Folgen blieb. Er beeinträchtigte dadurch ihre Lebensgestaltung aus der Sicht des Gerichts in gravierender Weise und setzte eine mindestens gleichwertige Mitursache dafür, dass die Klägerin ab dem Jahr 2000 an einer Panikstörung und Depression erkrankte, die bis heute behandlungsbedürftig ist. Inwieweit zusätzlich ab 2005 eine schädigungsunabhängige Depression hinzugekommen ist, kann dahingestellt bleiben, da die Kammer davon ausgeht, dass das vorliegende Stalking allein schon ausreichte, um die Lebensgestaltung der Klägerin schwerwiegend zu beeinträchtigen. Immer, wenn sie das Haus verließ, musste sie schließlich damit rechnen, dass es zu erneuten Angriffen von Seiten des in unmittelbarer Nähe wohnenden Nachbarn kommt.

Die Kammer vertritt auch die Auffassung, dass das Gesamtgeschehen des von D. betriebenen "Stalkings" als vorsätzlicher, rechtswidriger und auch tätlicher Angriff im Sinne von § 1 Abs. 1 OEG zu werten ist. Vorsatz und Rechtswidrigkeit stehen auch auf der Grundlage der vorhandenen Strafurteile außer Zweifel. Insgesamt betrachtet muss auch die Tätlichkeit, d.h. der unmittelbar auf die körperliche Unversehrtheit abzielende Charakter der Tathandlungen bejaht werden. Es kommt nach Meinung der Kammer nicht darauf an, dass die isoliert auf der gefährlichen Körperverletzung vom November 2001 beruhenden Gesundheitsstörungen mittlerweile abgeheilt sind. Wie oben bereits ausgeführt, liegt ein eindeutig "tätliches" Element durch den Angriff mit der Gartenharke im November 2001 vor. Wenn "tätliche" Elemente vorliegen, hat das Bundessozialgericht sogar in einem Fall von "Freiheitsberaubung" einen tätlichen Angriff angenommen (vgl. Urteil des BSG vom 30.11.2006, Az.: B 9a VG 4/05 R). Dies vor dem Hintergrund, dass die psychische Bedrohung für das Opfer stärker ist, wenn es schon einmal zu tatsächlichen körperlichen Übergriffen gekommen ist. Nichts anderes kann im vorliegenden Fall gelten:

Nach dem Vorfall vom November 2001 hatte die Klägerin allen Grund, später auch jedes Zusammentreffen mit dem hasserfüllten Nachbarn, wenn es auch "nur" zu verbalen Übergriffen kam, als unmittelbare körperliche Bedrohung zu empfinden. Das "Stalking" zeichnet sich dadurch aus, dass neben körperlichen Attacken im Gesamtgeschehen auch Angriffe auf die Psyche (oft im Ausmaß eines regelrechten "Psychoterrors") vorliegen. Es wäre nicht sachgerecht, das "Stalking" von der Opferentschädigung auszuschließen, nur weil es nicht bei jeder einzelnen Tathandlung zu Tätlichkeiten, d.h. zu tatsächlichen körperlichen Zwangseinwirkungen kommt. Es muss ausreichen, dass es sich nur bei einer oder einzelnen Tatelementen des Gesamtgeschehens um echte Tätlichkeiten handelte.

Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass ein Ausschlussgrund nach § 2 OEG nicht ersichtlich ist. Die Klägerin konnte nach ihren glaubhaften Angaben der Bedrohungslage nicht entkommen, weil sie auf ihrem Wohnanwesen auch den kranken Schwiegervater zu pflegen hatte, der das Wohnanwesen keinesfalls verlassen hätte. Ein Umzug kam für sie daher aus verständlichen Gründen nicht in Betracht.

Auf der Grundlage dieser Erwägungen war der Beklagte aus der Sicht der Kammer unter Aufhebung der streitgegenständlichen Bescheide zu verurteilen, das vom Nachbarn D. betriebene "Stalking" als vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des OEG anzuerkennen und für die Folgen dieser Gewalttat Versorgung aus dem OEG zu gewähren.

Im Hinblick auf die Art der Schädigungsfolgen und die schädigungsbedingte MdE hat erst eine Verwaltungsentscheidung zu ergehen, die dann gesondert mit Widerspruch und Klage angefochten werden kann. Darüber kann die Kammer also hier nicht entscheiden, weil es diesbezüglich im Rahmen der vorliegenden Klage an einem Rechtsschutzbedürfnis fehlt.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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