Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Landshut (FSB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 15 SB 79/16
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Der Beklagte wird verurteilt, unter Abänderung des Bescheides vom 22.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2016 über den 22.10.2015 hinaus (weiterhin) die Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" anzuerkennen.
II. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt der Beklagte in vollem Umfang.
Tatbestand:
Die gesetzlichen Vertreter der Klägerin (leibliche Eltern) begehren für diese die weitere Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" über den 22.10.2015 hinaus.
Die am ...2012 geborene Klägerin litt seit der Geburt unter einer Gallengangs-Missbildung und einer Leberzirrhose. Nach Erstantrag vom 22.04.2013 wurde seitens des Beklagten mit bestandskräftigem Bescheid vom 21.05.2013 ein Gesamt-GdB von 50 festgestellt wegen folgender Gesundheitsstörung: "Leberzirrhose bei Gallengangsatresie".
Wegen einer Verschlechterung der Leberfunktion wurde der Gesamt-GdB ab 12.06.2013 im bestandskräftigen Bescheid vom 19.09.2013 auf 70 angehoben.
Am 27.09.2013 erfolgte eine Lebertransplantation (Leber-Lebendspende durch den Vater). Im Hinblick auf die Organtransplantation erfolgte im bestandskräftigen Bescheid vom 24.01.2014 eine Anhebung des Gesamt-GdB auf 100, Merkzeichen wurden nicht festgestellt. Nach hiergegen eingelegtem Widerspruch vom 16.02.2014 wurde im bestandskräftigen Widerspruchsbescheid vom 24.03.2014 neben dem Gesamt-GdB von 100 auch das Merkzeichen "H" vergeben.
Nach Ablauf der zweijährigen Heilungsbewährungszeit wurde im September 2015 eine Nachprüfung von Amts wegen vorgenommen. Der Sozialmediziner Dr. F. führte in der Stellungnahme nach Aktenlage vom 14.09.2015 aus, dass nunmehr nach Ablauf der Heilungsbewährungszeit nur noch ein Gesamt-GdB von 60 gerechtfertigt sei. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" lägen nicht mehr vor. Eine Abstoßungsreaktion im Hinblick auf die transplantierte Leber sei nicht gegeben. Insgesamt bestünde bei der Klägerin ein guter Allgemein- und Ernährungszustand sowie eine altersgerechte Entwicklung. Auf Grund seiner Einschätzung wurde im streitigen Bescheid vom 22.10.2015 der Gesamt-GdB auf 60 herabgesetzt. Voraussetzungen für Merkzeichen wurden nicht mehr festgestellt.
Der Widerspruch vom 08.11.2015 wurde im Widerspruchsbescheid vom 27.01.2016 zurückgewiesen.
Hiergegen ließen die Eltern der Klägerin mit Schreiben vom 23.02.2016 Klage zum Sozialgericht Landshut erheben. Das Gericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte und Kliniken beigezogen, sowie eine Auskunft der Krankenkasse eingeholt. Die Sozialmedizinerin und Internistin Dr. L. wurde zur ärztlichen Sachverständigen ernannt.
Im Gutachten vom 09.01.2018 kam Dr. L. nach ambulanter Untersuchung der Klägerin vom 18.12.2017 zu dem Ergebnis, dass aus ihrer Sicht die Voraussetzungen für die Vergabe des Merkzeichens "H" weiterhin vorlägen. Wegen der Gabe von Immun-suppressiva bestehe bei der Klägerin eine ausgeprägte Infektanfälligkeit, der Kontakt mit erkrankten Kindern sei, soweit wie möglich, zu vermeiden. Die Eltern müssten ständig erhöhte Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um weitestgehend Infektionsrisiken zu vermeiden.
Der Beklagte konnte sich der Auffassung von Dr. L. nicht anschließen und beantragte im Schreiben vom 05.02.2018 weiterhin Klageabweisung. Gestützt wurde der Antrag auf eine Stellungnahme von Dr. S. vom 30.01.2018. Dieser vertrat die Auffassung, dass bei der Klägerin liege kein vergleichbarer Zustand wie bei einem therapieinduzierten schweren Immundefekt mit der Notwendigkeit ständiger Überwachung vorliege.
Dr. L. hielt dem in ihrer Stellungnahme vom 15.03.2018 entgegen, dass bei der Klägerin eine massiv erhöhte Infektanfälligkeit vorliege und sie nur deshalb altersentsprechend entwickelt sei, weil die Eltern akribisch darauf achten würden, dass Infektionsgefahren vermieden werden. Im Falle der Klägerin sei eine ständige besondere Überwachung auf jeden Fall bis zumindest dem 10. Lebensjahr notwendig.
Der Klägerbevollmächtigte beantragt, unter Abänderung des Bescheides vom 22.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2016 den Beklagten zu verurteilen, bei der Klägerin das Merkzeichen "H" auch über den 22.10.2015 hinaus anzuerkennen.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Im Hinblick auf die weiteren Einzelheiten wird verwiesen auf die beigezogene Akte des Beklagten, sowie auf die vorliegende Streitakte.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist in vollem Umfang begründet. Die Klägerin hat auch über den 22.10.2015 hinaus einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "H".
Hilflos sind diejenigen, die infolge von Gesundheitsstörungen - nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und dem Einkommensteuergesetz "nicht nur vorübergehend" - für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist (Teil A Ziff. 4.der "Versorgungsmedizinische Grundsätze" -VG-, Anlage zur sog. Versorgungsmedizin-Verordnung, Stand: 23.12.2016, Bundesgesetzblatt I, S. 3234).
Im Rahmen der Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen sind nicht nur die bei der Hilflosigkeit genannten "Verrichtungen" zu beachten. Auch die Anleitung zu diesen "Verrichtungen", die Förderung der körperlichen und geistigen Entwicklung (z. B. durch Anleitung im Gebrauch der Gliedmaßen oder durch Hilfen zum Erfassen der Umwelt und zum Erlernen der Sprache) sowie die notwendige Überwachung gehören zu den Hilfeleistungen, die für die Frage der Hilflosigkeit von Bedeutung sind (Teil A Ziff. 5 a) der VG). Bei angeborenen, erworbenen oder therapieinduzierten schweren Immundefekten ist Hilflosigkeit für die Dauer des Immunmangels, der eine ständige Überwachung wegen der Infektionsgefahr erforderlich macht, anzunehmen (vgl. Teil A Ziff. 5 d) nn) der VG).
Mögliche Rechtsgrundlage für die im Bescheid vom 22.10.2015 festgestellte Entziehung des Merkzeichens "H" wäre allein § 48 Abs.1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X -. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Eine wesentliche Änderung ist zum einen etwa dann anzunehmen, wenn sich der gesundheitliche Zustand dergestalt verbessert oder verschlechtert hat, dass sich hieraus eine Herabsetzung oder Erhöhung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 oder nunmehr die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Merkzeichen vorliegen oder aber auch nicht mehr vorliegen.
Die Kammer konnte sich nicht mit hinreichender Sicherheit davon überzeugen, dass im Vergleich zum bestandskräftigen Widerspruchsbescheid vom 24.03.2014 im Hinblick auf die dort angenommene "Hilflosigkeit" eine wesentliche Änderung eingetreten wäre. Wenn diesbezüglich die wesentliche Änderung der Verhältnisse nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, d. h. unter Vollbeweis bewiesen ist, so geht dies zu Lasten des Beklagten, der hierfür die Beweislast trägt.
Bereits im Jahr 2014 war Grund für die Annahme von "Hilflosigkeit", dass die Klägerin einer ständigen Überwachung bedurfte, um jedes vermeidbare Infektionsrisiko zu umgehen. Die Situation ist bis heute nicht wesentlich anders. Wie sich aus dem schlüssigen und überzeugenden Gutachten von Dr. L. vom 09.01.2018 und ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 15.03.2018 ergibt, liegt bei ihr wegen der Gabe von Immunsuppressiva nach wie vor eine massiv erhöhte Infektanfälligkeit vor. Es sind nach der Vorgabe der behandelnden Ärzte alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um eine Ansteckung mit den üblichen Kinder- und Infektionskrankheiten zu vermeiden. Die Eltern haben für die Klägerin gezielt einen Kindergarten mit relativ wenig Kindern (insgesamt rd. 30 Kinder) ausgewählt. Dennoch sind häufig Erkrankungen im Umlauf, so dass die Klägerin nach Angaben der Mutter rund die Hälfte aller Kindergartentage fehle. Dies führte nun dazu, dass der Kindergarten mittlerweile schon einen "halben Platz" angeboten habe. Bei Grippe-Epidemien (im Frühjahr) beispielsweise könne die Klägerin zudem nach Aussage der Mutter nur mit Mundschutz außer Haus.
Dr. L. verweist zu Recht auf die Nebenwirkungen der verabreichten Immunsuppressiva, welche sehr häufig zu einer herabgesetzten Immunabwehr und damit erhöhten Infektanfälligkeit führen, bei Kindern noch mehr als bei Erwachsenen. Dass bei der Klägerin eine massiv erhöhte Infektanfälligkeit vorliegt, ergibt sich laut Dr. L. u. a. aus dem Befund des behandelnden Kinderarztes Dr. H. vom 11.05.2017, wonach in den 12 Monaten davor rd. 28 Arzt-Patienten-Kontakte, 10 davon im direkten Zusammenhang mit akuten Infektionen stattgefunden hatten. Besonders betont Dr. L., dass sich die Klägerin trotz einer Masernimpfung mit Masern angesteckt hatte, was einen stationären Aufenthalt erforderlich machte. Zudem wies sie auf die lange Erkrankungsdauer etwa bei einer stattgehabten Norovirus-Infektion hin. Die vermehrten Krankheitszeiten machen somit bei der Klägerin zusätzlich (neben der Prävention) einen weit über den Altersdurchschnitt hinausgehenden Pflege- und Überwachungsbedarf erforderlich.
Auch die Verabreichung der erforderlichen Medikation erfordert eine intensive Überwachung und Anleitung. So müssen die entsprechenden Medikamente exakt alle 12 Stunden eingenommen werden (derzeit 07.30 Uhr und 19.30 Uhr). Die Klägerin darf eine Stunde vor der Verabreichung und eine halbe Stunde danach nicht essen. Dies ist (verständlicherweise) bei einem Kind dieser Altersgruppe nicht leicht vermittelbar. Aufwendig ist es auch, wie die Mutter in der mündlichen Verhandlung vom 04.07.2018 schilderte, immer für einen ausreichenden Sonnenschutz zu sorgen. Durch die Immunsuppressiva hat die Klägerin ein etwa 70fach erhöhtes Risiko an Hautkrebs zu erkranken. So muss sie immer, wenn sie draußen ist, mit einem hohen Lichtschutzfaktor eingecremt werden und eine Kopfbedeckung tragen.
Trotz der altersentsprechenden Entwicklung der Klägerin ist die Kammer somit davon überzeugt, dass sie im Vergleich zu den Altersgenossen einer besonders intensiven Überwachung und Anleitung im Ablauf eines jeden Tages bedarf. Plausibel ist auch die Einschätzung von Dr. L., wonach bei der Klägerin mindestens bis zum 10. Lebensjahr eine besonders intensive Anleitung und Überwachung erforderlich sein wird, so dass bis dahin in jedem Fall die Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" vorliegen. Frühestens dann ist die Klägerin kognitiv dazu in der Lage, selbst die entsprechenden Vorsorgemaßnahmen zur Vermeidung von Infektionen zu treffen (wie etwa das Vermeiden von Kontakten mit kranken Personen, häufiges Händewaschen, etc.).
Aus den genannten Gründen war der Beklagte zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 22.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2016 bei der Klägerin weiterhin (über den 22.10.2015 hinaus) die Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" anzuerkennen.
Da allein dies beantragt war, ist von einem vollen Klageerfolg auszugehen. Der Beklagte hat damit die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in vollem Umfang zu tragen (gemäß §§ 183, 193 SGG).
-
Rechtsmittelbelehrung:
Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Bayer. Landessozialgericht, Ludwigstraße 15, 80539 München, oder bei der Zweigstelle des Bayer. Landessozialgerichts, Rusterberg 2, 97421 Schweinfurt, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder beim Bayer. Landessozialgericht in elektronischer Form einzulegen. Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist beim Sozialgericht Landshut, Seligenthaler Straße 10, 84034 Landshut, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder beim Sozialgericht Landshut in elektronischer Form eingelegt wird. Die elektronische Form wird durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments gewahrt, das für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet ist und - von der verantwortenden Person qualifiziert elektronisch signiert ist oder - von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gem. § 65a Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingereicht wird. Weitere Voraussetzungen, insbesondere zu den zugelassenen Dateiformaten und zur qualifizierten elektronischen Signatur, ergeben sich aus der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) in der jeweils gültigen Fassung. Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben. Der Berufungsschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden; dies gilt nicht im Rahmen des elektronischen Rechtsverkehrs.
II. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt der Beklagte in vollem Umfang.
Tatbestand:
Die gesetzlichen Vertreter der Klägerin (leibliche Eltern) begehren für diese die weitere Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" über den 22.10.2015 hinaus.
Die am ...2012 geborene Klägerin litt seit der Geburt unter einer Gallengangs-Missbildung und einer Leberzirrhose. Nach Erstantrag vom 22.04.2013 wurde seitens des Beklagten mit bestandskräftigem Bescheid vom 21.05.2013 ein Gesamt-GdB von 50 festgestellt wegen folgender Gesundheitsstörung: "Leberzirrhose bei Gallengangsatresie".
Wegen einer Verschlechterung der Leberfunktion wurde der Gesamt-GdB ab 12.06.2013 im bestandskräftigen Bescheid vom 19.09.2013 auf 70 angehoben.
Am 27.09.2013 erfolgte eine Lebertransplantation (Leber-Lebendspende durch den Vater). Im Hinblick auf die Organtransplantation erfolgte im bestandskräftigen Bescheid vom 24.01.2014 eine Anhebung des Gesamt-GdB auf 100, Merkzeichen wurden nicht festgestellt. Nach hiergegen eingelegtem Widerspruch vom 16.02.2014 wurde im bestandskräftigen Widerspruchsbescheid vom 24.03.2014 neben dem Gesamt-GdB von 100 auch das Merkzeichen "H" vergeben.
Nach Ablauf der zweijährigen Heilungsbewährungszeit wurde im September 2015 eine Nachprüfung von Amts wegen vorgenommen. Der Sozialmediziner Dr. F. führte in der Stellungnahme nach Aktenlage vom 14.09.2015 aus, dass nunmehr nach Ablauf der Heilungsbewährungszeit nur noch ein Gesamt-GdB von 60 gerechtfertigt sei. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" lägen nicht mehr vor. Eine Abstoßungsreaktion im Hinblick auf die transplantierte Leber sei nicht gegeben. Insgesamt bestünde bei der Klägerin ein guter Allgemein- und Ernährungszustand sowie eine altersgerechte Entwicklung. Auf Grund seiner Einschätzung wurde im streitigen Bescheid vom 22.10.2015 der Gesamt-GdB auf 60 herabgesetzt. Voraussetzungen für Merkzeichen wurden nicht mehr festgestellt.
Der Widerspruch vom 08.11.2015 wurde im Widerspruchsbescheid vom 27.01.2016 zurückgewiesen.
Hiergegen ließen die Eltern der Klägerin mit Schreiben vom 23.02.2016 Klage zum Sozialgericht Landshut erheben. Das Gericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte und Kliniken beigezogen, sowie eine Auskunft der Krankenkasse eingeholt. Die Sozialmedizinerin und Internistin Dr. L. wurde zur ärztlichen Sachverständigen ernannt.
Im Gutachten vom 09.01.2018 kam Dr. L. nach ambulanter Untersuchung der Klägerin vom 18.12.2017 zu dem Ergebnis, dass aus ihrer Sicht die Voraussetzungen für die Vergabe des Merkzeichens "H" weiterhin vorlägen. Wegen der Gabe von Immun-suppressiva bestehe bei der Klägerin eine ausgeprägte Infektanfälligkeit, der Kontakt mit erkrankten Kindern sei, soweit wie möglich, zu vermeiden. Die Eltern müssten ständig erhöhte Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um weitestgehend Infektionsrisiken zu vermeiden.
Der Beklagte konnte sich der Auffassung von Dr. L. nicht anschließen und beantragte im Schreiben vom 05.02.2018 weiterhin Klageabweisung. Gestützt wurde der Antrag auf eine Stellungnahme von Dr. S. vom 30.01.2018. Dieser vertrat die Auffassung, dass bei der Klägerin liege kein vergleichbarer Zustand wie bei einem therapieinduzierten schweren Immundefekt mit der Notwendigkeit ständiger Überwachung vorliege.
Dr. L. hielt dem in ihrer Stellungnahme vom 15.03.2018 entgegen, dass bei der Klägerin eine massiv erhöhte Infektanfälligkeit vorliege und sie nur deshalb altersentsprechend entwickelt sei, weil die Eltern akribisch darauf achten würden, dass Infektionsgefahren vermieden werden. Im Falle der Klägerin sei eine ständige besondere Überwachung auf jeden Fall bis zumindest dem 10. Lebensjahr notwendig.
Der Klägerbevollmächtigte beantragt, unter Abänderung des Bescheides vom 22.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2016 den Beklagten zu verurteilen, bei der Klägerin das Merkzeichen "H" auch über den 22.10.2015 hinaus anzuerkennen.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Im Hinblick auf die weiteren Einzelheiten wird verwiesen auf die beigezogene Akte des Beklagten, sowie auf die vorliegende Streitakte.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist in vollem Umfang begründet. Die Klägerin hat auch über den 22.10.2015 hinaus einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "H".
Hilflos sind diejenigen, die infolge von Gesundheitsstörungen - nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und dem Einkommensteuergesetz "nicht nur vorübergehend" - für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist (Teil A Ziff. 4.der "Versorgungsmedizinische Grundsätze" -VG-, Anlage zur sog. Versorgungsmedizin-Verordnung, Stand: 23.12.2016, Bundesgesetzblatt I, S. 3234).
Im Rahmen der Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen sind nicht nur die bei der Hilflosigkeit genannten "Verrichtungen" zu beachten. Auch die Anleitung zu diesen "Verrichtungen", die Förderung der körperlichen und geistigen Entwicklung (z. B. durch Anleitung im Gebrauch der Gliedmaßen oder durch Hilfen zum Erfassen der Umwelt und zum Erlernen der Sprache) sowie die notwendige Überwachung gehören zu den Hilfeleistungen, die für die Frage der Hilflosigkeit von Bedeutung sind (Teil A Ziff. 5 a) der VG). Bei angeborenen, erworbenen oder therapieinduzierten schweren Immundefekten ist Hilflosigkeit für die Dauer des Immunmangels, der eine ständige Überwachung wegen der Infektionsgefahr erforderlich macht, anzunehmen (vgl. Teil A Ziff. 5 d) nn) der VG).
Mögliche Rechtsgrundlage für die im Bescheid vom 22.10.2015 festgestellte Entziehung des Merkzeichens "H" wäre allein § 48 Abs.1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X -. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Eine wesentliche Änderung ist zum einen etwa dann anzunehmen, wenn sich der gesundheitliche Zustand dergestalt verbessert oder verschlechtert hat, dass sich hieraus eine Herabsetzung oder Erhöhung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 oder nunmehr die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Merkzeichen vorliegen oder aber auch nicht mehr vorliegen.
Die Kammer konnte sich nicht mit hinreichender Sicherheit davon überzeugen, dass im Vergleich zum bestandskräftigen Widerspruchsbescheid vom 24.03.2014 im Hinblick auf die dort angenommene "Hilflosigkeit" eine wesentliche Änderung eingetreten wäre. Wenn diesbezüglich die wesentliche Änderung der Verhältnisse nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, d. h. unter Vollbeweis bewiesen ist, so geht dies zu Lasten des Beklagten, der hierfür die Beweislast trägt.
Bereits im Jahr 2014 war Grund für die Annahme von "Hilflosigkeit", dass die Klägerin einer ständigen Überwachung bedurfte, um jedes vermeidbare Infektionsrisiko zu umgehen. Die Situation ist bis heute nicht wesentlich anders. Wie sich aus dem schlüssigen und überzeugenden Gutachten von Dr. L. vom 09.01.2018 und ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 15.03.2018 ergibt, liegt bei ihr wegen der Gabe von Immunsuppressiva nach wie vor eine massiv erhöhte Infektanfälligkeit vor. Es sind nach der Vorgabe der behandelnden Ärzte alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um eine Ansteckung mit den üblichen Kinder- und Infektionskrankheiten zu vermeiden. Die Eltern haben für die Klägerin gezielt einen Kindergarten mit relativ wenig Kindern (insgesamt rd. 30 Kinder) ausgewählt. Dennoch sind häufig Erkrankungen im Umlauf, so dass die Klägerin nach Angaben der Mutter rund die Hälfte aller Kindergartentage fehle. Dies führte nun dazu, dass der Kindergarten mittlerweile schon einen "halben Platz" angeboten habe. Bei Grippe-Epidemien (im Frühjahr) beispielsweise könne die Klägerin zudem nach Aussage der Mutter nur mit Mundschutz außer Haus.
Dr. L. verweist zu Recht auf die Nebenwirkungen der verabreichten Immunsuppressiva, welche sehr häufig zu einer herabgesetzten Immunabwehr und damit erhöhten Infektanfälligkeit führen, bei Kindern noch mehr als bei Erwachsenen. Dass bei der Klägerin eine massiv erhöhte Infektanfälligkeit vorliegt, ergibt sich laut Dr. L. u. a. aus dem Befund des behandelnden Kinderarztes Dr. H. vom 11.05.2017, wonach in den 12 Monaten davor rd. 28 Arzt-Patienten-Kontakte, 10 davon im direkten Zusammenhang mit akuten Infektionen stattgefunden hatten. Besonders betont Dr. L., dass sich die Klägerin trotz einer Masernimpfung mit Masern angesteckt hatte, was einen stationären Aufenthalt erforderlich machte. Zudem wies sie auf die lange Erkrankungsdauer etwa bei einer stattgehabten Norovirus-Infektion hin. Die vermehrten Krankheitszeiten machen somit bei der Klägerin zusätzlich (neben der Prävention) einen weit über den Altersdurchschnitt hinausgehenden Pflege- und Überwachungsbedarf erforderlich.
Auch die Verabreichung der erforderlichen Medikation erfordert eine intensive Überwachung und Anleitung. So müssen die entsprechenden Medikamente exakt alle 12 Stunden eingenommen werden (derzeit 07.30 Uhr und 19.30 Uhr). Die Klägerin darf eine Stunde vor der Verabreichung und eine halbe Stunde danach nicht essen. Dies ist (verständlicherweise) bei einem Kind dieser Altersgruppe nicht leicht vermittelbar. Aufwendig ist es auch, wie die Mutter in der mündlichen Verhandlung vom 04.07.2018 schilderte, immer für einen ausreichenden Sonnenschutz zu sorgen. Durch die Immunsuppressiva hat die Klägerin ein etwa 70fach erhöhtes Risiko an Hautkrebs zu erkranken. So muss sie immer, wenn sie draußen ist, mit einem hohen Lichtschutzfaktor eingecremt werden und eine Kopfbedeckung tragen.
Trotz der altersentsprechenden Entwicklung der Klägerin ist die Kammer somit davon überzeugt, dass sie im Vergleich zu den Altersgenossen einer besonders intensiven Überwachung und Anleitung im Ablauf eines jeden Tages bedarf. Plausibel ist auch die Einschätzung von Dr. L., wonach bei der Klägerin mindestens bis zum 10. Lebensjahr eine besonders intensive Anleitung und Überwachung erforderlich sein wird, so dass bis dahin in jedem Fall die Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" vorliegen. Frühestens dann ist die Klägerin kognitiv dazu in der Lage, selbst die entsprechenden Vorsorgemaßnahmen zur Vermeidung von Infektionen zu treffen (wie etwa das Vermeiden von Kontakten mit kranken Personen, häufiges Händewaschen, etc.).
Aus den genannten Gründen war der Beklagte zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 22.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2016 bei der Klägerin weiterhin (über den 22.10.2015 hinaus) die Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" anzuerkennen.
Da allein dies beantragt war, ist von einem vollen Klageerfolg auszugehen. Der Beklagte hat damit die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in vollem Umfang zu tragen (gemäß §§ 183, 193 SGG).
-
Rechtsmittelbelehrung:
Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Bayer. Landessozialgericht, Ludwigstraße 15, 80539 München, oder bei der Zweigstelle des Bayer. Landessozialgerichts, Rusterberg 2, 97421 Schweinfurt, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder beim Bayer. Landessozialgericht in elektronischer Form einzulegen. Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist beim Sozialgericht Landshut, Seligenthaler Straße 10, 84034 Landshut, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder beim Sozialgericht Landshut in elektronischer Form eingelegt wird. Die elektronische Form wird durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments gewahrt, das für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet ist und - von der verantwortenden Person qualifiziert elektronisch signiert ist oder - von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gem. § 65a Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingereicht wird. Weitere Voraussetzungen, insbesondere zu den zugelassenen Dateiformaten und zur qualifizierten elektronischen Signatur, ergeben sich aus der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) in der jeweils gültigen Fassung. Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben. Der Berufungsschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden; dies gilt nicht im Rahmen des elektronischen Rechtsverkehrs.
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