L 13 SB 32/02

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 46 SB 755/99
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 32/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Januar 2002 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers.

Gegen den Bescheid des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin – Versorgungsamt – vom 20. August 1998, mit dem wegen chronischer rezidivierender Wirbelsäulen-, Gelenk- und Muskelschmerzen ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 anerkannt wurde, wandte sich der Kläger mit seinem Widerspruch. In dem hierauf veranlassten Gutachten schlug die Versorgungsärztin Dr. W vor, als Behinderungen des Klägers

a) Wirbelsäulenfehlhaltung und lendenwirbelsäulenbetonte Funktionsstörung mit Reizerscheinungen (GdB von 30) und b) chronisches Schmerzsyndrom der Gelenke und Muskulatur, Depression (GdB von 20)

bei einem Gesamt-GdB von 40 anzuerkennen. Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 1999 folgte das Landesamt für Soziales und Versorgung dem Gutachten, wies aber im Übrigen den Widerspruch zurück.

Mit seiner Klage vor dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt. Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Arztes M vom 15. Dezember 2000, der zu dem Ergebnis gekommen ist, dass bei dem Kläger ein chronisches Schmerzsyndrom am Bewegungsapparat vorliege, welches mit einem GdB von 40 zu bewerten sei. Auf Antrag des Klägers ist der Chefarzt des Zentrums für Fibromyalgie des Klinikums B Dr. Dr. F gehört worden, der die Ansicht vertreten hat, dass bei dem Kläger folgende Behinderungen mit einem Gesamt-GdB von 50 vorlägen:

a) statisch myalgisches Wirbelsäulensyndrom mit zahlreichen muskulären Dysbalancen der statischen Muskulatur (GdB von 30), b) Fibromyalgiesyndrom (GdB von 30), c) undifferenzierte Somatisierungsstörung (GdB von 30), d) Hyperurikämie (GdB von 0), e) Hypercholesterinämie (GdB von 0), f) Coxarthrose I. Grades (GdB von 0).

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 10. Januar 2002 abgewiesen: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft. Im Hinblick auf das für die Höhe des Grades der Behinderung entscheidende Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen ergäben die beiden Gutachten ein einheitliches Gesamtbild. Im Vordergrund stehe die außergewöhnliche umfassende Schmerzsymptomatik sowie die auf Grund der mangelnden Schmerzverarbeitung begründete psychische Beeinträchtigung. Für den begehrten Gesamt-GdB von mindestens 50 seien neben dem außergewöhnlichen chronischen Schmerzsyndrom und den weiteren seelischen Funktionseinbußen auch rein orthopädische Funktionseinbußen – wie die von den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz", herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Ausgabe 1996 (AHP 96), beispielhaft angeführten deutlichen Bewegungseinschränkungen, Verformung der Wirbelsäule, wesentlichen arthrotischen Veränderungen oder mechanische Instabilität – zu fordern. Demgegenüber seien bei dem Kläger weder Organbeteiligungen noch objektiv wesentliche Bewegungseinschränkungen feststellbar.

Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt. Er weist insbesondere darauf hin, dass Dr. Dr. F im Gegensatz zum Gutachter M sehr wohl Fähigkeitsstörungen hinsichtlich der Beweglichkeit und Belastung festgestellt habe. Es komme nicht darauf an, ob diese Funktionsbeeinträchtigungen durchaus körperlicher bzw. organischer Natur seien.

Im Berufungsverfahren hat Dr. Dr. F im Schreiben vom 31. Juli 2002 ergänzend zu seinem Gutachten die von ihm gestellte Diagnose der Fibromyalgie und die Bildung des Gesamt-GdB erläutert.

Es ist Beweis erhoben worden durch Einholung des orthopädisch-rheumatologischen Gutachtens des Prof. Dr. S vom 1. Juli 2003, ergänzt mit Schreiben vom 27. Oktober 2003. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dem Kläger auf orthopädisch-rheumatologischem Fachgebiet eine Fibromyalgie mit undifferenzierter chronifizierter Schmerzsymptomatik, eine Fehlform des Achsorgans mit gering- bis mittelgradigen Nervenwurzelreizerscheinungen, Stoffwechselstörungen und eine beginnende Osteoporose vorliege. Das Fibromyalgiesyndrom mit chronifizierter Schmerzsymptomatik führe zu einem Einzel-GdB von 30. Eine Unterscheidung dieser beiden Krankheitsbilder sei nicht zulässig, da es gerade Wesen der Fibromyalgie sei, dass sie als muskuläre Verkürzungserkrankung zu einer chronischen Somatisierungsstörung führe. Das chronifizierte Wirbelsäulensyndrom werde mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet. Die übrigen Behinderungen wiesen jeweils einen GdB von 10 auf. Der Gesamt-GdB sei bei großzügiger Bemessung mit 40 festzulegen.

Der Kläger ist dem entgegengetreten: Er weist auf die Auffassung des Dr. Dr. F hin, wonach die undifferenzierten Somatisierungsstörungen gesondert zu bewerten seien. Denn sie seien hinsichtlich ihrer Einschränkungen gerade nicht dem Bewegungs- und Halteapparat zuzuordnen, da die Beschwerden aus diesem Bereich der Fibromyalgie zuzurechnen seien. Als schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten seien die bei ihm vorliegenden undifferenzierten Somatisierungsstörungen mit einem GdB von 50 bis 70 zu bewerten.

Zur Aufklärung des Streits, insbesondere inwieweit eine unterschiedliche Bewertung zugelassen werden könne bzw. inwieweit überhaupt eine differenzierte Diagnostik dieser beiden Beschwerden zulässig sei, sei nach § 109 SGG der Arzt Dr. Scho zu hören.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Januar 2002 und den Bescheid des Versorgungsamtes Berlin vom 20. August 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesamtes für Gesundheit und Soziales vom 18. Februar 1999 aufzuheben sowie den Beklagten zu verurteilen, einen GdB von 50 anzuerkennen.

Dem schriftsätzlichen Vorbringen des Beklagten ist der Antrag zu entnehmen,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte, der Akte des sozialgerichtlichen Verfahrens und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz –SGG–).

Der – grundsätzlich auch in der Berufungsinstanz mögliche – Beteiligtenwechsel auf der Beklagtenseite ist nach § 99 SGG wegen Sachdienlichkeit zulässig, da durch den Umzug des Klägers die Zuständigkeit des (neuen) Berufungsbeklagten begründet worden ist (§ 3 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung in Verbindung mit § 69 Abs. 1 Satz 3 des ab 1. Juli 2001 geltenden Sozialgesetzbuches, Neuntes Buch –SGB IX–).

Die Berufung ist nicht begründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Schwerbehinderter nach § 1 SchwbG, da bei ihm kein GdB von 50 vorliegt.

Nach §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 SGB IX sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz und der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" in der Fassung des Jahres 2004 (AHP 2004), deren Vorgänger die AHP 1996 waren, zu bewerten, die als antizipierte Sachverständigengutachten gelten.

Der Senat ist nach dem Ergebnis der Ermittlungen davon überzeugt, dass das Gesamtausmaß der bei dem Kläger bestehenden Behinderungen keinen höheren als den von dem Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 1999 zuerkannten GdB von 40 bedingt.

Das Fibromyalgiesyndrom, an dem der Kläger nach der übereinstimmenden Diagnose der Gutachter Dr. Dr. F und Prof. Dr. S leidet, ist mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten – zu Recht – kein Streit.

Ob hinsichtlich des bei dem Kläger vorliegenden Wirbelsäulensyndroms entsprechend der Einschätzung des Dr. Dr. F ein Einzel-GdB von 30 oder in Einklang mit der Bewertung durch Prof. Dr. S ein Einzel-GdB von 20 einzusetzen ist, kann dahin stehen. Denn dieser Einzel-GdB wirkt sich im Rahmen der Bildung der Gesamt-GdB nicht erhöhend aus, da insoweit das Ausmaß der Behinderung des Klägers durch die aufgrund des Wirbelsäulensyndroms bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen nicht vergrößert wird. Wie Dr. Dr. F in dem sein Gutachten erläuternden Schreiben vom 31. Juli 2002 überzeugend ausgeführt hat, bedingt das Wirbelsäulensyndrom Einschränkungen des Halte- und Bewegungsapparates, die bei der Bewertung des Fibromyalgiesyndroms bereits berücksichtigt wurden. Dem hat sich der Versorgungsarzt Dr. Sch in seiner Stellungnahme vom 15. August 2002 angeschlossen.

Allerdings führt die Berücksichtigung der chronischen Somatisierungsstörungen, an denen der Kläger leidet, nicht zu dem von ihm begehrten Gesamt-GdB von 50. Hierbei kann offen bleiben, ob die von Dr. Dr. F vorgenommene Unterscheidung der Krankheitsbilder des Fi-bromyalgiesyndroms und des chronischen Schmerzsyndroms überhaupt zulässig ist, was der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. S in seinem Gutachten vom 1. Juli 2003 verneint hat. Der von dem Kläger nach § 109 SGG beantragten Anhörung des Arztes Dr. Scho zur Aufklärung des Streits, insbesondere inwieweit eine unterschiedliche Bewertung zugelassen werden kann bzw. inwieweit überhaupt eine differenzierte Diagnostik dieser beiden Beschwerden zulässig ist, bedarf es deshalb nicht. Wie dem Kläger bereits mit gerichtlichem Schreiben vom 24. März 2004 mitgeteilt worden ist, ist die Bewertung des GdB nicht der Beweiserhebung durch Anhörung eines ärztlichen Sachverständigen zugänglich, sondern bildet das Ergebnis der Beweiswürdigung des Gerichts anhand der ärztlicherseits festgestellten Funktionseinschränkungen.

In seinem Gutachten vom 30. Juli 2001 setzt Dr. Dr. F für die undifferenzierten Somatisierungsstörungen, soweit diese hinsichtlich ihrer Einschränkungen nicht dem Bewegungs- und Halteapparat zuzuordnen sind, einen Einzel-GdB von 30 an, der seiner Ansicht nach im Rahmen der Bildung der Gesamt-GdB additiv mit einem GdB von 20 zu berücksichtigen sei. Dieser Bewertung folgt der Senat nicht. Nach Nr. 26.3 der AHP 2004 (S. 48), der wörtlich mit Nr. 26.3 der AHP 1996 (S. 60) übereinstimmt, ist ein GdB von 30 bis 40 für somatoforme Störungen als "stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit" anzusetzen. Von diesen Anforderungen geht auch Dr. Dr. F aus, wie sich aus seinen Erläuterungen des Gutachtens ergibt. Indes rechtfertigen weder die von ihm noch von den übrigen den Kläger behandelnden bzw. begutachtenden Ärzten erhobenen Befunde die Annahme derartiger "wesentlicher" Einschränkungen als Folge der nicht mit dem Bewegungs- und Halteapparat zusammenhängenden Somatisierungsstörungen. Es ist nicht zu erkennen, dass die von Dr. Dr. F genannten Fähigkeitsstörungen in Bezug auf die Toleranz von Arbeitsbeanspruchungen einschließlich Fähigkeitsstörungen in der Ausdauer und in der beruflichen Rolle (kumulativ) Beeinträchtigungen im sozialen, beruflichen und in anderen wichtigen Funktionsbereichen des Klägers verursacht haben. Die Leistungen des Klägers im Konzentrationsleistungstest lagen im unteren Bereich, also noch im Rahmen durchschnittlicher Leistungsfähigkeit. Aus dem von der Dipl.-Psychologin Dr. G aufgenommenen psychologischen Befund, der im Gutachten vom 30. Juli 2001 verwertet wurde, ergibt sich, dass der Kläger wach und orientiert ist, im Affekt stabil wirkt, sich im Kontakt kooperativ und aufgeschlossen zeigt und geordnet auftritt, dass keine anhaltende depressive Stimmung vorliegt, der Antrieb normal ist, die Psychomotorik ohne Befund ist und kein sozialer Rückzug aufgetreten ist. Aus dem Bericht des Kläger gegenüber dem Gutachter, seine Schmerzen seien von zahlreichen neurovegetativen und funktionellen Störungen sowie von einer psychophysischen Leistungsminderung in der Weise begleitet, dass er nach ca. einer Stunde leichterer körperlicher Tätigkeit – im Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. Dr. F übte er eine Teilzeitarbeit von dreieinhalb Stunden täglich aus – eine Pause von ca. fünf Minuten einlegen müsse, ergeben sich aus dem psychosomatischen Bereich keine Funktionsstörungen, die es erlaubten, den aus dem orthopädischen Komplex folgenden GdB von 30 rechnerisch um einen GdB von 20, d.h. auf einen Gesamt-GdB von 50, zu erhöhen. Der Senat stellt hierbei nicht die Auffassung des Gutachters Dr. Dr. F in Frage, dass es sich bei dem Fibromyalgiesyndrom und den Somatisierungsstörungen um Erkrankungen aus verschiedenen Fachbereichen handelt, die Symptome aus unterschiedlichen Bereichen verursachen. Maßgebend sind jedoch die hieraus folgenden Funktionsstörungen. Unter Berücksichtigung der Behinderungen auf dem orthopädischem Gebiet ist im Hinblick auf die aus den Somatisierungsstörungen folgenden Funktionseinbußen eine Erhöhung – allenfalls – um einen GdB von 10 auf einen Gesamt-GdB von 40 angezeigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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