Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 39 SB 41/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 57/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. März 2005 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten für das Berufungsverfahren sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "außergewöhnliche Gehbehinderung".
Bei der 1961 geborenen Klägerin hatte der Beklagte mit Bescheid vom 31. Oktober 1994 einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 anerkannt und festgestellt, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" erfüllt seien.
Mit ihrem im Februar 1998 gestellten Neufeststellungsantrag begehrte die Klägerin eine Umformulierung der im Bescheid vom 31. Oktober 1994 aufgeführten Behinderungen und die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" wegen des Vorliegens einer thorakalen Myelopathie mit belastungsabhängigen Funktionseinschränkungen beider Beine. Mit Bescheid vom 13. Oktober 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. März 1999 erkannte der Beklagte zwar einen GdB von 80 an, lehnte aber die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" ab. Dem lagen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet Gutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie F vom 27. Juni 1998 und des Facharztes für Neurochirurgie Dr. T vom 30. Januar 1999 zugrunde. Im anschließenden sozialgerichtlichen Verfahren erkannte der Beklagte an, dass ein seelisches Leiden nicht mehr als Behinderung aufzuführen sei.
Nach Anhörung der Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 25. Februar 2002 einen GdB von 70 wegen folgender Funktionsbeeinträchtigungen fest, deren verwaltungsinterne Einzel-GdB –Bewertung jeweils in Klammern vermerkt ist:
a. Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule, Wirbelsäulensyndrom nach Brustwirbelkörper-12-Fraktur (1974) mit Ausfallerscheinungen im linken Unterschenkel bzw. linken Fuß und Blasenentleerungsstörung, Nervenwurzelreizerscheinungen (50) b. Kombinierte Schwerhörigkeit beiderseits bei chronischer Mittelohrentzündung und mehreren Mittelohr-Operationen rechts ohne Sekretion, Ohrgeräusche beiderseits (50) c. Nasale Atembehinderung (10) Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" seien weiterhin erfüllt. Weitere gesundheitliche Merkmale lägen nicht vor.
Im anschließenden Widerspruchsverfahren ließ der Beklagte die Klägerin von dem Arzt für Allgemeinmedizin Dr. H begutachten und wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 2002 zurück. Nach Art und Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen lägen die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "aG" nicht vor.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Berlin Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt, denen verschiedene Arztbriefe beigefügt waren. Diplom-Mediziner R hat eine latente, bei Belastung verstärkte Paraparese der Beine und eine Wegstrecke von maximal 300 Metern, der Facharzt für Chirurgie DM S ein schleppendes Gangbild mit Kraftlosigkeit in den Beinen sowie eine Gehstrecke von unter 100 Metern mitgeteilt. Unabhängig von den Wegstreckendefiziten bestehe als spezifische Gefahr eine plötzliche Sturzneigung / Gehunfähigkeit.
Anschließend hat das Sozialgericht ein neurologisches Gutachten von Dr. B vom 3. August 2004 eingeholt, der darauf hingewiesen hat, dass die bisher durchgeführten klinisch-neurologischen und neurophysiologischen Untersuchungen jeweils nach Ruhephasen durchgeführt worden seien. Bei den beschriebenen funktionellen Einschränkungen könne nicht zwischen einer tatsächlich verminderten nervösen Versorgung und mangelnder Kooperation während der Untersuchung differenziert werden. Kernspintomographisch bestehe kein Zweifel am Vorliegen einer Läsion in Höhe BWK 12/LWK 1. Durch ein in Fehlstellung verheiltes Knochenfragment nach Fraktur des BWK 12 sei eine Einengung des Spinalkanals von 25 % konstant beschrieben. Durch eine zystische Auftreibung des Conus medullaris bzw. der Cauda equina entstehe eine weitere Einengung des Spinalkanals. Die von der Klägerin beschriebenen Beschwerden ließen sich klinisch im Sinne einer Claudicatio spinalis interpretieren. Dabei handele es sich meist um gehstrecken- und belastungsabhängig auftretende neurologische Symptome. Die Gehfähigkeit der Klägerin mit einem Radius von cirka 100 Metern in relativer Beschwerdearmut sei nicht vergleichbar mit den Einschränkungen des Personenkreises der Querschnittsgelähmten, Doppeloberschenkelamputierten, Hüftexartikulierten.
Das Sozialgericht hat die Klage durch Urteil vom 23. März 2005 abgewiesen. Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung seien solche Personen anzusehen, deren Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sei und die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großen Anstrengungen außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen könnten. Eine solche für das Merkzeichen erforderliche besondere körperliche Anstrengung sei dann gegeben, wenn der Behinderte bereits nach 30 Metern eine Pause machen müsse, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft sei, oder wenn auf Grund der Behinderung praktisch keine schmerzfreie Gehstrecke mehr bestehe. Diese Voraussetzungen erfülle die Klägerin nicht. Dr. B habe dargestellt, dass bei der Klägerin eine Claudicatio spinalis vorliege, die sich belastungsabhängig wesentlich verstärke. Es sei eine relativ beschwerdefreie Bewegung außerhalb des Kraftfahrzeuges mit einem Radius von cirka 100 Metern möglich. Die Angaben des Gutachters fänden im Wesentlichen ihre Bestätigung durch die Angaben der behandelnden Ärzte.
Gegen das ihr am 11. Mai 2005 zugestellte Urteil richtet sich die am 8. Juni 2005 eingelegte Berufung der Klägerin. Sie macht geltend, dass sie auf die Behindertenparkplätze angewiesen sei, weil sie sonst weder Behördentermine wahrnehmen könne, noch einkaufen oder zum Arzt gehen könne. Es bestehe eine ständige Sturzgefahr. Sie könne nicht zum Termin zur mündlichen Verhandlung erscheinen, weil sie kein Geld für das Benzin habe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Mai 2005 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 25. Februar 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 2002 zu verurteilen, bei ihr die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" – außergewöhnliche Gehbehinderung – festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Der Senat hat einen ausführlichen Befundbericht von Dr. S eingeholt, der angegeben hat, die Beschwerden aufgrund des Zustandes nach der BWK-Fraktur mit Zystenbildung seien unvorhersehbar. Bei einem akuten Anfall dauere die Beinschwäche längere Zeit. Im Anfall liege eine sofortige Sturzneigung vor. Als Folgen des 1986 in Italien, wo sie gelebt habe, erlittenen Schlaganfalles liege eine Kraftabschwächung der Beine und Arme vor.
Dem Befundbericht hat der Beklagte unter Hinweis auf eine Stellungnahme von Dr. W vom 30. Mai 2006 keine neuen Erkenntnisse entnehmen können.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Außerdem wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die vorlag und Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Der Senat konnte trotz des Ausbleibens der Klägerin im Termin entscheiden, da die Klägerin in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war, § 110 Abs. 1 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Ihrem Schriftsatz vom 1. November 2006 konnte der Senat keinen Antrag auf Terminsverlegung entnehmen.
Die Klägerin hat keinen Anspruch, dass der Beklagte bei ihr das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" feststellt.
Nach § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) stellen die Versorgungsämter neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung) und die den von der Klägerin begehrten Zugang zu straßenverkehrsrechtlichen Parkerleichterungen eröffnet.
Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind nach Nr. 11 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüft-exartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Eine derartige Gleichstellung setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) voraus, dass die Gehfähigkeit des Betroffenen in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (Urteil vom 11. März 1998, B 9 SB 1/97 R, BSGE 82, 37). Zwar handelt es sich bei den beispielhaft aufgeführten schwerbehinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen in Bezug auf ihr Gehvermögen nicht um einen homogenen Personenkreis, so dass es möglich ist, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen auf Grund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten Doppelunterschenkelamputierten mit Hilfe moderner Orthopädietechnik der Fall sein kann. Derartige Besonderheiten sind jedoch nicht geeignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem genannten Personenkreis richtet. Vielmehr hat sich der Maßstab der Gleichstellung an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz zu orientieren (so BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R, BSGE 90, 180). Es kommt daher nicht darauf an, ob der das Merkzeichen "aG" beanspruchende schwerbehinderte Mensch funktional einem Doppeloberschenkelamputierten oder Querschnittsgelähmten gleichsteht, sondern ob er längere Wege zu Fuß wegen der Schwere seines Leidens entweder nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung zurücklegen kann. Die Gehfähigkeit muss so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Das Bundessozialgericht hat in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, dass die für das Merkzeichen "aG" geforderte große körperliche Anstrengung gegeben sein dürfte, wenn der Betroffene bereits nach einer Wegstrecke von 30 m wegen Erschöpfung eine Pause einlegen müsse (vgl. Urteil vom 10. Dezember 2002 a.a.O.). Im Hinblick darauf, dass innerstädtische Parkflächen nicht beliebig vermehrt werden können, seien hohe Anforderungen an die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs geboten, weil sich jede Ausweitung des Kreises der Berechtigten nachteilig auf den zu schützenden Personenkreis auswirke (BSG, Urteil vom 29. Januar 1992, 9a RVs 4/90).
Aus dem vom Sozialgericht eingeholten Sachverständigengutachten, den vorliegenden Befunden und ärztlichen Berichten ergibt sich, dass die Klägerin zwar in ihrer Gehfähigkeit stark beeinträchtigt ist, ihr Gehvermögen aber noch nicht in so ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist, dass sie sich nur unter ebenso großen Anstrengungen fortbewegen kann wie der in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV genannte Personenkreis. Nach der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 12. Februar 1997, 9 RVs 11/95, bei Juris) setzt dies voraus, dass jeder Schritt des Behinderten mit erheblichen Schmerzen im Bereich der Extremitäten verbunden ist und die Fortbewegung hierdurch zusätzlich erschwert wird. Diese – hohen – Anforderungen werden durch die dargelegten Einschränkungen der Gehfähigkeit nicht erfüllt. Insbesondere hat Dr. B umfassend dargestellt, dass sich die bei der Klägerin zu diagnostizierende Claudicatio spinalis gerade darin äußert, dass Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit erst nach einer schmerzarmen Strecke von 100 bis 200 Metern eintreten.
Allerdings geht Dr. S von einer Gehfähigkeit von unter 100 Metern aus. Er führt hierfür jedoch keine nachvollziehbare Begründung an, die eine erneute Begutachtung der Klägerin erforderlich gemacht hätte, sondern verweist auf die bereits bekannte Rückenmarksverletzung, deren Folgen Dr. B jedoch unter Beachtung der verschiedenen zur Akte gelangten Befunde für den Senat nachvollziehbar als konstant beschrieben hat.
Auch die von Dr. S angegebenen "Anfälle", die mit einer länger anhaltenden Gehunfähigkeit verbunden sein sollen, lassen eine abweichende Bewertung nicht zu. Denn trotz der Frage, welche Ursache für die Gehunfähigkeit angenommen werde, hat Dr. S sich auf die BWK 12-Fraktur bezogen. Deren Folgen sind jedoch von Dr. B berücksichtigt worden. Selbst wenn man die von Dr. S angegebenen "Anfälle" als Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt, lässt sich daraus ein Anspruch auf die begehrte Feststellung nicht herleiten, da dadurch keine ständige ungewöhnlich hohe Beeinträchtigung der Gehfähigkeit verursacht wird, sondern eine Einschränkung der Bewegungsfähigkeit nur durch den Anfall als solchen hervorgerufen werden soll.
Die nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt, dass die Berufung keinen Erfolg hat.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Tatbestand:
Streitig ist die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "außergewöhnliche Gehbehinderung".
Bei der 1961 geborenen Klägerin hatte der Beklagte mit Bescheid vom 31. Oktober 1994 einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 anerkannt und festgestellt, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" erfüllt seien.
Mit ihrem im Februar 1998 gestellten Neufeststellungsantrag begehrte die Klägerin eine Umformulierung der im Bescheid vom 31. Oktober 1994 aufgeführten Behinderungen und die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" wegen des Vorliegens einer thorakalen Myelopathie mit belastungsabhängigen Funktionseinschränkungen beider Beine. Mit Bescheid vom 13. Oktober 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. März 1999 erkannte der Beklagte zwar einen GdB von 80 an, lehnte aber die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" ab. Dem lagen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet Gutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie F vom 27. Juni 1998 und des Facharztes für Neurochirurgie Dr. T vom 30. Januar 1999 zugrunde. Im anschließenden sozialgerichtlichen Verfahren erkannte der Beklagte an, dass ein seelisches Leiden nicht mehr als Behinderung aufzuführen sei.
Nach Anhörung der Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 25. Februar 2002 einen GdB von 70 wegen folgender Funktionsbeeinträchtigungen fest, deren verwaltungsinterne Einzel-GdB –Bewertung jeweils in Klammern vermerkt ist:
a. Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule, Wirbelsäulensyndrom nach Brustwirbelkörper-12-Fraktur (1974) mit Ausfallerscheinungen im linken Unterschenkel bzw. linken Fuß und Blasenentleerungsstörung, Nervenwurzelreizerscheinungen (50) b. Kombinierte Schwerhörigkeit beiderseits bei chronischer Mittelohrentzündung und mehreren Mittelohr-Operationen rechts ohne Sekretion, Ohrgeräusche beiderseits (50) c. Nasale Atembehinderung (10) Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" seien weiterhin erfüllt. Weitere gesundheitliche Merkmale lägen nicht vor.
Im anschließenden Widerspruchsverfahren ließ der Beklagte die Klägerin von dem Arzt für Allgemeinmedizin Dr. H begutachten und wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 2002 zurück. Nach Art und Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen lägen die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "aG" nicht vor.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Berlin Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt, denen verschiedene Arztbriefe beigefügt waren. Diplom-Mediziner R hat eine latente, bei Belastung verstärkte Paraparese der Beine und eine Wegstrecke von maximal 300 Metern, der Facharzt für Chirurgie DM S ein schleppendes Gangbild mit Kraftlosigkeit in den Beinen sowie eine Gehstrecke von unter 100 Metern mitgeteilt. Unabhängig von den Wegstreckendefiziten bestehe als spezifische Gefahr eine plötzliche Sturzneigung / Gehunfähigkeit.
Anschließend hat das Sozialgericht ein neurologisches Gutachten von Dr. B vom 3. August 2004 eingeholt, der darauf hingewiesen hat, dass die bisher durchgeführten klinisch-neurologischen und neurophysiologischen Untersuchungen jeweils nach Ruhephasen durchgeführt worden seien. Bei den beschriebenen funktionellen Einschränkungen könne nicht zwischen einer tatsächlich verminderten nervösen Versorgung und mangelnder Kooperation während der Untersuchung differenziert werden. Kernspintomographisch bestehe kein Zweifel am Vorliegen einer Läsion in Höhe BWK 12/LWK 1. Durch ein in Fehlstellung verheiltes Knochenfragment nach Fraktur des BWK 12 sei eine Einengung des Spinalkanals von 25 % konstant beschrieben. Durch eine zystische Auftreibung des Conus medullaris bzw. der Cauda equina entstehe eine weitere Einengung des Spinalkanals. Die von der Klägerin beschriebenen Beschwerden ließen sich klinisch im Sinne einer Claudicatio spinalis interpretieren. Dabei handele es sich meist um gehstrecken- und belastungsabhängig auftretende neurologische Symptome. Die Gehfähigkeit der Klägerin mit einem Radius von cirka 100 Metern in relativer Beschwerdearmut sei nicht vergleichbar mit den Einschränkungen des Personenkreises der Querschnittsgelähmten, Doppeloberschenkelamputierten, Hüftexartikulierten.
Das Sozialgericht hat die Klage durch Urteil vom 23. März 2005 abgewiesen. Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung seien solche Personen anzusehen, deren Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sei und die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großen Anstrengungen außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen könnten. Eine solche für das Merkzeichen erforderliche besondere körperliche Anstrengung sei dann gegeben, wenn der Behinderte bereits nach 30 Metern eine Pause machen müsse, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft sei, oder wenn auf Grund der Behinderung praktisch keine schmerzfreie Gehstrecke mehr bestehe. Diese Voraussetzungen erfülle die Klägerin nicht. Dr. B habe dargestellt, dass bei der Klägerin eine Claudicatio spinalis vorliege, die sich belastungsabhängig wesentlich verstärke. Es sei eine relativ beschwerdefreie Bewegung außerhalb des Kraftfahrzeuges mit einem Radius von cirka 100 Metern möglich. Die Angaben des Gutachters fänden im Wesentlichen ihre Bestätigung durch die Angaben der behandelnden Ärzte.
Gegen das ihr am 11. Mai 2005 zugestellte Urteil richtet sich die am 8. Juni 2005 eingelegte Berufung der Klägerin. Sie macht geltend, dass sie auf die Behindertenparkplätze angewiesen sei, weil sie sonst weder Behördentermine wahrnehmen könne, noch einkaufen oder zum Arzt gehen könne. Es bestehe eine ständige Sturzgefahr. Sie könne nicht zum Termin zur mündlichen Verhandlung erscheinen, weil sie kein Geld für das Benzin habe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Mai 2005 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 25. Februar 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 2002 zu verurteilen, bei ihr die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" – außergewöhnliche Gehbehinderung – festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Der Senat hat einen ausführlichen Befundbericht von Dr. S eingeholt, der angegeben hat, die Beschwerden aufgrund des Zustandes nach der BWK-Fraktur mit Zystenbildung seien unvorhersehbar. Bei einem akuten Anfall dauere die Beinschwäche längere Zeit. Im Anfall liege eine sofortige Sturzneigung vor. Als Folgen des 1986 in Italien, wo sie gelebt habe, erlittenen Schlaganfalles liege eine Kraftabschwächung der Beine und Arme vor.
Dem Befundbericht hat der Beklagte unter Hinweis auf eine Stellungnahme von Dr. W vom 30. Mai 2006 keine neuen Erkenntnisse entnehmen können.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Außerdem wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die vorlag und Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Der Senat konnte trotz des Ausbleibens der Klägerin im Termin entscheiden, da die Klägerin in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war, § 110 Abs. 1 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Ihrem Schriftsatz vom 1. November 2006 konnte der Senat keinen Antrag auf Terminsverlegung entnehmen.
Die Klägerin hat keinen Anspruch, dass der Beklagte bei ihr das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" feststellt.
Nach § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) stellen die Versorgungsämter neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung) und die den von der Klägerin begehrten Zugang zu straßenverkehrsrechtlichen Parkerleichterungen eröffnet.
Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind nach Nr. 11 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüft-exartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Eine derartige Gleichstellung setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) voraus, dass die Gehfähigkeit des Betroffenen in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (Urteil vom 11. März 1998, B 9 SB 1/97 R, BSGE 82, 37). Zwar handelt es sich bei den beispielhaft aufgeführten schwerbehinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen in Bezug auf ihr Gehvermögen nicht um einen homogenen Personenkreis, so dass es möglich ist, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen auf Grund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten Doppelunterschenkelamputierten mit Hilfe moderner Orthopädietechnik der Fall sein kann. Derartige Besonderheiten sind jedoch nicht geeignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem genannten Personenkreis richtet. Vielmehr hat sich der Maßstab der Gleichstellung an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz zu orientieren (so BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R, BSGE 90, 180). Es kommt daher nicht darauf an, ob der das Merkzeichen "aG" beanspruchende schwerbehinderte Mensch funktional einem Doppeloberschenkelamputierten oder Querschnittsgelähmten gleichsteht, sondern ob er längere Wege zu Fuß wegen der Schwere seines Leidens entweder nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung zurücklegen kann. Die Gehfähigkeit muss so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Das Bundessozialgericht hat in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, dass die für das Merkzeichen "aG" geforderte große körperliche Anstrengung gegeben sein dürfte, wenn der Betroffene bereits nach einer Wegstrecke von 30 m wegen Erschöpfung eine Pause einlegen müsse (vgl. Urteil vom 10. Dezember 2002 a.a.O.). Im Hinblick darauf, dass innerstädtische Parkflächen nicht beliebig vermehrt werden können, seien hohe Anforderungen an die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs geboten, weil sich jede Ausweitung des Kreises der Berechtigten nachteilig auf den zu schützenden Personenkreis auswirke (BSG, Urteil vom 29. Januar 1992, 9a RVs 4/90).
Aus dem vom Sozialgericht eingeholten Sachverständigengutachten, den vorliegenden Befunden und ärztlichen Berichten ergibt sich, dass die Klägerin zwar in ihrer Gehfähigkeit stark beeinträchtigt ist, ihr Gehvermögen aber noch nicht in so ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist, dass sie sich nur unter ebenso großen Anstrengungen fortbewegen kann wie der in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV genannte Personenkreis. Nach der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 12. Februar 1997, 9 RVs 11/95, bei Juris) setzt dies voraus, dass jeder Schritt des Behinderten mit erheblichen Schmerzen im Bereich der Extremitäten verbunden ist und die Fortbewegung hierdurch zusätzlich erschwert wird. Diese – hohen – Anforderungen werden durch die dargelegten Einschränkungen der Gehfähigkeit nicht erfüllt. Insbesondere hat Dr. B umfassend dargestellt, dass sich die bei der Klägerin zu diagnostizierende Claudicatio spinalis gerade darin äußert, dass Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit erst nach einer schmerzarmen Strecke von 100 bis 200 Metern eintreten.
Allerdings geht Dr. S von einer Gehfähigkeit von unter 100 Metern aus. Er führt hierfür jedoch keine nachvollziehbare Begründung an, die eine erneute Begutachtung der Klägerin erforderlich gemacht hätte, sondern verweist auf die bereits bekannte Rückenmarksverletzung, deren Folgen Dr. B jedoch unter Beachtung der verschiedenen zur Akte gelangten Befunde für den Senat nachvollziehbar als konstant beschrieben hat.
Auch die von Dr. S angegebenen "Anfälle", die mit einer länger anhaltenden Gehunfähigkeit verbunden sein sollen, lassen eine abweichende Bewertung nicht zu. Denn trotz der Frage, welche Ursache für die Gehunfähigkeit angenommen werde, hat Dr. S sich auf die BWK 12-Fraktur bezogen. Deren Folgen sind jedoch von Dr. B berücksichtigt worden. Selbst wenn man die von Dr. S angegebenen "Anfälle" als Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt, lässt sich daraus ein Anspruch auf die begehrte Feststellung nicht herleiten, da dadurch keine ständige ungewöhnlich hohe Beeinträchtigung der Gehfähigkeit verursacht wird, sondern eine Einschränkung der Bewegungsfähigkeit nur durch den Anfall als solchen hervorgerufen werden soll.
Die nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt, dass die Berufung keinen Erfolg hat.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
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